Russell Über den Wolken
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-86300-248-0
Verlag: Männerschwarm, Salzgeber Buchverlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-86300-248-0
Verlag: Männerschwarm, Salzgeber Buchverlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Anatole feiert Hochzeit; auch alte Freunde und Ex-Lover sind eingeladen, darunter Chris, der ihm vor 25 Jahren das Herz gebrochen und dann die Stadt verlassen hat. Aus dem verträumten Chris ist ein tougher Sicherheitsprofi geworden, der in Nigeria amerikanische Ingenieure beschützt. Chris belächelt die brave Sesshaftigkeit der Menschen im Provinzstädtchen Poughkeepsie und kann kaum glauben, dass die Freunde von einst das wirklich ernst meinen. Durch die Konfrontation mit seinem Ex-Lover keimen bei Anatole Zweifel, ob er seinem Leben vielleicht eine falsche Richtung gegeben hat. Mit einem Zeitsprung von 25 Jahren kehrt Russell zu den Figuren seines Romans 'Brackwasser' zurück und scheucht sie durch die Wechselbäder 'Möglichkeit' und 'Wirklichkeit', auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, ob in der Mitte des Lebens so etwas wie Zufriedenheit zu erreichen ist.
Paul Russell wurde 1956 in Memphis, Tennessee, geboren und unterrichtet am Vassar College in Poughkeepsie. Bei Männerschwarm erschienen die Romane 'Das unwirkliche Leben des Sergej Nabokow' und 'Brackwasser'. Wie sein großer Kollege Tennessee Williams beherrscht er die Kunst, seine Figuren wie Insekten unter dem Mikroskop zu sezieren, ohne sie in ihrer Würde zu verletzen.
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NACHTMUSIK
Es strengt ihn an, nachts zu fahren, er ist aus der Übung. An den Orten, an denen er gearbeitet hat, war nach Einbruch der Nacht alles möglich. In Bagdad, in der zur Festung ausgebauten Villa in einer abgesperrten Straße im Stadtteil Karada, die er mit seinem Team gemietet hatte, lag er meist lange wach und lauschte den fernen Explosionen und Gewehrsalven, den nächtlichen Gefechten zwischen Koalitionstruppen und der Armee as-Sadrs nördlich von Sadr City – wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hatte, war es eine eigentümlich beruhigende Hintergrundmusik, denn sie bedeutete, dass das Gewitter zumindest im Moment weit weg war. Port Harcourt ist vollkommen anders. Die Wohnsiedlung von Shell empfängt dich mit ihren Armen aus Stacheldraht und wiegt dich in den Schlaf. Wenn du willst, kannst du noch lang nach Mitternacht durch diese Parodie eines vorstädtischen Wohnviertels spazieren gehen oder zum Golfplatz wandern, und der einzige Straßenverkehr besteht aus SUVs des Sicherheitsdienstes. Jenseits der Mauern um die Siedlung geht es anders zu, man kann es hören: Vereinzelte Gewehrschüsse, quietschende Autoreifen, Musikfetzen, die mal lauter, mal leiser werden, wie die verzauberte, launenhafte Country-Musik, die er in seiner Kindheit in Colorado nachts im Bett auf den unzuverlässigen Mittelwelle-Frequenzen seines Transistorradios hörte, unterbrochen von spanischsprachigen Ansagern von jenseits der Grenze, Wetterberichten, langsam sprechenden Predigern und schnell heruntergehaspelter Autowerbung – Motown und Rock ’n’ Roll wild durcheinandergewürfelt zu einem Klangteppich, der die weite Welt repräsentierte, nach der er sich sehnte, die jedoch außerhalb seiner Reichweite lag. Er bedauert, mit Anatole und Lydia so unglaublich ausführlich über sein Leben gesprochen zu haben, und er bedauert noch mehr, dies vor den Ohren von Rafa und Miosotis getan zu haben. Es kommt ihm jetzt wie eine geschmacklose Selbstinszenierung vor. Aber wenn er sich Anatole und Lydia gegenüber nicht erklären kann, wem dann? Und wenn er sich niemandem erklären kann, oder es nicht wenigstens versucht, wozu dann das alles? Ihm war nicht bewusst gewesen, wie viel ihm ihre Freundschaft – die rettende Gewissheit, dass diese Freundschaft existierte – in den unfreundlichen Welten, in denen er jetzt zuhause war, bedeutete. Natürlich hatte er auch andere Freundschaften, Freundschaften, wie sie im Kampf um Leben und Tod geschmiedet werden – rivalisierende, hänselnde, wilde, unkomplizierte Militärfreundschaften. Er hatte sich nie wirklich eingestanden, wie wichtig ihm die Komplexitäten, Irritationen und Verhandlungen einer rein zivilen Freundschaft waren. Er gleitet durch ruhige, baumbestandene Wohnstraßen und merkt, dass er sich verfahren hat. SMA: Schlimmstmöglicher Albtraum. Schlimme Dinge können natürlich immer passieren, nur durch Können, Verstand und (ja, gib’s nur zu) pures Glück kann man sie im Zaum halten, aber wenn man die Orientierung verliert, ist fast zwangsläufig mit ihrem Eintreten zu rechnen. Mike und Frasier sind in Falludscha vor die Hunde gegangen; sie waren unerklärlicherweise vom Weg abgekommen und in ein Straßenwirrwarr geraten, in dem sie nichts zu suchen hatten – er wird nie genau wissen, was schiefgelaufen ist, denn sie haben nicht überlebt und konnten es nicht erzählen. Ihr letzter verzweifelter Funkspruch verfolgt ihn, dann die quälende Suche mit GPS in albtraumhaftem Schritttempo, nach zwei Männern, längst zur Unkenntlichkeit verkohlte Leichen in einem ausgebrannten Fahrzeug, umgeben von einer Schar barfüßiger Kinder, die sie neugierig betrachteten. Ian schrie in ohnmächtiger Wut Fuck, Fuck, Fuck und feuerte wie die Blackwater-Leute mit seiner automatischen Waffe eine Totenblume in die Luft, nur knapp über die Köpfe der Kinder hinweg, völlig sinnlos, aber man muss versuchen, den kleinen Hurensöhnen wenigstens ein Fünkchen Gottesfurcht einzutrichtern. Er gerät nicht direkt in Panik, schließlich hat sich Poughkeepsie nicht in Bagdad, Basra oder Ramadi verwandelt, obwohl er im Schlaf von solchen Abträumen verfolgt wird: Er geht in Berlin oder Amsterdam eine Straße entlang, und plötzlich ist er nicht mehr auf Urlaub, er hat die Tage durcheinandergebracht, und das ist tödlich, denn in der Red Zone gelten andere Regeln als in der normalen und gesunden Welt. Er weiß, dass manche Clowns das als typisches Symptom einer posttraumatischen Belastungsstörung diagnostizieren würden, aber er weist die Behauptung, das sei es, was ihm zu schaffen mache, verächtlich zurück. Nein, es ist nur Klugheit und Vorsicht, das Können, das sein Überleben sichert. Aus irgendeinem Grund haben sie sich in ihm verselbstständigt. Als er in eine unbekannte Straße nach der anderen einbiegt, spürt er eine unangenehme Verengung der Brust. Dann sieht er ein paar Blocks voraus die Ampel an der Mündung in die Ausfallstraße. Er entspannt sich, sobald er auf die Ausfallstraße eingebogen ist; er muss einen Bogen um das Kongresszentrum schlagen und auf der 44/55 Richtung Osten fahren, rechts in die Raymond Avenue einbiegen, dann links in die 376 und immer geradeaus bis zum Inn at the Falls. Doch plötzlich ist diese Aussicht entmutigend. Was soll er im Hotel? Den Wodka austrinken? Im Internet einen Porno suchen und sich halbherzig einen runterholen, um schlafen zu können? Es muss in Poughkeepsie doch etwas geben, wo er sich unter fremde Leute mischen kann, um das unausweichliche Urteil der Einsamkeit ein wenig hinauszuzögern. Er hätte nicht von John Pembroke erzählen sollen. Das war dumm gewesen; er war drei Jahre mit Anatole befreundet, ohne von ihm zu sprechen, warum also jetzt? Er denkt nicht einmal besonders oft an John. Oder an Leigh, den er noch immer als eine Katastrophe betrachtet, die er abwenden konnte. Auch an Gabir denkt er nur selten, seitdem die Erinnerungen an Bagdad mehr und mehr nachlassen. Die Lage in Port Harcourt ist auf ihre Art perfekt. Afrikaner