E-Book, Deutsch, Band 2, 560 Seiten
Reihe: Veröffentlichungen der Unabhängigen Historikerkommission
Sälter Phantome des Kalten Krieges
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-86284-361-9
Verlag: Links, Christoph, Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Organisation Gehlen und die Wiederbelebung des Gestapo-Feindbildes "Rote Kapelle"
E-Book, Deutsch, Band 2, 560 Seiten
Reihe: Veröffentlichungen der Unabhängigen Historikerkommission
ISBN: 978-3-86284-361-9
Verlag: Links, Christoph, Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
die Furcht vor kommunistischer Unterwanderung zu schüren, um so ihr eigenes institutionelles Überleben abzusichern.
(Band 2 der Veröffentlichungen der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945-1968)
Gerhard Sälter, Jahrgang 1962, Historiker, 2000 Promotion. Seit 2000 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Gedenkstätte Berliner Mauer; von 2012 bis 2016 Mitarbeiter der Unabhängigen Historikerkommission zur Geschichte des BND; seitdem Leiter der Abteilung Forschung und Dokumentation der Stiftung Berliner Mauer. Zahlreiche Veröffentlichungen, u. a. zum Ministerium für Staatssicherheit und zur Berliner Mauer, zur Geschichte der Geheimdienste und des BND.
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Einleitung
Die Chefs staatlicher Nachrichtendienste – mit einem Geheimbudget ausgestattet und oft in der Lage oder verpflichtet, nicht allzu legale Mittel anzuwenden – werden leicht zu Hinterzimmerpotentaten. Das ist schon in der Natur ihrer Aufgaben begründet. Solange sie und ihre Untergebenen keine Böcke schießen, die sich nicht mehr verbergen lassen, sind sie gegen jede öffentliche Kritik immun. Das Geheimhaltungs-Tamtam und der allgemeine Glaube daran, dass man informiert sein müsse, erwiesen sich immer wieder als schier unüberwindliche Bollwerke.
Eric Ambler1
Im Oktober 1954 schickte James H. Critchfield, Leiter des CIA-Stabs, der in Pullach die Aktivitäten der Organisation Gehlen zu lenken versuchte, eine alarmierende Nachricht an seine Vorgesetzten in Langley: Es gebe Hinweise, dass Hans Globke ein sowjetischer Spion sei, der für das Agentennetz »Rote Kapelle« arbeite. Diese Nachricht war so beunruhigend wie überraschend, insbesondere, nachdem der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) Otto John in Ost-Berlin aufgetaucht und die Öffentlichkeit ohnehin alarmiert war. Globke, seit 1949 leitender Beamter im Bundeskanzleramt und seit Herbst 1953 in der Nachfolge von Otto Lenz als Staatssekretär Chef des Kanzleramts, war einer der engsten Vertrauten Konrad Adenauers.2 Einen besseren Platz für einen sowjetischen Spion und Einflussagenten gab es überhaupt nicht.
Der Hinweis auf Globke stammte vom Chef der Organisation Gehlen selbst, vom »Doktor« oder »Professor«, wie Reinhard Gehlen sich von seinen Mitarbeitern nennen ließ, bzw. von »Utility«, wie er bezeichnenderweise bei der CIA hieß. Globke hatte, als er 1949 im Bundeskanzleramt eingestellt werden wollte, Gehlen gebeten, für ihn bei den Amerikanern um Unterstützung zu werben. Globke, der in der Nachkriegszeit eher als Erfüllungsgehilfe der Nationalsozialisten berüchtigt als für eine Gegnerschaft bekannt war, hatte seine Bewerbung mit Bescheinigungen von Verfolgten und Angehörigen des Widerstands gepolstert. Critchfield glaubte, seine Vorgesetzten in den Staaten auf die seltsamen Zeitumstände der direkten Nachkriegszeit hinweisen zu müssen: »During that period, it will be recalled, the main criterion for holders of public offices under the occupation was an anti-Nazi record.« Critchfield hatte das Material seinerzeit in den richtigen »channel« geleitet und es dann vergessen. Gehlen jedoch mit seiner Neigung, Papier zu horten, behielt eine Kopie zurück und hatte sie nicht vergessen.
