E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Rüsch Zeit zwischen Nichts
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-451-83409-7
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Liturgie und Poesie
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-451-83409-7
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Religionswissenschaft Religionswissenschaft Allgemein Religiöses Leben und religiöse Praxis
- Geisteswissenschaften Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft: Lyrik und Dichter
- Geisteswissenschaften Religionswissenschaft Religionswissenschaft Allgemein Gebet & liturgisches Material
Weitere Infos & Material
Christian Lehnert
Von Poesie und Liturgie
Von Poesie und Liturgie möchte ich zu Ihnen sprechen und zwei Fragen verfolgen: Was zeichnet liturgische Sprache aus und in welchem Verhältnis steht sie zur Poesie? Ich will meine Gedanken aus der widersprüchlichen Zugehörigkeit zu zwei Welten entwickeln, als Dichter und als Theologe. Erwarten Sie bitte keinen thesengrundierten Vortrag mit einem bestimmten Lernziel, nein: Ich will Sie einfach in eine assoziative Denkbewegung mitnehmen und Sie in die Unsicherheit der Worte führen, die entsteht, wenn sich Sprache dem unsagbaren Geheimnis Gottes nähert. Das Springen zwischen den Welten gehört zu meiner Lebenssituation. Ich bin vertraut mit einem destabilisierenden „und“ zwischen Religion und Poesie. Wo immer ich in den Kirchen als Autor aufschlage, sind Leute schnell verstört. Denn da spricht keiner, der mit christlichem Kunsthandwerk erbauen will, sondern vermutlich wirklich aus jener merkwürdigen Spezies der Dichter stammt, die so dunkel und wirr daherreden. Wenn ich allerdings im Literaturbetrieb auftrete, stehe ich als Theologe immer schon unter Ideologieverdacht, und ich kann ein schlichtes Naturgedicht lesen, und alle fragen zumindest nach den mystischen Dimensionen der Beschreibung eines Ameisenhaufens. Verunsicherung in der Sprache gehört zu meinen Grunderfahrungen. Ich bin zweisprachig aufgewachsen – es gab in meiner Kindheit in der DDR eine Sprache für draußen, für Kindergarten und Schule, in der es nötig war „Klassenstandpunkte“ einzunehmen und „parteilich“ zu sein. Zu Hause, die andere Sprache: Sie war offener, ideologiefern, und sie verschwieg doch viel. Ich hatte kaum Orientierungspunkte für eine mit Worten gegebene „Wahrheit“, und gelegentlich verwechselte ich die Sphären und schimpfte, wenn ich müde war und schlechte Laune hatte, dass abends in der Küche bei uns der Deutschlandfunk „imperialistische Lügen“ verbreitete. Dann sahen mich meine Eltern unsicher an und schwiegen, sie wollten mich, das Kind, doch schützen ... Ich erinnere mich noch genau an das Gefühl, wenn sich Sätze wie schwere Masken über das Denken legten und ich darunter sprachlos und verunsichert war, zappelte im Ungewissen, und doch nach außen völlig souverän erschien. Ich war sicher in den fremden Wörtern wie in einem Panzer und zugleich erbarmungslos eingeschlossen. Diese Ambivalenz hat mich geprägt. Eine irritierende Erfahrung war, dass sich die Machtförmigkeit der Sprache meist mit liturgischen Formen verband. Ich bin nicht religiös aufgewachsen und habe bis zu meinem fünfzehnten Lebensjahr kaum eine Kirche von innen gesehen, aber ich war in ausgefeilten Liturgien zu Hause. Wenn ich mit meinen Freunden auf dem Schulweg in den 1980er Jahren mit der Straßenbahn in den