ziehen ihn nicht an. Er kann ihre große Schönheit aus kühler Distanz bewundern, aber sie bringen ihn nicht durcheinander. Vielleicht ist das rassistisch von ihm, aber wen kümmert das schon? Herz und Körper wollen, was sie wollen. Das war schon immer sein Problem. Und jetzt, wo die meisten Familien aus der Rumukoroshe-Siedlung verlegt wurden, weil sich die Sicherheitslage verschlechtert hat, wurde die Versuchung durch europäische oder amerikanische Teenager gleich mit beseitigt. Die Gefahren, die von der Bewegung zur Emanzipation des Nigerdeltas, den Bunkerern und den Piraten ausgehen, sind im Vergleich dazu unbedeutend. Er merkt, dass er immer wieder an Leigh denken muss. Anatoles und Lydias Mangel an Neugier befeuert perverserweise seine eigene. Niemand verschwindet noch heutzutage. Das Einzige, was verschwunden ist, ist die Privatsphäre, und sie wird niemals wiederkehren. Vielleicht ist das sogar gut so. Warum soll etwas privat sein? Kein Versteckspiel, keine Schuld, keine Scham. Eine vollständig transparente Welt. Er verbirgt natürlich alles vor allen. Die Welt, die er sich wünscht, wäre zur gleichen Zeit die Hölle für ihn. Das ist verdammt noch mal perfekt. Es ist fast Mitternacht. Ein Stück vor ihm überqueren zwei riesige Waschbären die dreispurige Straße. Er tritt instinktiv auf die Bremse, aber der Wagen neben ihm behält die Geschwindigkeit bei und fährt mit einem doppelten, scheußlichen Rums beide Tiere platt. Und fährt weiter, unbesorgt, offenbar ohne zu merken, was er getan hat. Außer ihnen sind keine Autos unterwegs. Gegen seinen Instinkt hält Chris an. Er schaut zurück. Einer der Waschbären liegt reglos da; der andere schleppt sich mit zerquetschten Hinterbeinen zur anderen Straßenseite. In der Welt, in der er normalerweise lebt, würde er nicht im Traum für irgendetwas anhalten. Er würde das Gaspedal durchtreten und sehen, dass er davonkommt. Aber dies ist die Traumwelt, die amerikanische Welt. Er ist wie gebannt. Er kann nicht weiterfahren, bevor er weiß, was aus dem verkrüppelten Waschbären geworden ist. Er kriecht ganz, ganz langsam über den Asphalt. Ein Wagen nähert sich und fährt einen Bogen, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis es vorbei ist. Er sollte ihm einen Gefallen tun: den Rückwärtsgang einschalten und ihn überfahren. Aber er kann nicht. Vor langer Zeit, in diesem verhängnisvollen Sommer in Ithaca, hatten er, John und Michelle eine streunende Katze adoptiert. Sie nannten sie Kobold – das war Johns Idee, wegen des fast übernatürlich schwarzen Fells. Er erinnert sich, dass sie sich so geschickt in ihr Leben schlich, dass sie sie schließlich nicht einfach nur fütterten oder mit einem Stück Draht ärgerten, sondern ihre lächerliche Präsenz mehr und mehr als Ausgleich für das lähmende Elend eines Bruders und einer Schwester brauchten, die beide in einen Mitbewohner verliebt waren, der sich nicht entscheiden konnte. Oder konnte, aber nicht wollte. Aus Gründen, die bis zum heutigen Tag unverzeihlich bleiben. Als sich abzeichnete, dass John derjenige war, der gehen musste (obwohl ich es war, das weiß Chris jetzt, ich hätte gehen sollen), als sie kaum noch miteinander sprachen – nicht aus Ärger, sondern aus einer tiefen, fast unerträglichen Traurigkeit –, begann John in komischer Verzweiflung, seine zunehmend hoffnungslosen Gefühle bauchredend Kobold in den Mund zu legen, in dem vergeblichen Versuch, das Unausweichliche abzuwenden. Und wie geschickt hatte sich, auf einem anderen Kontinent, in einer anderen Welt, dieser andere Streuner eingeschlichen. Eine Zeit lang kam er nur manchmal, dann sah man ihn immer öfter vor dem Tor des Anwesens herumlungern, das sie großspurig das Herrenhaus nannten, in der typisch arabischen Hocke, die Chris schrecklich unbequem fand, die aber...