E-Book, Deutsch, 128 Seiten
Samida / Eggert Archäologie als Naturwissenschaft?
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-86408-223-8
Verlag: Vergangenheitsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Eine Streitschrift
E-Book, Deutsch, 128 Seiten
ISBN: 978-3-86408-223-8
Verlag: Vergangenheitsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Seit rund zwei Jahrzehnten ist eine deutliche Zunahme der Zusammenarbeit einiger archäologischer Fächer mit den Naturwissenschaften festzustellen. Dazu gehört besonders die Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie, die in dieser Streitschrift im Zentrum steht. An die Stelle des Spatens, bis vor wenigen Jahren noch traditionelles Symbol der Archäologie, sind längst moderne technische Geräte wie das Notebook getreten. Und bei der Auswertung und Deutung von Funden und Fundkontexten scheinen naturwissenschaftliche Methoden mittlerweile den 'Königsweg' zu weisen. Die Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie, so die Kernthese der Autoren, gerate immer stärker in den Bann eines positivistisch-szientistischen Paradigmas. Gleichzeitig sind in sehr seriösen und traditionsreichen deutschen Fachzeitschriften beunruhigende Tendenzen pseudoreligiöser und esoterischer Deutungen urgeschichtlicher Phänomene zu beobachten. Solche auch über Ausstellungen, populärwissenschaftliche Literatur und Medien verbreitete Thesen finden einen starken Widerhall in der Öffentlichkeit. Sie sind damit das Gegenteil verantwortungsbewusster Popularisierung von Wissenschaft. Insgesamt, so das Fazit dieses Pamphlets, befindet sich die Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie auf einem Weg, der nicht mit ihrem Selbstverständnis als vergleichend orientierte Historische Kulturwissenschaft zu vereinbaren ist.
Stefanie Samida (geb. 1973) ist Archäologin und Medienwissenschaftlerin und forscht derzeit am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam.
Autoren/Hrsg.
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Archäologie und Naturwissenschaften Alle archäologischen Einzelfächer verstehen sich also als historisch ausgerichtete Geistes- oder Kulturwissenschaften. In der konkreten Forschung liefern dabei die Naturwissenschaften wichtige, wenngleich von Fach zu Fach unterschiedliche und von der aktuellen Fragestellung abhängige Beiträge. Wir haben bereits die Erforschung der Älteren Altsteinzeit (Altpaläolithikum) angesprochen, bei der verschiedene Naturwissenschaften eine besonders wichtige Rolle spielen. Damit stellt sich die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Archäologie als Historische Kulturwissenschaft einerseits und den verschiedenen naturwissenschaftlichen Fächern andererseits. Die Zusammenarbeit von Archäologie und Naturwissenschaften hat eine lange Tradition. Sie geht bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Hier ist vor allem der dänische Archäologe Jens Jacob Asmussen Worsaae (1821–1885) zu erwähnen, dem die Entwicklung der Ur- und Frühgeschichtlichen Archäologie auf verschiedenen Feldern sehr viel verdankt.12 Worsaae wurde 1848 als frisch ernannter „Inspektor für die Erhaltung der Denkmäler des Altertums“ einer Kommission zugeteilt, in der er sich mit dem Zoologen Japetus Steenstrup (1813–1897) und dem Geologen Johann Georg Forchhammer (1794–1865) mit Fragen der Landhebung und der Veränderung des Seespiegels beschäftigen sollte.13 Dabei wurde in Mejlgård auf der Halbinsel Djursland im östlichen Jütland ein riesiger Muschelhaufen (køkkenmødding, ‚Küchenabfallhaufen‘) entdeckt, der rund 725 m lang, 20–30 m breit und etwa 1 m mächtig war. Solche Muschelhaufen waren bereits zuvor bekannt, aber nunmehr richteten die drei Forscher ihr Interesse ganz auf die zahlreichen Steingeräte und Tierknochen sowie auf die gewaltigen Mengen an Muschelschalen des køkkenmødding von Mejlgård. Ihre Zusammenarbeit