Sahlins | Der Tod des Kapitän Cook | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Sahlins Der Tod des Kapitän Cook

Geschichte als Metapher und Mythos als Wirklichkeit
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-8031-4326-6
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Geschichte als Metapher und Mythos als Wirklichkeit

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-8031-4326-6
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die atemberaubende Schilderung eines tödlichen Missverständnisses: Wie Kapitän Cook auf Hawaii zum Gott wurde und dafür mit seinem Leben bezahlte. Ein anthropologisches Meisterstück über Glück und Tragik der Begegnung zweier fremder Kulturen.

Als Kapitän Cook mit seiner Crew am 17. Januar 1779 auf der Suche nach der Nordwestpassage in Hawaii anlangt, wird er von den Inselbewohnern frenetisch empfangen. Zu dieser Zeit feiern die Einheimischen die turnusmäßige Ankunft und Herrschaftsübernahme des Friedensgottes Lono, der nun in Gestalt Cooks leibhaftig einzutreffen scheint. Das Missverständnis endet tödlich.

In seinem 1981 zuerst veröffentlichten und heute zu den Klassikern der Anthropologie und der Kulturgeschichte zählenden Forschungsbericht zeigt Marshall Sahlins, wie die einander Fremden in dem nun einsetzenden intensiven materiellen und sexuellen Austausch Tabus überschreiten und Mythen umgestalten, um die große überlieferte Erzählung zu bewahren.

Marshall Sahlins' legendäre Studie, die in der Anthropologie eine Grundsatzdebatte über die Verstehbarkeit ›fremder‹ Kulturen auslöste, liefert fundamentale Überlegungen zum Verhältnis von Struktur und Geschichte, die auch in den derzeitigen Diskussionen um transkulturelle Verflechtungen und Wandel in der (post-)kolonialen Welt von größter Bedeutung sind.

