Rozier Im Palast der Erinnerung
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8477-5334-6
Verlag: AB - Die Andere Bibliothek
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 334, 450 Seiten
Reihe: Die Andere Bibliothek
ISBN: 978-3-8477-5334-6
Verlag: AB - Die Andere Bibliothek
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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er Brief war noch nicht zu Ende, aber ich las nicht weiter. In seinem Tagebuch aus dem Schützengraben wandte sich Uri-Zwi nicht nur an seinen Freund Melech. Dieser Text war für mich bestimmt. Wenn er Chaos, Massengräber, Gemetzel und faulende Leiber beschrieb, wenn er seine Verzweiflung über dieses Schauspiel vom Ende jeder Menschlichkeit ausdrückte, beschrieb Uri-Zwi meine Verwirrung angesichts einer Welt, auf die ich nicht vorbereitet war. Ich verbrachte meine Tage in der österreichischen Filiale meiner Bank mit dem Gefühl, dass ein Schleier zwischen mir und der Wirklichkeit lag. Ich war ein brillanter Student gewesen, aber diesmal verstand ich nichts von den Zahlen und war unfähig, mich auf eine Finanzanalyse zu konzentrieren. Man erzählte mir etwas über Kreditgarantien für Exporte, und ich sah nur ein Durcheinander von Verfahren, deren Zweckmäßigkeit mir nicht klar wurde. Die anderen Praktikanten wirkten so selbstsicher, wie schafften sie das? Sie waren bereit, das Spiel mitzuspielen, das für mich so unzugänglich war, denn tief drinnen war ich todtraurig. Ich war zwanzig Jahre nach der Befreiung geboren, aber ich gehörte zur Welt von früher, zu der von Melech und Uri-Zwi, gerade so, als hätte ich die Massengräber mit eigenen Augen gesehen. Vielleicht war es auch die Erinnerung an Christophe, die mich mit dem Schicksal dieser jungen Männer verband, die Trauer um eine Freundschaft, die ein Leben lang hätte dauern sollen, aber schon zu Ende war, als sie gerade erst voll erblühte. Doch die Freundschaft zwischen Uri-Zwi und Melech war nicht das, was ich erwartete. Sie schien ganz traditionell: zwei gleichaltrige junge Männer in dergleichen Armee schrieben an der Front Gedichte in dergleichen Sprache. Die Freundschaft, die mich in Atem hielt, war die zwischen Perez und Uri-Zwi, die ich mir genauso intensiv vorstellte wie die, die ich erlebt hatte. Ich bat an der Hotelrezeption um ein Wiener Telefonbuch. Ich suchte bei Janowska. Es gab zwei Janowskis, Witold und Heinrich. Ich hatte Lust, anzurufen, um zu erfahren, wie sie in Wien gelandet waren. Aber was hätte ich ihnen über meine Anna erzählen können, von der ich doch gar nichts wusste? ls sich die Lage beruhigte, wurde Uri-Zwi mit seiner Einheit in Bosnien stationiert. Sie war für die Bewachung der Kohlemine von Zenica zuständig. Dort entwickelte er eine Leidenschaft für das serbische Volk. Ich liebe, liebe das Serbenvolk – … andere sagen, es sei ein Volk von Mördern, das einen Sohn ausgesandt habe, um das Blut eines Königs, einer Königin zu vergießen. Dieses Land sollte erobert werden, das Volk und sein König sollten ein Joch und Ketten tragen. Ich erzähle das etwas anders: Es war einmal ein sehr eigensinniges Volk. Auf der anderen Seite des Flusses lag ein anderes Land, Schwester dieses Landes. Dort lebten Brüder vom selben Stamm. Doch ein Fremder, was weiß ich wer, ein noch mächtigerer Fremder, hat gemeint, das Land gehöre ihm. Einer aus diesem Volk glaubte fest, das Blut des Königs könne die Befreiung bringen. Eines Tages nun fuhren der König und die Königin mit ihrem Wagentross aus und auf dem Weg floss das königliche Blut übers Straßenpflaster … Ach, aber dieser Mächtigere hatte noch einen älteren Bruder, auch er ein König. Der fiel nun mit seinem riesigen Heer ins Land ein, verjagte den König aus dem Palast und legte die Söhne in Ketten. Ich habe die Priester dieses Volkes gesehen, dunkel gebräunt, mit langen Locken, die Augen schwarz und traurig erschrocken. Wie Lämmer blickten sie drein. Sie hatten Angst mich anzusehen. Warum nur? * Serbien, Serbien! Du bitteres, wundes Land! Deine Guslas hängen in verwaisten Wohnungen, denn die Hände, die sie einst im Schoß hielten, reißen jetzt die Haare von den Köpfen und da sind so viele mit starr zusammengepressten Lippen – Deine Bäume sind Galgen und deine Erde schweigt zu diesem Leid, so wie deine Sprösslinge schweigen, wenn sie die Stricke aufziehen – Und all das sehe ich allein, ein Liebender aus der Armee des Feindes Österreich. as war der letzte Brief, den ich während meines Wienaufenthalts bekam. Ich verließ die Stadt, ohne erfahren zu haben, wo Melech gewohnt, in welchem Café er gesessen hatte. Ich war ein bisschen traurig, mich von dieser gelassenen und zugleich schwermütigen Stadt loszureißen, die mir ähnlich war. Für die Stimmung dort gibt es nur ein Wort, Gemütlichkeit, das angeblich unübersetzbar ist. Eine Mischung aus Wohlbehagen und Ruhe? Hatte sich Melech in Wien auch