Russo | Diese alte Sehnsucht | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 352 Seiten

Russo Diese alte Sehnsucht

Roman
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-8321-8541-1
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

ISBN: 978-3-8321-8541-1
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Großes amerikanisches Erzählkino Jack Griffin wollte niemals werden wie seine Eltern. Seit dreißig Jahren ist er verheiratet, hat eine wohlgeratene Tochter und wurde nach seiner Karriere als Hollywood-Drehbuchautor Professor an einem kleinen College im Nordosten. Doch nun ist er Mitte fünfzig und erkennt, dass ihn die Lebensmuster seiner wunderbar scheußlichen Eltern längst eingeholt haben. Der Pulitzer-Preisträger Richard Russo, der in den USA schon seit Langem zu den bedeutenden Schriftstellern zählt, zeigt in seinem facettenreichen Roman, dass wir den Rollenbildern, denen wir zu entfliehen suchen, niemals ganz entkommen: Wir wiederholen sie - oder verkehren sie in ihr Gegenteil. >Diese alte Sehnsucht< führt ebenso unterhaltsam wie kunstvoll vor, dass Familie dort ist, wo uns das Schlimmste, aber auch das Beste geschieht. »Eine romantische Komödie aus der Lebensmitte, voller Humor und Zuversicht.« The Guardian

RICHARD RUSSO, 1949 in Johnstown, New York, studierte Philosophie und Creative Writing und lehrte an verschiedenen amerikanischen Universitäten. Für >Diese gottverdammten Träume< (DuMont 2016) erhielt er 2002 den Pulitzer-Preis. Bei DuMont erschienen außerdem >Diese alte Sehnsucht< (2010), >Ein grundzufriedener Mann< und >Ein Mann der Tat< (beide 2017) sowie der Erzählband >Immergleiche Wege< (2018), der SPIEGEL-Bestseller >Jenseits der Erwartungen< (2020), >Sh*tshow< (2020), >Mittelalte Männer<