Im Juni 1954 machte er Critchfield – »to our surprise« – auf die Zeugnisse aufmerksam. Otto Lenz, Jakob Kaiser und Josef Müller (der »Ochsensepp« genannt) hatten Globke 1949 bescheinigt, er sei einer der Männer des 20. Juli gewesen. Herbert Engelsing und seine Frau Ingeborg hatten ihm attestiert, er habe sie vor drohender Verhaftung und vor Hausdurchsuchungen gewarnt, und sie wüssten von zahlreichen nächtlichen Sitzungen, dass Globke »one of the most clever participants of the 20 July revolt« gewesen sei. Seit 1949 hatte der Wind sich jedoch gedreht. Josef Müller war unterdessen in den Medien von einem Widerstandskämpfer zu einem »Kryptokommunisten« geworden, der vielleicht heimlich mit den Russen paktiere, und als Verräter galt er vielen ohnehin. Die Beziehung zu Engelsing war noch belastender, denn dieser wurde in den Akten der meisten westlichen Sicherheitsdienste mittlerweile als möglicher kommunistischer Agent der Roten Kapelle geführt. Ironischerweise hatten die Persilscheine Globke wenig genützt. Critchfield hatte in den Personalunterlagen des amerikanischen Hochkommissars gefunden, dass man seinen Widerstandsaktivitäten kaum Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Deutsche und Amerikaner hätten sich allein mit der Frage beschäftigt, ob Globkes Position im Reichsinnenministerium und seine Autorschaft an den Kommentaren zu den Nürnberger Rassegesetzen ihn so stark belaste, das man ihn nicht einstellen könne. Das fand aber niemand.
Critchfield ergänzte, er wisse nicht, was man in Langley mit Gehlens Informationen anfangen solle, und er könne nicht beurteilen, was Gehlen damit anstellen werde. Die politische Brisanz des Falls Globke sei ihm und Gehlen natürlich bewusst. Auch stünde ihnen deutlich vor Augen, wie wichtig die enge Beziehung zwischen Globke und Gehlen, die sich nach Critchfields Ansicht in letzte Zeit erheblich abgekühlt habe, für die Organisation Gehlen sei, da Globke deren »anchorman« in der Bundesregierung sei. Er glaube nicht, dass Gehlen tatsächlich der Überzeugung sei, Globke sei »a witting servant of the Soviets«. Überdies konnte Critchfield außer der eidesstattlichen Erklärung von Engelsing keine Hinweise finden, dass Globke vor 1945 mit der Roten Kapelle in Verbindung gestanden hatte. Gehlen insistierte jedoch auf der Brisanz des Falles und erzwang, dass dieser in den USA zur Kenntnis genommen wurde. Critchfield schrieb, Gehlen habe darauf hingewiesen, Globke verkehre mit Kurt Behnke, Präsident des Bundesdisziplinarhofs, der wiederum zum Kreis um den CSU-Politiker Josef Müller gehöre und Kontakt zu Minister Jakob Kaiser wie zu Friedrich W. Heinz (für die CIA »Capote«) habe, die alle vier weit oben auf Gehlens Liste der politisch Unzuverlässigen standen. Gehlen habe zudem insistiert, dass er keine Garantie dafür übernehmen könne, dass Globke nicht seinen religiösen und politischen Überzeugungen folgen und versuchen werde, ein neutrales Deutschland durchzusetzen.3
Ob Gehlen von patriotischer Sorge motiviert war, von denunziatorischem Eifer getrieben oder seinen Patron im Kanzleramt daran erinnern wollte, dass sie eine Partnerschaft zu beiderseitigem Gewinn führten, mag hier dahingestellt bleiben. Gehlen schützte Globke vor öffentlichen Angriffen wegen seiner NS-Vergangenheit und hatte ihm wie seinem Kanzler als geheimer Nachrichtenbeschaffer gedient. Ihrer beider Verhältnis war kein rein hierarchisches, sondern schloss reziproke Aspekte ein.4 Gehlen wurde von dem früheren Abwehroffizier Hans-Ludwig von Lossow unterstützt, zu dieser Zeit Verwalter der innenpolitischen Verbindungen seines Chefs und im Fall Globke nach Critchfields Meinung der Stichwortgeber Gehlens.