so wohl gefühlt? Ein paar Wochen später kam ein neuer Brief. ie soll ich mein Reich wiedererstehen lassen? Ich habe es mit meiner Bibliothek versucht, deshalb habe ich sechzig Jahre darauf verwendet, diese Zehntausende Dokumente zu sammeln, aber wie schwer ist es doch, den Inhalt eines menschlichen Geistes auf Regalbrettern abzulegen. Meine Wände sind mit Büchern tapeziert. Suchen Sie sich eins aus, setzen Sie sich damit auf ein Sofa. Sie werden nicht wieder aufstehen, bevor Sie es ausgelesen haben. Können Sie Jiddisch? Ich meine gut genug, um ein Buch zu lesen? Bei mir ist es kein Kunststück: Ich konnte es lesen, noch bevor ich Polnisch entzifferte, aber Sie, der Sie es gerade erst lernen? Sind Sie bis zum Ende des Alphabets gekommen? Gelingt es Ihnen, die Wörter zu »fotografieren«, wie Sie es beim Französischen oder einer anderen in lateinischen Buchstaben geschriebenen Sprache tun? Nein, natürlich nicht. Das wird Ihnen nie gelingen. Ein Rat: Lesen Sie, egal was, aber lesen Sie. Ihr Auge muss so viel wie möglich speichern, Ihr Gehirn muss es sich einprägen, um es beim nächsten Mal zu erkennen. Und tun Sie es schnell, verlieren Sie keine Zeit, nutzen Sie Ihre Jugend, denn bald ist es zu spät. Ihr Geist wird müde, Ihre Neuronen verschwinden jeden Tag zu Tausenden, in Ihrem Alter sind es so viele wie Sterne am Himmel und Sand am Meer, aber wenn Sie in mein Alter kommen, sind sie gezählt. Nehmen Sie ein Buch. Wenn es ausgelesen ist, wie kommt man dann zum nächsten? Wie kommt man von Hölzchen zu Stöckchen? Wie sortiert man eine Bibliothek? Alphabetisch nach Autorennamen? Nach Reihen? Nach Themen? Soll die Harmonie der Buchrücken entscheiden? Wie findet man ein Werk wieder? Ich musste ordnen, also zwingen, unterteilen, trennen, was doch Bewegungsfreiheit verlangte. Sie wollen nicht nur meine palatinische Bibliothek betreten, Sie werden sich nicht mit diesem majestätischen Saal begnügen, Sie wollen mehr, Sie wollen mein ganzes Gedächtnis erben. Glauben Sie, ich habe noch die Kraft, Ihnen seine Türen zu öffnen? Fliehen Sie, sage ich Ihnen. Sie werden ihm nicht mehr entkommen, und wenn ich sterbe, während ich gerade erst angefangen habe, den Schleier über meinem jüdischen Reich zu lüften, wenn ich meinen letzten Seufzer von mir gebe, während sich das Wasser gerade erst teilt, um Atlantis zu offenbaren, würde ich Sie als Waise zurücklassen, am Saum einer Welt, von der Sie gerade die ersten Schwellen überschritten hätten; und es blieben noch so viele Türen aufzustoßen, so viele Bücher zu lesen, Manuskripte zu entziffern! Und wenn ich am Leben bleibe und es mir gelingt, Ihnen alles zu überliefern, wer sagt mir, dass Sie mich nicht verraten? Soll ich mich von Ihren noblen Absichten überzeugen lassen? Sind Sie nicht einer dieser Geier, die ein sterbendes Lebewesen kilometerweit riechen? Was für ein Aasfresser sind Sie? Werden Sie meine Schätze nicht anderen ausliefern, sie in Sprachen übersetzen, die ihr Genie und ihre Trunkenheit nicht wiederzugeben vermögen? Ich offenbare Ihnen meine Befürchtungen, und dabei glaube ich gar nicht daran. Ich spüre, Sie sind kein Schakal, deshalb fahre ich fort. Melech kehrt nach Wien zurück, obwohl das Heiligtum leer steht. Schönbrunn ist verlassen. Franz Joseph starb während des Krieges, und sein Neffe war kaum mehr als ein Eintagskaiser, ehe er ins Exil musste. Der demobilisierte junge Soldat kehrt zurück an seinen Platz in der Union-Bank, der größten Bank eines Reiches mit vierzehn Nationalitäten, das nun ein ganz kleines Land geworden ist, kaum größer als die Schweiz. Melechs Eltern ziehen wieder in das Haus in Radymno, und eine Grenze trennt nun beide Generationen, denn das Städtchen liegt jetzt in Polen. Die Familie hat viele Angehörige verloren. Hinde hat Glück, ihr Mann und ihr Zweitjüngster sind zurückgekehrt. Mojsche, der älteste Sohn, war in Palästina zur englischen Armee gegangen, hat also gegen Vater und Bruder gekämpft. Auch er ist gesund und munter. Aber eine von Hindes Schwestern hat einen Sohn verloren, Franek, dessen Leichnam nicht gefunden wurde. Monatelang tröstet sie sich mit der Hoffnung, er werde heimkommen, denn er ist nach einem Sturmangriff auf die feindlichen Linien nicht in den Schützengraben zurückgekehrt. Er kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Melech schweigt. Er wagt seiner Tante nicht zu sagen, wie leicht das geht: Man musste nur dort stehen, wo eine Granate einschlug, damit der Körper zum Krater wurde. Die Tante wird noch jahrelang warten. Eines Tages wird sie einen Brief von der österreichischen Armee erhalten, aber das ist dann die Verwaltung eines anderen Landes. Darin wird Franek für tot erklärt, aber die Tante wird sagen: »Und seine Leiche? Wo ist sie? Warum darf ich meinen Sohn nicht begraben?« Sie wird diesen Satz monatelang wiederholen, bis sie den Verstand verliert. Ein paar Jahre später...