Buch, Deutsch, 254 Seiten, Format (B × H): 141 mm x 219 mm, Gewicht: 365 g
Die G8-Proteste in Heiligendamm im Spiegel der Massenmedien
Buch, Deutsch, 254 Seiten, Format (B × H): 141 mm x 219 mm, Gewicht: 365 g
ISBN: 978-3-593-38764-2
Verlag: Campus Verlag GmbH
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Kultur Interessengruppen, Lobbyismus und Protestbewegungen
- Sozialwissenschaften Medien- und Kommunikationswissenschaften Kommunikationswissenschaften Massenmedien & Massenkommunikation
- Sozialwissenschaften Medien- und Kommunikationswissenschaften Medienwissenschaften Medien & Gesellschaft, Medienwirkungsforschung
- Sozialwissenschaften Medien- und Kommunikationswissenschaften Kommunikationswissenschaften Kommunikation & Medien in der Politik
Weitere Infos & Material
Einführung
Dieter Rucht und Simon Teune
Das Geschehen
Gegen Zaun, Gipfel und Käfighaltung. Eine Chronik des Protestes gegen das G8-Treffen in Heiligendamm
Simon Teune
Demonstrationsbeobachtung, polizeiliche Öffentlichkeitsarbeit und Medienberichte
Elke Steven
Die Medienresonanz
Eine quantitative Analyse der G8-Berichterstattung in den Printmedien
Dieter Rucht und Simon Teune
Die Ereignisse in Heiligendamm im Spiegel der Kommentarspalten
Dieter Rucht
Schlüsselszenen des Protests. Der Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der TV-Nachrichten
Sabrina Herrmann
Die Medienarbeit aus verschiedenen Perspektiven
Attac, der G8-Gipfel und die Medien
Frauke Distelrath
Eine andere Medienwelt ist möglich - Zur Rolle des unabhängigen Medienzentrums
Stefan Zimmer
Die Berichterstattung und ihre Probleme aus Sicht von Printmedien-Journalisten
Daniel Schulz
Die Berichterstattung und ihre Probleme aus Sicht eines TV-Journalisten
Stefan Raue
Reflexionen
Partner, Kritiker oder Antagonist? Drei globalisierungskritische Protestdramaturgien
Mundo Yang
Was bleibt vom Medienereignis Heiligendamm?
Dieter Rucht und Simon Teune
Die Autorinnen und Autoren
Selbst die FAZ berichtete, allerdings erst am Samstag, den 9. Juni 2007, in einem eigenen Artikel über die vielen Fehlmeldungen in dieser Protestwoche. Die vor Ort tätigen JournalistInnen wurden im Verlauf der Woche zunehmend misstrauisch. Am Montag (4.6.2007) berichtete "Kavala" von gewaltbereiten Vermummten in der Migrationsdemonstration. Keiner der zahlreich anwesenden JournalistInnen konnte diese Vermummten entdecken. Auch der Einsatzleiter vor Ort teilte nicht die Einschätzung der Versammlungsbehörde, zu der "Kavala" vom Innenministerium gemacht worden war, dass die Versammlung aufgelöst werden müsste, um den genehmigten Demonstrationszug in die Innenstadt zu verhindern. Dennoch wurde die Versammlung an der Grenze der Innenstadt aufgelöst. Kurze Zeit später zogen die Demonstrierenden in einer angemeldeten Spontandemonstration ohne Zwischenfälle zum Hafen in der Innenstadt. Die von "Kavala" prognostizierte und dann auch berichtete Gewaltausübung fand nicht statt. Die Berichte von Säureattacken seitens der Clowns, die sich ebenfalls als falsch herausstellten, waren ein weiterer Baustein in der entstehenden Skepsis gegenüber den Polizeiberichten.
Demonstrationen in der Verbotszone
Die Blockadetage - Mittwoch und Donnerstag (6./7.6.2007) - haben gezeigt, mit welcher Konsequenz, mit wieviel Phantasie und unbedingtem Willen die Protestierenden sich auszudrücken vermochten. Die Demonstrierenden drangen in die Verbotszone ein, machten jedoch vor dem Zaun und den Toren halt. Es war nicht ihr Ziel, den Zaun zu stürmen, sondern den Protest sichtbar zu machen und die Infrastruktur des Gipfels zu blockieren. In anstrengenden Märschen durch Weizenfelder und über Wiesen, sich aufteilend und wieder zusammenfindend, wurden die Polizeiabsperrungen umgangen. Gegen diese Gruppen, die nichts als ihren Körper und ihren Willen zur Demonstration einsetzten, ging die Polizei immer wieder mit Wasserwerfern, teilweise Tränengas und Hunden vor. Am Mittwoch Nachmittag hatten die Demonstrierenden dennoch ihre Ziele erreicht und blockierten die Zufahrtsstraßen und die Kleinbahn nach Heiligendamm - immer wieder aufgeschreckt vom martialischen Auftreten der Polizei, ohne dass diese dazu aufforderte, die Straße zu verlassen.