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2 SCHIEFE EBENE Als seine Eltern sich scheiden ließen und beide behaupteten, sie hätten einander schon zu lange unglücklich gemacht und sich schon viel früher trennen sollen, war Griffin auf der Filmhochschule im Westen und dachte, es sei wahrscheinlich am besten so. Aber keiner von beiden war in der zweiten Ehe aufgeblüht, und auch ihre Karrieren nahmen Schaden. Geeint – jedenfalls im Abstimmungsverhalten – waren sie am Lehrstuhl für Englisch eine nicht zu unterschätzende Größe gewesen, doch getrennt und oft gegeneinander stimmend durfte man sie getrost ignorieren, und ihre schlimmsten Feinde konnten sie ungestraft aufs Korn nehmen. Seiner Mutter schien es anfangs besser zu gehen als seinem Vater. Während ihrer Ehe war sie den jungen Literaturtheoretikern und Kulturkritikern mit unverhohlener Verachtung begegnet, doch nun erfand sie sich neu, wurde Spezialistin für Geschlechterforschung und war eine Zeit lang der Liebling der nachrückenden Generation. Patricia Highsmith, eine ihrer »verbotenen Freuden«, war inzwischen geachtet, und seine Mutter veröffentlichte einige gut platzierte Artikel über sie und zwei, drei andere schwule oder lesbische Autoren und Autorinnen. Podiumsdiskussionen zu Geschlechterfragen waren mit einem Mal große Mode, und in einigen davon führte sie bei regionalen Konferenzen den Vorsitz, wobei sie ihrem großen und größtenteils lesbischen Publikum zu verstehen gab, sie selbst sei, was ihre Sexualität betreffe, ihr Leben lang in Theorie und Praxis nach allen Seiten offen gewesen. Und vielleicht, dachte er, stimmte das ja auch. Bartleby, der zu Beginn ihrer Ehe lieber nicht mit ihr stritt und gegen Ende lieber gar nichts mehr sagte, bewahrte, als man ihm diese Anspielungen hinterbrachte, seine philosophische Ruhe. Griffin hatte angenommen, dass seine Mutter die Abkehr ihres zweiten Mannes von der gesprochenen Sprache übertrieben hatte, doch einige Monate vor seinem unerwarteten Tod (auch zum Arzt zu gehen, war etwas, das Bartleby lieber nicht tat) stattete er den beiden einen kurzen Besuch ab und führte sie zum Essen aus, und die ganze Zeit über sagte der Mann kein einziges Wort. Er schien nicht schlecht gelaunt und lächelte gelegentlich wehmütig über irgendetwas, das seine Frau oder Griffin sagten, aber seine einzige Äußerung, wenn man so wollte, bestand darin, dass er, weil er sich an einem Stück Fleisch verschluckt hatte, dunkelrot anlief, bis ein Ober seine Not bemerkte und ihn per Heimlich-Manöver davon befreite. Die Neuerfindung seiner Mutter, ein kühner und für eine Weile erfolgreicher Schritt, war allerdings letztlich zum Scheitern verurteilt. Als die Universität, hauptsächlich auf ihr Betreiben hin, eine Abteilung für Geschlechterforschung einrichtete, nahm sie natürlich an, dass man ihr die Leitung übertragen würde, doch stattdessen entschied man sich für eine transsexuelle Professorin, ausgerechnet aus Utah, und das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Fortan unterrichtete sie noch, beteiligte sich jedoch nicht mehr an irgendwelchen Sitzungen und nahm keinerlei Anteil mehr an den Entscheidungen in ihrem Fachbereich. Wenn Griffin sich nicht täuschte, hoffte sie im Stillen, dass die Kollegen ihr Fehlen bemerken und sie bitten würden, doch wieder am akademischen Leben teilzunehmen, doch das geschah nicht. Selbst Bartlebys Tod rief wenig Mitgefühl hervor. Sie publizierte weiterhin, veranstaltete Podiumsdiskussionen und bewarb sich um die Leitung diverser Lehrstühle für Englisch, aber ihre Akte enthielt inzwischen einige Briefe des Inhalts, sie sei zwar eine gute Dozentin und ausgezeichnete Gelehrte, allerdings auch polarisierend und streitlustig. Mit einem Wort: eine Zicke. Als seine Mutter pensioniert wurde, nahm Griffin trotz schwerer Bedenken die Einladung der Universität zu einem Abschiedsdiner an. (Joy bot sich an, ihn zu begleiten, doch er bestand darauf, ihr das zu ersparen.) In jenem Jahr gab es außergewöhnlich viele Professoren, die in den Ruhestand traten, und jeder bekam Gelegenheit, sich über seine vielen Jahre im Dienste dieser Institution zu verbreiten. Griffin fand es besonders beunruhigend, dass seine Mutter die letzte Rednerin war. Möglicherweise hatten die Planer dieses Diners die besten, renommiertesten Emeritierten ans Ende der Rednerliste gesetzt, doch wahrscheinlicher war, dass sie seine dunklen Vorahnungen geteilt hatten und diese Maßnahme eine Art Schadensbegrenzung darstellte. Als sie schließlich an der Reihe war, erhob seine Mutter sich unter höflichem Applaus und trat ans Rednerpult. Dass sie ein teures, gut geschnittenes Kostüm trug, vergrößerte die allgemeine Besorgnis. »Im Gegensatz zu meinen Kolleginnen und Kollegen«, sagte sie in das Mikrofon und war die Einzige an diesem Abend, die die Notwendigkeit dieses Hilfsmittels erkannte, »werde ich mich kurz fassen und aufrichtig sein. Ich wollte, ich könnte etwas Nettes über Sie und diese Universität sagen, wirklich. Doch die Wahrheit, die wir nicht auszusprechen wagen, ist, dass diese Hochschule ebenso eindeutig zweitrangig ist wie die überwältigende Mehrheit ihrer Studenten und wir selbst.