erstreckte sich über mehrere Jahre – sie stellte gewissermaßen das erste interdisziplinäre Forschungsvorhaben dieser Art dar. Daraus resultierte die Einsicht, dass es sich bei diesen Muschelschalen um die Nahrungsreste steinzeitlicher Jäger und Fischer handelte. Darüber hinaus konnte Worsaae anhand der darin geborgenen Steinartefakte eine Untergliederung der Steinzeit in zwei Perioden vornehmen, der dann 1865 Sir John Lubbock (später Lord Avebury, 1834–1913) eine dritte, jüngste, hinzufügte. Lubbock prägte die Begriffe ‚Paläolithikum‘ und ‚Neolithikum‘, während die mittlere, von Worsaae herausgearbeitete Periode heute ‚Mittel-‘ oder ‚Mittlere Steinzeit‘ genannt wird. Ein solcher Rückblick in die Zeit vor mehr als 150 Jahren, als auch Dänemark noch weit von der Einrichtung einer hauptamtlichen Professor für Ur- und Frühgeschichte entfernt war, mag etwas weit hergeholt erscheinen. Aber wir müssen uns klarmachen, dass dänische Forscher vor allem seit Christian Jürgensen Thomsen (1788–1865) und dessen Erarbeitung des sogenannten ‚Dreiperiodensystems‘ – der Abfolge einer Stein-, Bronze- und Eisenzeit – eine herausragende Rolle bei der Entwicklung einer systematischen Ur- und Frühgeschichtsforschung spielten.14 Zu der auf Thomsen folgenden Generation gehörten Worsaae und andere bedeutende Archäologen wie etwa Sophus Müller (1846–1934).15 Insofern ist es bemerkenswert, dass bereits in dieser frühen Zeit einer sich mehr und mehr entfaltenden systematischen Erforschung der nationalen Ur- und Frühgeschichte eine aus heutiger Sicht interdisziplinär ausgerichtete Muschelhaufen-Untersuchung verwirklicht wurde. Wenn wir an solchen frühen Forschungsprojekten die Anfänge der Zusammenarbeit von Archäologie und Naturwissenschaften festmachen können, ist die enge Verknüpfung der archäologischen Einzelfächer mit einem je nach Fragestellung wechselnden Spektrum von Naturwissenschaften heutzutage eine Selbstverständlichkeit.16 Das beginnt bereits im Bereich der Feldarchäologie mit der geophysikalischen Ortung und Erkundung von archäologisch verdächtigen Arealen – naturwissenschaftliche Prospektionsverfahren haben in den letzten drei Jahrzehnten eine rasante Entwicklung erlebt. Naturwissenschaftliche Untersuchungen sind auch bei der Analyse ur- und frühgeschichtlicher Materialien, bei der Bestimmung, Gewinnung und Verarbeitung von Rohstoffen wie etwa Kupfer, Zinn und Eisenerz von großer Bedeutung. Die Archäobotanik – gelegentlich auch ‚Paläoethnobotanik‘ genannt – und die Archäozoologie gehören zu den tragenden Säulen der Erforschung der ur- und frühgeschichtlichen Umwelt, während die Physische Anthropologie – heute meist als ‚Paläoanthropologie‘ bezeichnet – sich der Körperlichkeit der damaligen Menschen widmet. Das noch junge Forschungsgebiet der Paläogenetik wiederum, das in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewinnt, sucht mit molekulargenetischen Methoden in der Erbsubstanz toter Organismen – konkret von Menschen und Tieren – unter anderem Hinweise auf genetische Verwandtschaft zwischen Individuen und Populationen herauszuarbeiten. Auch das biotische Geschlecht von Mensch und Tier lässt sich im Gegensatz zur osteologischen Ansprache molekulargenetisch eindeutig bestimmen. Hinzu treten biochemische Verfahren wie die Analyse stabiler Isotope, die bis zu einem gewissen Grade Auskunft über Ortsveränderungen während des Lebenszyklus der untersuchten Individuen zu geben vermag. Vermittelt diese gedrängte Aufzählung naturwissenschaftlicher Untersuchungen in der Archäologie bereits einen hinreichenden Eindruck von ihrer Bedeutung, ist doch ein ganzes Spektrum von Methoden noch nicht genannt worden. Sie fallen in den Bereich der Altersbestimmung archäologischer Phänomene. Wir beschränken uns hier auf die Erwähnung der Radiokohlenstoff- oder 14C-Methode und der Dendrochronologie. Die RadiokohlenstoffMethode deckt über die