Zwei Sitzblockaden konnten am Donnerstag aufrecht erhalten bleiben; ein ungehinderter Zugang zu ihnen war möglich. Der Zaun wurde nur von wenigen Polizisten gesichert. Dagegen rüstete die Polizei rund um das westliche Eingangstor des Zauns auf. Sie hatte die Straße besetzt; die Demonstrierenden befanden sich auf einer großen Wiese nebenan. Ohne konkrete Aufforderungen zur Beendigung der Blockade oder polizeiliche Ansagen wurden letztlich neun Wasserwerfer gegen die ca. 1.000 Demonstrierenden auf der Wiese eingesetzt. Zuvor war die Presse per Lautsprecher aufgefordert worden, den "Bereich polizeilicher Maßnahmen" zu verlassen. Sie gefährdeten sich anderenfalls selbst und würden die Arbeit der Polizei behindern. Einige schwerwiegende Verletzungen - vor allem Augenverletzungen - wurden durch die Wasserwerfer verursacht. Die polizeiliche Durchsage nach mehrfachem Wasserwerfereinsatz - "Bleiben Sie ruhig, wir verschaffen uns nur ein bisschen Platz" - konnte nur als zynisch aufgefasst werden. Flaschenwürfe gegen diesen Einsatz - es handelte sich vor allem um Plastikflaschen - waren auch hier willkommene Anlässe zum Videographieren von "Tätern", die dann aus Versammlungen herausgegriffen wurden.
Polizeiliche Desinformation
Auch angesichts der Blockaden in der Zone vor dem Zaun, in der nach der Allgemeinverfügung Demonstrationen verboten waren, setzte die Polizei ihre Strategie der Desinformation fort, die allerdings nicht mehr so einfach aufging. Schon früh behauptete die Polizei im offiziellen Medienzentrum in Kühlungsborn, unter den Blockierenden würden sich bewaffnete Vermummte befinden. In der Pressemitteilung 80 "informierte" sie, sie hätte
"soeben festgestellt, dass Teilnehmer aus der Gruppe, die derzeit die Kontrollstelle ›Galopprennbahn‹ blockieren, die Kleidung wechseln, sich vermummen und Schutzkleidung anlegen, sich mit Molotow-Cocktails bewaffnen und Steine aufnehmen".
Fälschlicherweise erklärte sie, dass "die an der Kontrollstelle ›Galopprennbahn‹ befindlichen Personen nicht den Schutz des Grundrechtes auf Versammlungsfreiheit" genießen. Die MedienvertreterInnen vor Ort konnten jedoch diese Beschreibungen von drohenden Gewalttaten nicht bestätigen. Es kam auch an den beiden Blockadeorten im Verlauf dieser beiden Tage nicht zu Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstrierenden. Dennoch berichtete die Polizei in der Pressemitteilung 81:
"So waren nur einige wenige Angriffe von Gewalttätern auf eingesetzte Polizeibeamte, die durch konsequentes Vorgehen auch mit Einsatz von Wasserwerfern beendet wurden, zu verzeichnen."
Dass Wasserwerfer und auch Tränengas gegen diejenigen eingesetzt wurden, die nur über die Felder zum Zaun strebten, ohne die Polizei anzugreifen, wurde nicht mitgeteilt. Entgegen den Wahrnehmungen der Anwesenden wurde jedoch verbreitet, dass an der Galopprennbahn "Einsatzkräfte erneut mit Steinen beworfen" wurden.
Die Skepsis gegenüber solchen Polizeiberichten wurde verstärkt, als bekannt wurde, dass nachmittags an der Galopprennbahn eine Person als polizeilicher Spitzel verdächtigt und der Polizei übergeben worden war. Demonstrierende berichteten, eine kleine Gruppe von vier Personen, zu der dieser Spitzel gehörte, hätte zu Steinwürfen gegen die Polizei aufgefordert. 36 Stunden lang leugnete die Polizei, dass ein Beamter in szenetypischer Kleidung an den Blockaden beteiligt war. Erst am 8. Juni 2007 gab sie in der Pressemitteilung 90 zu, dass "innerhalb der Blockade vor der Kontrollstelle Galopprennbahn ein in Zivil eingesetzter Beamter aus der Hansestadt Bremen von anderen Blockadeteilnehmern" enttarnt wurde. Abgestritten wurde, dass der Zivilbeamte den Auftrag hatte, "andere Blockadeteilnehmer zur Begehung von Straftaten und Störungen" anzustiften. Es handelte sich um einen Bremer Polizeibeamten einer Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit. Selbst dieser Einsatz wird zum "Bestandteil der Deeskalationsstrategie" erklärt, der "ausschließlich der beweiskräftigen Feststellung von Gewalttätern" diene.
Polizeiliche Berichte von "Säure" spritzenden Clowns, von "Autonomen", die Äpfel mit Rasierklingen und Nägeln gespickt hätten, um Polizeibeamte damit zu bewerfen, wurden von den Journalisten zunehmend genauer geprüft und konnten nicht bestätigt werden.
Diese Art polizeilicher Berichterstattung spielte jedoch trotz ihrer Widerlegung eine entscheidende Rolle beim Bundesverfassungsgericht. Dieses bestätigte das weitgehende Demonstrationsverbot - trotz Bedenken gegen die Allgemeinverfügung - gerade auch aufgrund der polizeilichen Falschdarstellungen und den Medienberichten von der Großdemonstration.