Dresdener Stadtteil Übigau fuhr, über die Brücke des Elbflutgrabens, wenn wir dann die kleine Plattenbausiedlung dort auf ewig schlammigen Wegen durchquerten und der Schule näher kamen, war uns allen unausgesprochen klar, dass wir uns selbst zurückließen. Wir hatten mit dem Betreten des Schulhauses Rollen in einem großen öffentlichen Schauspiel inne. Der Appellplatz: Stillstand – die jugendlichen, die kindlichen Körper standen in Reih und Glied, sommers umschwirrt von Mücken, winters umtanzt vom Schnee. Starr standen wir und warteten auf den Schulleiter oder den Parteisekretär. Still – der Nacken, der Hals, der Schultergürtel. Wir Schüler waren geordnet nach Größe. Disziplinierte Geometrie unter wehenden Fahnen. Das Stillhalten, das Schweigen war ein Confiteor, Bekenntnis unserer Schuld, der mangelnden Disziplin, der Faulheit, der Einflüsterungen des Klassenfeindes, des mangelnden Glaubens an die Doktrin. Dann wurde gesungen, ein Introitus: „Brüder zur Sonne zur Freiheit, Brüder zum Lichte empor ...“ Die Lehrer zogen ein, in der Mitte der Schulleiter. Er wurde begrüßt, trat ans Pult und sprach ein Votum: „Seid bereit!“ „Immer bereit“, dröhnte es aus Hunderten Kehlen. Hinter dem Schulleiter war ein Hochaltar aufgebaut. Dort stand eine Fahnenwand mit einem großen Bild des Genossen Erich Honecker, mit Blumen geschmückt. Wortverkündigung, Reden und Reden und Lesungen folgten ... Ich erinnere sie kaum. Wir waren damit beschäftigt, still zu halten. Das Gefälle war enorm: hier unsere unruhigen Körper, dort der gottverneinende Priester, der uns den Weg wies in eine bessere Welt. Gelegentlich gab es Sakramente: kleine Abzeichen aus Gold oder Silber oder Bronze für die besten Schulleistungen oder für die meisten gesammelten leeren Flaschen und Stapel Altpapier. Man war stolz, man war verwandelt. Was machte das Schauspiel mit einem kindlichen sprachlernenden Bewusstsein? Positiv gesagt hat es mich die Macht der Metaphern gelehrt – das Gefühl, wie sich in einem Wort etwas anderes bewegen kann, darauf komme ich gleich zurück. Es hat mich zudem immunisiert gegen die Einflüsterungen positivistischer Sprachtheorien, die von objektiven Zuordnungen von Zeichen und Bezeichnetem ausgehen. Ich habe die Sprache früh als lebendigen, unberechenbaren, auch gewalttätigen Organismus erlebt. In der Öffentlichkeit herrscht heute fast allgegenwärtig ein bestimmtes Verständnis sprachlicher Äußerungen vor. Der Wissenschaftstheoretiker Bruno Latour hat es einmal die „Doppelklick-Kommunikation“ genannt – und er hat damit zugleich beschrieben, wie Digitalisierung zurückwirkt auf elementare Bewusstseinsvorgänge, wie eben die neue Grundgeste unserer Kultur, der Doppelklick auf der Maus, gar nicht unschuldig und schon gar nicht mechanisch ist. Was heißt „Doppelklick-Kommunikation“? Ein Wort sei gewissermaßen der Zugangscode zu einer Tatsache. Hier ist das Wort „Tisch“, Doppelklick: aha, ein realer Tisch ist gemeint. Hier ist das Wort „Glas“, Doppelklick: Ah, da ist es ja. Hier steht das Wort „Universum“, Doppelklick: Der Blick gleitet zum Himmel. Aha, da ist ein unermesslicher Raum, weit und unbekannt. Aber dann das: Hier steht das Wort „Gott“, Doppelklick: … nichts. „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht“, sagte einmal Dietrich Bonhoeffer. Was also ist das für ein Wort? Wozu taugt es, wenn es auf keinen Fakt der Wirklichkeit verweist? Hier nun betrete ich das eigentliche