Analyse kohlenstoffhaltigen Materials den Zeitraum von rund 300 bis 50.000 vor Heute ab. Die Dendrochronologie macht sich das außerhalb der Tropen saisonal gesteuerte und in Jahrringen niederschlagende Wachstum von Bäumen zunutze. Es führt im optimalen Fall zu jahrgenauen Datierungen und reicht bis etwa 12.000 vor Heute zurück. Die Bedeutung der Naturwissenschaften für die moderne Archäologie noch mehr zu betonen, als wir es hier getan haben, hieße Eulen nach Athen zu tragen. Da dies der aktuelle Stand ist, halten manche Archäologen – und wir sprechen ausdrücklich von Ur- und Frühgeschichtlichen Archäologen – die Frage, ob ‚die‘ Archäologie denn nun als ein Fächerkomplex kultur- oder naturwissenschaftlicher Prägung anzusprechen sei, für nicht mehr zeitgemäß: für sie ist die Archäologie sowohl das eine wie das andere.17 Man könnte versucht sein, dieser Auffassung zu folgen, gäbe es nicht klare inhaltliche Gesichtspunkte, die zur Vorsicht mahnen. Dass wir in der Tat eine völlig entgegengesetzte Meinung vertreten, macht ja bereits der Titel unsere Streitschrift deutlich. Bevor wir unser Argument genügend breit entwickeln, möchten wir als eine Art ‚Binsenweisheit‘ zunächst die grundsätzliche Situation festhalten, um die es hier geht. Niemand wird vermutlich bestreiten wollen, dass alle archäologischen Einzelfächer ausnahmslos historische oder kulturhistorische Fragestellungen verfolgen. So ist auch bei der Erforschung des Altpaläolithikums nicht die Analyse der physischen Beschaffenheit der damaligen Früh- oder Altmenschen von zentralem Interesse – wobei deren Bedeutung im Zusammenhang der stammesgeschichtlichen Entwicklung keineswegs negiert wird –, sondern die ihres Kulturverhaltens und seines materiellen Niederschlags. Mit anderen Worten, wie groß der Beitrag bestimmter Naturwissenschaften für die Lösung solcher Probleme auch sein mag, die ‚Sinnstiftung‘ erfolgt in jedem Fall durch die von der Archäologie vorgegebene kulturhistorische Fragestellung.18 Beschäftigt man sich mit der Thematik ‚Archäologie und Naturwissenschaften‘, wird einem schnell die besondere Art und Weise klar, wie sich die Wissenschaften, die im Rahmen einer vorgegebenen Fragestellung zusammenarbeiten, gegenseitig wahrnehmen. Auch heute ist es gelegentlich noch üblich, jene Wissenschaft, die zu den Erkenntnissen des eigenen Faches etwas beizutragen vermag, zwar als durchaus nützlich, aber eben doch – zumindest insgeheim – als letztlich ungleichwertig zu betrachten. Wir urteilen hier aus der Sicht der Ur- und Frühgeschichtsforschung, in der dieses Bild von der naturwissenschaftlichen ‚Hilfswissenschaft‘ eine lange Tradition hat.19 Wir haben Grund zu der Annahme, dass dies in einigen anderen Einzelarchäologien sogar ausgeprägter ist. Man muss allerdings einräumen, dass die Bedingungen, unter denen solche Kooperationen meist konkret stattfanden, vor allem in der Vergangenheit auch in unserem Fach nur allzu häufig dieses Verständnis förderten. Wir werden später darauf zurückkommen haben, ob und gegebenenfalls inwieweit sich dies heutzutage geändert hat. Der Grund für die umrissene gegenseitige Wahrnehmung von Archäologie und Naturwissenschaft hängt durchaus nicht nur mit einer Überschätzung der eigenen Bedeutung zusammen. Auch das mag zwar dazu beigetragen haben, aber aus Sicht der Archäologie beruht der den Naturwissenschaften informell zugewiesene nachrangige Status auf dem Charakter der sogenannten ‚Zusammenarbeit‘: Die Naturwissenschaften haben nur vereinzelt mehr als lediglich ‚Hilfsdienste‘ für archäologische Fragestellungen geleistet – zu wirklichen Kooperationen kam es selten. Diese Tatsache lässt sich mit ungezählten archäologischen Veröffentlichungen belegen, an denen zwar Naturwissenschaftler beteiligt waren, ohne dass es dabei jedoch zu einer Synthese der erzielten archäologischen und naturwissenschaftlichen Resultate gekommen...