« Und damit kehrte sie zu ihrem Platz zurück und tätschelte Griffins Hand, als wollte sie sagen: Na bitte, das war doch gar nicht so schlimm, oder? Was sie dann in die verblüffte Stille hinein tatsächlich sagte, war: »Seltsam – zum ersten Mal seit über zehn Jahren wünschte ich, dein Vater wäre hier. Das hätte ihm gefallen.« Seinem Vater erging es nach der Scheidung noch schlechter. Auch er versuchte, sich neu zu erfinden, und widmete sich dem neuen Studiengang für Amerikanistik. Er hatte sich schon immer mindestens ebenso sehr für Politik und Geschichte wie für Literatur interessiert, und die Universität war bereit, ihn zur Hälfte an die Amerikanisten auszuleihen, vorausgesetzt, seine Kollegen vom Lehrstuhl für Englisch hatten keine Einwände (die hatten sie allerdings nicht). Sein neues Büro befand sich eine Etage tiefer im Gebäude für moderne und klassische Philologie, und Claudia, eine dralle, großbusige Studentin, hatte sich erboten ihm zu helfen, die etwa siebzig Kartons voller Bücher und Zeitschriften dorthinzutragen. Das erforderte häufiges Bücken, und sie trug keinen BH. Zuvor hatte er sie kaum bemerkt, doch das änderte sich jetzt, und seine Kollegen bemerkten, dass er sie bemerkte, und tuschelten, es sei offensichtlich, welche Hälfte von ihm bei den Amerikanisten sei und welche bei den Philologen. Griffin war ziemlich sicher, dass sein Vater wenig Lust verspürte, noch einmal zu heiraten, und es wohl nicht getan hätte, wären Beziehungen zwischen Dozenten und Studenten nicht streng verboten gewesen. Was wirklich absurd war. Immerhin war Claudia keine Studienanfängerin. Sie war neunundzwanzig, erwachsen (selbst nach den Maßstäben einer amerikanischen Universität) und brauchte ganz sicher nicht den Schutz der Institution – wogegen sich einige ihrer Professoren fragten, wer sie vor ihr beschützen würde. Was Claudia nach Meinung vieler aber tatsächlich brauchte, war Hilfe, viel Hilfe bei ihrem Abschluss. Sie bestand die Vorprüfung nur knapp im zweiten und letzten Anlauf – einer der Prüfer enthielt sich der Stimme –, und dann brauchte sie ein ganzes Studienjahr, um ein akzeptables Dissertationsthema vorzulegen. Wie eine Färse auf einer Landwirtschaftsausstellung wurde sie (von Griffins Vater) Schritt für Schritt durch diese Prozedur geführt. Irgendetwas an ihr erinnerte Griffin tatsächlich an eine Kuh. Sie war einen ganzen Kopf größer als sein Vater, hatte breite Hüften und volle Brüste, die unter den von ihr bevorzugten weiten Blusen stets in Bewegung zu sein schienen. Und so geschah es, dass dieser hervorragende Professor eines Morgens erwachte und erkannte, dass seine Exfrau sich in eine abenteuerlustige Geschlechterspezialistin verwandelt hatte, während aus ihm selbst ein Narr geworden war. Naked Lunch, bemerkte Griffins Mutter, hatte schließlich gesiegt und den armen Jeeves vor die Tür gesetzt. Vielleicht war das der Grund, warum Griffins Vater freudig zusagte, als ein alter Studienfreund, mittlerweile Dekan der Universität von Massachusetts, ihn anrief und fragte, ob er daran interessiert sei, für ein Jahr die Vertretung eines kranken Kollegen zu übernehmen. Griffins Mutter schäumte natürlich vor Wut, als sie das hörte. Immerhin brauchte man von Amherst zum Cape nur etwa zwei Stunden. Er und die fette Kuh würden die Wochenenden dort verbringen können, vielleicht sogar in Vineyard oder Nantucket, während sie in Gesellschaft eines Stummen im Scheiß-Mittelwesten saß. Aber sie konnte es nicht verhindern, was sie allerdings erst merkte, nachdem sie es, laut seinem Vater, sehr intensiv versucht hatte. Er und Claudia blieben ein ganzes Jahr im Osten und kehrten erst im allerletzten Moment, nämlich am ersten Wochenende im September, an die Universität zurück. Griffin steckte gerade zwischen zwei Drehbüchern und flog für ein paar Tage nach Indiana. Er hatte seinen Vater nicht in Amherst besucht und stellte fest, dass dieser aussah, als hätte er die ganze Zeit auf einer Station für Tuberkulosekranke verbracht. Er schien um gut zehn Jahre gealtert. Er war immer schlank und schmalbrüstig gewesen, doch jetzt war er mager, seine Wangen waren eingefallen, und sein Haar war schütter. Anscheinend als Ausgleich trug er es an den Seiten und hinten lang, was ihm das Aussehen eines Totengräbers aus einem Dickens-Roman verlieh. Im Gegensatz zu ihm war Claudia eher noch draller geworden. Während Griffins kurzem Aufenthalt fand sie des öfteren Gelegenheit, ihren üppigen Körper in seiner unmittelbaren Nähe zu platzieren und die frei schwingenden Brüste an seinen Arm oder, wenn er gerade saß, an seinen Hinterkopf zu legen – Gesten,...


Russo, Richard
RICHARD RUSSO, 1949 in Johnstown, New York, studierte Philosophie und Creative Writing und lehrte an verschiedenen amerikanischen Universitäten. Für ›Diese gottverdammten Träume‹ (DuMont 2016) erhielt er 2002 den Pulitzer-Preis. Bei DuMont erschienen außerdem ›Diese alte Sehnsucht‹ (2010), ›Ein grundzufriedener Mann‹ und ›Ein Mann der Tat‹ (beide 2017) sowie der Erzählband ›Immergleiche Wege‹ (2018), der SPIEGEL-Bestseller ›Jenseits der Erwartungen‹ (2020), ›Sh*tshow‹ (2020), ›Mittelalte Männer‹

Gunsteren, Dirk van
Dirk van Gunsteren studierte Amerikanistik und ist seit 1984 Übersetzer und freiberuflicher Redakteur. Er übersetzte u. a. Bücher von V.S. Naipaul, John Irving, Philip Roth und Edward St Aubyn. Er wurde mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt Preis ausgezeichnet.



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