Thema. Viele Christen füllen die Lücke, die das Wort „Gott“ bedeutet, schnell aus, weil sie spüren, dass der Abschied von dieser allbeherrschenden „Doppelklick-Kommunikation“ sie in Nischen treiben würde. Dann entstehen merkwürdige Sprachformen: Das Wort „Gott“ Doppelklick: „bestimmte Hirnströme“ oder auch „Chiffre für das Weltganze“ … Ja, auch viele erfahrene Kirchenleute tappen in diese Falle: Das Wort „Gott“, Doppelklick: „aha, gut für die seelische Gesundheit“ oder „Glücksvoraussetzung“ oder, ganz besonders beliebt: „Gott“, Doppelklick: „Garant für gesellschaftliche Werte“. Aber der Gläubige zögert: Das Wort „Gott“ … und der Bildschirm bleibt leer. Da ist nichts, was sich sagen ließe. Ja, das Wort „Gott“ unterwandert die verbreitete quasi-naturwissenschaftliche Doppelklick-Art des Sprechens. Da ist ja auch nichts, worauf das Wort verweist, aber eben auch nicht „nichts“. Etwas aber, in das ich mich sprechend hineinbewegen muss, suchend und in Bildern und immer vorläufig. Aber schauen wir genauer hin, wie religiöse Sprache sich gibt und warum sie sich dem „Doppelklick“ entzieht und wie sie sich dabei zur Poesie verhält. Als sprachlich Verunsicherter, als Dichter, will ich mit Ihnen drei Räume betreten, Tunnel oder Gänge, in denen sich unter der Sprache die Sprache verzweigt, lebendig wird und fähig, von dem zu sprechen, was sich nicht sagen lässt: Erstens will ich die Porosität der Sprache im Verstummen in den Blick nehmen, eine liturgische Urfunktion. Zweitens will ich ihre Fähigkeit zeigen, sich in Bildern amöbenhaft zu bewegen. Das ist auch die liturgische Grundbewegungsform der Sprache. Drittens will ich zeigen, wie der Klang der Sprache eine verborgene, schöpferische Ganzheit realisieren kann. Erstens, die Brüchigkeit der Sprache im Verstummen „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“.1 Dieses klassische Ansinnen Wittgensteins vom Ende seines Tractatus logico-philosophicus impliziert einen anderen Bezirk der Sprache, in dem „Unaussprechliches“ daheim ist, von den etwas bedeutenden Worten unberührt. Das Reich des Faktischen und Benennbaren grenzt daran, ohne dass es Übergänge gäbe – und so verhält es sich dann auch mit der „Sprache der Religion“, die vor der semantisch leeren Kammer des Allerheiligsten hilflos verharrt. Denn sobald sich jemand sprechend nähern will, kann man ihm alsbald nachweisen, „dass er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat“, wie es Wittgenstein sagt, und somit alles, was er zu sagen hat, behauptend in der Luft hängen bleibt. Wenn in der Geschichte des Christentums über seine Sprache und ihr Verhalten an dieser Grenze des Sagbaren nachgedacht wurde, kehrten zwei Phänomene in auffälliger Beständigkeit wieder: Zungenlallen und ekstatischer Jubel. So hören sie sich an, die poetischen Gravitationswellen, wenn zwei schwarze Löcher, Sagbares und Unsagbares, zusammenfallen: „Erhöre mich mein Vater, Du Vater aller Vaterschaft, Du unendliches Licht: aeeniou iao aoi oia psynother thernops vopsiter zagoure itagoure nethmaoth neriomaoth marachachtha thobarrabou tharanachachan zorokothora ieou ...“2 Dieses Gebet, ich könnte es noch lange fortsetzen, legt das vierte Buch der gnostischen Schrift Pistis sophia Jesus in den Mund, und es lässt sich schnell einordnen unter der Überschrift „Glossolalie“, das heißt: Sätze ohne Bedeutung, Worte ohne zugänglichen Sinn, Sprache als radikale Fremde, als...