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Wiederkehr und Reproduktion
Strukturen von langer Dauer
Götter aus Kahiki In den Berichten der Europäer gibt es die häufig erzählte Geschichte von den hartnäckigen Bemühungen des Kapitäns Vancouver (nach einer anderen Überlieferung war es ein ›Padre‹ Howell), Kamehameha, den König von Hawaii, von den großen Vorzügen des Christentums zu überzeugen. Das muß sich in den Jahren 1793 oder 1794 zugetragen haben. Der amerikanische Kaufmann Townsend hat jedenfalls schon 1798 gehört, daß »Kapitän Vancouver eifrig darum bemüht war, diese Leute zu christianisieren. Dafür müßten sie jedoch erst zivilisierter werden. König Amma-amma-ha [Kamehameha] jedoch sagte zu Kapitän Vancouver, daß er mit ihm auf den hohen Berg Mona Roah [Mauna Loa] steigen wolle, von dem sie dann gemeinsam herunterspringen würden, jeder seinen Gott um Schutz anrufend. Wenn Kapitän Vancouver von seinem Gott gerettet, er selbst, der König, von seinem Gott aber nicht geschützt werde, dann solle sein Volk an den Gott der Christen glauben, wie Vancouver es tue« (Townsend 1888, S. 74; vgl. Cleveland o. J., S. 211). Der Russe Golovnin ergänzte im Jahre 1818: »Dieser Vorschlag gefiel Vancouver gar nicht. Er weigerte sich nicht nur, das Experiment auszuführen, er erwähnte es in seiner ›Voyage‹ nicht einmal. Das war das Ergebnis dieser Diskussion über Religion« (Golovnin 1979, S. 207). In der Geschichte Hawaiis gibt es zahlreiche Wiederholungen, da eine Begebenheit erst beim zweiten Mal zum historischen Ereignis wird. Zuerst erscheint sie als Mythos. Tatsächlich war Kamehamehas Angebot an Kapitän Vancouver eine Anspielung auf eine Legende. Was er dem Europäer vorschlug, war, die Geschichte des berühmten Paao1 zu ›wiederholen‹, der wie Vancouver, aber viele Generationen vorher, aus unsichtbaren Ländern jenseits des Horizonts gekommen war, um eine neue Religion einzuführen – freilich auch, um zugleich mit seiner Religion ein neues Geschlecht regierender Häuptlinge einzusetzen, von denen Kamehameha selbst abstammte. Dieser Mythos lautet: »Es wird erzählt, daß viele Götter Paao antrugen, er solle sie als seine Gottheit anerkennen und anbeten. Er hatte sein Haus am Rand einer Klippe gebaut, von welcher der Vogel koa’e losflog. Wann immer ein Gott zu Paao kam, forderte dieser ihn auf, von der Klippe herunterzufliegen. Derjenige, der lebend wiederkehre, werde sein Gott sein, ihn werde er anbeten. Wenn sie dann von der Klippe sprangen, zerschellten sie tief unten.« (Kamau, in Thrum 1923, S. 46 f.) Um hier eine lange Geschichte abzukürzen: dies war das Schicksal der Möchtegern-Götter Lelekoae und Makuapali; Makuakaumana jedoch landete in Paaos Kanu und wurde so zu Paaos Gott. Die Geschichte über Vancouver kann durchaus apokryph sein.2 Aber selbst wenn es so ist, berührt das nicht notwendigerweise ihre ›Wahrheit‹. Sie gibt dann eben nicht eine Tatsache aus der Geschichte Hawaiis wieder, sondern zeigt deren ›poetische Logik‹. Denn die Erzählung enthüllt und umreißt knapp und bündig die gesamte hawaiische Theorie von der Wirkungsmacht der Europäer, insbesondere von Vancouvers Vorgänger Kapitän Cook. In manchen späten Fassungen des Paao-Mythos wird sogar gesagt, daß Paao selbst ein weißer Mann gewesen sei (Ellis 1828, S. 398; Byron 1826, S. 4). Generell waren die Europäer für die Bewohner von Hawaii das, was deren Häuptlinge einst für die damals unterlegenen Einheimischen gewesen waren, zu deren Herren sich die Häuptlinge mit Gewalt gemacht hatten: gottähnliche Wesen aus den unsichtbaren Ländern (Kahiki). »Ein Häuptling ist ein Hai, der über Land reist«, lautet ein verbreitetes Sprichwort (Handy und Pukui 1972, S. 199; vgl. Fornander 1916–1919, Bd. V/VI, S. 368–410). Das ist eine Anspielung, die sich speziell auf die Neigung landfremder Häuptlinge bezieht, Menschenopfern zu frönen (vgl. Valeri 1985). Die Paao-Legende ist vielleicht die wichtigste Urkunde zu den historischen Anfängen der Usurpatoren-Häuptlinge und zur Einrichtung des Opferkultes. Die Geschichte lautet: Paao war wegen einer Auseinandersetzung mit seinem älteren Bruder Lonopele, einem berühmten Bauern, gezwungen, seine ursprüngliche Heimat zu verlassen. Denn Lonopele hatte den Sohn Paaos bezichtigt, einige Feldfrüchte gestohlen zu haben. Daraufhin öffnete Paao den Magen des Jungen, nur um herauszufinden, daß sein Sohn unschuldig war. Aufgebracht beschloß Paao, seinen Bruder zu verlassen und baute zu diesem Zweck ein Kanu. Durch eine List wurde Lonopeles eigener Sohn zu einer Übertretung der beim Kanubau geltenden Tabus verleitet. Dies erlaubte es Paao seinerseits, den Sohn seines Bruders zum feierlichen Abschluß der Arbeiten als Menschenopfer darzubringen. Begleitet von einer Anzahl von Männern und (bestimmten Versionen der Legende zufolge) vom gefiederten Gott Kukailimoku (Fliegenschnäppergott Ku von der Insel) segelte Paao sodann davon. Um das Kanu zu vernichten, ließ Lonopele eine Reihe von Stürmen der »Kona«-Art (ein Wintersturm) losbrechen, doch mit Erfolg rief Paao Schwärme von Bonitofischen (aku) und Makrelen (opelu) um Hilfe an, die die See wieder beruhigten. Paao überstand auch weitere von Lonopele ausgesandte Gefahren. Schließlich erreichte er die Insel Hawaii, wo er einige berühmte Tempel errichtete. Diese waren die ersten Tempel für Menschenopfer; die Oberaufsicht über die Opferriten führte der Gott Ku, den Paaos gefiederter göttlicher Begleiter Kukailimoku als eine seiner wichtigen Gestalten repräsentierte. Einer anderen Version der Legende zufolge (Kepelino 1932, S. 58), erschlug Paao auch alle bei seiner Ankunft vorhandenen Priester. Über die politischen Veränderungen, die er zugleich einführte, wird unterschiedlich berichtet. Entweder gab es hiernach auf Hawaii zu jener Zeit keinen Häuptling, oder der damalige Häuptling (der manchmal unter dem Namen Kapawa erwähnt wird) regierte schlecht. Im letzteren Falle entthronte Paao den Häuptling. Alle Versionen der Legende erwähnen übereinstimmend, daß er einen neuen Herrscher, Pilikaaiea, einsetzte, den er aus Kahiki mitgebracht hatte. Alle Herrscher auf der Insel Hawaii führen sich auf diesen Häuptling (bis auf zwanzig Generationen vor Kamehameha) zurück. Abgesehen von der Einrichtung der Tempel, den Menschenopferriten und dem gefiederten Gott Kukailimoku, soll Paao angeblich auch die Bilderverehrung nach Hawaii gebracht haben sowie manche geweihten Häuptlingsinsignien und ferner das den göttlichen Häuptlingen dargebrachte Tabu des Fußfalls (Kamakau 1865, Ms.; Thrum 1923, S. 46–52; Kepelino 1932, S. 20, 58; Westervelt 1923, S. 65–78; Malo 1951, S. 6 f.; Remy 1861, S. 3 f.; Fornander 1969, Bd. 2, S. 33 –40). Dieser Paao-Mythos ist grundlegend. Ohne eine ausführliche Analyse zu versuchen oder seine verschiedenen Versionen zu vergleichen, möchte ich im Hinblick auf den hier interessierenden Gegenstand doch einige seiner Anspielungen verdeutlichen. Bei Kukailimoku handelt es sich um den personalen Eroberergott berühmter Herrscher auf der Insel Hawaii, unter denen Kamehameha und dessen Vorgänger zur Zeit des Kapitän Cook, Kalaniopuu, besondere Beachtung verdienen. Kapawa (auch bekannt als Heleipawa), der von Paao gestürzte Herrscher, verkörpert einen anderen Typus von Häuptling und Kult. Der Überlieferung zufolge war Kapawa der erste Häuptling Hawaiis. Er wurde beim Tempel von Kukaniloko im Landesinnern von Oahu geboren und dort auch ins Amt eingesetzt. Dieses Gebiet, der Tempel und die Einsetzungsriten bezeichnen einen früheren, mehr einheimischen Typus eines regierenden Häuptlings: ihn zeichnete aus, daß er die Nachfolge eher aufgrund von Geburtsrecht und Tabustatus als durch Usurpation antrat, daß er sich seinem Volk gegenüber wohlwollend verhielt, die landwirtschaftliche Erzeugung förderte und andere Wohltaten gewährte und daß er vor allem ein Häuptling war, der keine Menschenopfer forderte (Kamakau, in: Thrum 1923, S. 85–93). Der Hinweis auf die winterlichen Konastürme und die Erwähnung der Bonitos und Makrelen bezieht sich auf dieselbe Theorie der Usurpation, er erfolgt allerdings in einer anderen Verschlüsselung, spielt er doch auf den alljährlichen rituellen Wechsel der Götter Lono und Ku an. Der Übergang von der Makrelenfischerei zum Bonitofischen markiert das definitive Ende jener Zeremonien, die den Aufenthalt des friedlichen und schöpferischen Gottes Lono auf den Inseln feierten. Weil Lono mit dem Beginn des Winterregens eintrifft und die Fruchtbarkeit in der Natur und in den Gärten der Menschen erneuert, bietet seine Ankunft den Anlaß für einen vielgestalten langen Ritus, Makahiki (Jahr) genannt, der sich über vier Mondmonate erstreckt. Während dieses Zeitraums sind die gewöhnlichen Ku-Zeremonien einschließlich der Menschenopfer außer Vollzug gesetzt. Am Ende des Makahiki kehrt Lono jedoch in das unsichtbare Land Kahiki zurück, aus dem er gekommen war – oder in den Himmel, was dasselbe bedeutet wie Kahiki. Gemeinsam mit seinem irdischen Repräsentanten, dem regierenden Häuptling, tritt jetzt Ku wieder die Vorherrschaft an.3 Die historische Bedeutung von alledem besteht darin, daß Kapitän Cook den hawaiischen Auffassungen zufolge als eine Erscheinungsform Lonos galt, wohingegen der Häuptling Kalaniopuu, mit dem er es zu tun bekam und der dann dem Ritus gemäß seinen Tod forderte, Ku war (zum Makahiki vgl. Malo 1951; Kamakau, in: Fornander 1916–1919, Bd. 6, S. 34 ff.; Valeri 1985). Die Vorkommnisse um das Leben und den Tod des Kapitän Cook auf Hawaii waren in vielerlei Hinsicht historische Metaphern einer mythischen Wirklichkeit. Auch war Cook keineswegs die...


Marshall Sahlins, geboren 1930 in Chicago, war einer der wichtigsten Sozialanthropologen der Gegenwart und Professor für Anthropologie an der University of Chicago. Er starb im April 2021 in Chicago.



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