Das erstaunliche Dokument ist nicht nur ein Lehrstück für die politische Relevanz von geheimem Aktenmaterial, es zeigt vor allem, welch große Bedeutung eine kaum in Erscheinung getretene Widerstandsorganisation gegen Hitler noch immer besaß. Gegen die Rote Kapelle, an deren Fortexistenz über 1945 hinaus viele westliche Geheimdienste zeitweilig glaubten und von deren Gefährlichkeit Gehlen bis zu seinem Tod überzeugt war, führten die Organisation Gehlen und der Bundesnachrichtendienst (BND) einen ausgedehnten Kreuzzug. Die Operation wurde zunächst unter dem Decknamen »Fadenkreuz« und seit 1957 unter »Wildgatter« geführt. In Pullach vermutete man, dass Teile dieser Organisation weiterbestünden, nun gegen »den Westen« arbeiteten und als fünfte Kolonne große Teile des öffentlichen Lebens und der Politik der Bundesrepublik unterwandert hätten. Damit operierte der Gehlen-Dienst gegen eine Spionageorganisation, die ausschließlich in ihrer Wahrnehmung bestand. Das angenommene Gefährdungspotenzial der Roten Kapelle begründete sich auf der teilweise vorsätzlichen Fehldeutung, es habe sich bei ihr um eine von Moskau gesteuerte Spionageorganisation gehandelt. Zweitens wurde behauptet, die Organisation habe bis 1945 von den deutschen Sicherheitsbehörden nicht vollständig zerschlagen werden können und bestehe zumindest in Teilen fort. Drittens glaubte man nicht, dass ihre Mitglieder durch die Ablehnung des Nationalsozialismus motiviert waren, sondern sah in ihnen bolschewistische Überzeugungstäter, die auch unter demokratischen Rahmenbedingungen weiter für Moskau arbeiten würden.
Die von den NS-Sicherheitsbehörden vor 1945 formulierten Annahmen über die kommunistische Ausrichtung und die Steuerung aus Moskau übernahm die Organisation Gehlen nach 1945 zusammen mit dem Personal dieser Behörden. Damit wird die Operation gegen die Rote Kapelle zu einem Lehrstück, an dem exemplarisch dargestellt werden kann, welche Konsequenzen die Übernahme von Funktionsträgern der nationalsozialistischen Repressionsapparate mit ihrer speziellen »Expertise« in die Sicherheitsbehörden der Bundesrepublik für deren politische Ausrichtung, ihren Wahrnehmungshorizont und ihr praktisches Funktionieren hatte, vielleicht sogar für ihre Effizienz. Die bizarre Jagd nach der Roten Kapelle bietet eine Möglichkeit, zu beschreiben, wie bestimmend der Einfluss dieser Funktionsträger auf den mentalen Horizont der Behörden sein konnte, in die sie integriert wurden. Es wird untersucht, wie stark geistige, mentale und personelle Kontinuitäten zwischen nationalsozialistischen Instanzen und Bundesbehörden Wirkungsmacht gegenüber dem Sicherheitsempfinden und damit dem politische Handeln der Entscheidungsträger der jungen Demokratie gewinnen konnten.
Die Operation gegen die Rote Kapelle eignet sich als Beispiel, weil die Organisation Gehlen und der BND einer Chimäre nachjagten, die von der Gestapo und der deutschen Abwehr geschaffen worden waren. Es wird zu zeigen sein, wie sich aus der Vermutung, es könnten Teile dieser Widerstandsbewegung der Repressionswelle entkommen sein, die Annahme entwickelte, sie seien gegen die Bundesrepublik aktiv. Es wird zu fragen sein, wieso der Widerstand gegen Hitler nach 1945 als eine Bedrohung wahrgenommen werden konnte, die den erheblichen Einsatz von Personal und Geldmitteln rechtfertigte, um ihm erneut das Handwerk zu legen....