Saner | Gehen müssen, bleiben können. Infrastrukturen der Migration | Buch | 978-3-85592-197-3 | sack.de

Buch, Deutsch, Band 9, 264 Seiten

Reihe: Almanach Entwicklungspolitik

Saner

Gehen müssen, bleiben können. Infrastrukturen der Migration

Almanach Entwicklungspolitik 2024, Caritas Schweiz
Erscheinungsjahr 2023
ISBN: 978-3-85592-197-3
Verlag: Caritas-Verlag

Almanach Entwicklungspolitik 2024, Caritas Schweiz

Buch, Deutsch, Band 9, 264 Seiten

Reihe: Almanach Entwicklungspolitik

ISBN: 978-3-85592-197-3
Verlag: Caritas-Verlag


Aufbrüche, Gefahren – und der Alltag vieler Menschen: Migration ist selten ein einsamer

Entscheid für ein besseres Leben, sondern wird von Familien und Verwandtschaften

mitbestimmt. Er ist von sozialen und technischen Netzwerken, funktionierenden Smartphones

und verschiedenen Dienstleistern abhängig. Gleichzeitig sind Migrantinnen und

Migranten von Bürokratien, fehlendem Menschenrechtsschutz oder ausbeuterischen

sozialen und wirtschaftlichen Strukturen bedroht. Der «Almanach Entwicklungspolitik

2024» von Caritas Schweiz untersucht die Infrastrukturen der globalen Migration in

18 Beiträgen: von Venezuela bis in den Niger und die Republik Moldau, von Klimarisiken

bis zu Diaspora-Netzwerken und Kleinunternehmerinnen dies- und jenseits nationaler

Grenzen. Dabei wird klar: Soll die Internationale Zusammenarbeit Wirkung erzielen, muss

sie nicht nur von den Bedürfnissen, sondern auch von den Strategien und Interessen der

Migrierenden ausgehen – und sich vor allem für deren Menschenrechte einsetzen.

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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Entwicklungspolitische Trends
Angela Lindt, Michael Egli
Widersprüchlichkeit und fehlende Kohärenz in der Schweizer Migrationsaussenpolitik

I. Teil Realitäten und Debatten der globalen Migration

Susan Thieme
Migrationsinfrastrukturen und
Mobilitätsungerechtigkeit

Judith Kopp
Kontroverse Fluchtursachenbekämpfung

Sarah Estermann, Verena Donislreiter
Existiert ein Automatismus zwischen
Klimawandel und Migration?

Marion Panizzon
Der UNO-Migrationspakt: Von der Architektur
zur Infrastruktur für die internationale Migration

Kiri Olivia Santer
Eine Infrastruktur der Abschreckung

Djédou Martin Amalaman
Migration in Westafrika: Traditionen, Krisen
und Akteure

Jochen Oltmer
Was alles «Flucht» sein kann


2. Teil Infrastrukturen, die ermächtigen: Zivilgesellschaft
und internationale Zusammenarbeit

Sandra Boulos
«Money matters» – innovative Finanzprodukte
helfen Migrierenden bei der Unterstützung
ihrer Heimat

Gerhard Schaumberger, Luiza Sekiraqa
Die Diaspora – Potenzial für wirtschaftliche
Entwicklung des Kosovo

Lucia Messer
Die Solidarität der ersten Stunde schwindet,
der schwierige Alltag beginnt –
der Ukraine-Krieg in zwei Nachbarländern

Yvonne Riaño
Kleinunternehmer im Grenzgebiet –
ein Beitrag zur lokalen Entwicklung?

Moctar Dan Yayé, Hans-Georg Eberl
Mobilität im Sahel und in der Sahara –
und die europäische Grenzpolitik

Meron Zeleke
Äthiopische Frauen auf Arbeitssuche am Golf

Karin Wenger
Myanmar: Die Smartphone-Revolution

Ibrahim Soysüren, Mihaela Nedelcu
Digitale Technologien: Unerlässlich
fürs Überleben

Martin Arnold
Wenn Kinder auf der Flucht zu früh erwachsen
werden

III. Teil Synthese aus der Sicht von Caritas Schweiz
Franziska Koller
Und wenn sich eine Milliarde Menschen auf den Weg machen würde?


Infrastrukturen der Migration – was theoretisch klingt, ist Voraussetzung, Treiber und Hindernis globaler Mobilität in der vernetzten und verdichteten Welt. Migration ist fast nie ein einsamer, monokausaler Entscheid „für ein besseres Leben“, sondern wird von Familien und Verwandtschaften mitbestimmt und ist von sozialen und technischen Netzwerken, funktionierenden Smartphones und verschiedenen Dienstleistern abhängig. Gleichzeitig sind Migrantinnen und Migranten von Bürokratien, fehlendem Menschenrechtsschutz oder ausbeuterischen sozialen und wirtschaftlichen Strukturen bedroht.
Migration ist vielfach nicht der Entscheid, von A nach B zu reisen und alles dafür zu tun, um dies möglich zu machen, sondern von Risiken und Chancen geprägt, die bereits in Herkunfts-, danach in Transit- und Zielländern warten. Migration findet inmitten des je lokalen Alltags statt, auch wenn sie oft, aber nicht immer und nicht ausschliesslich, durch Zwang und Not ausgelöst wird. Denn Aufbrechen wollen, reisen, ist auch eine zutiefst menschliche Regung, die nicht nur dem kleinsten Teil der Menschheit vorbehalten sein sollte, der den richtigen Pass besitzt.

Vision einer kohärenten Entwicklungspolitik
Mit Infrastrukturen gemeint sind physische und geschaffene Hindernisse ebenso wie Institutionen, Geldströme, wirtschaftlich integrierte Räume, das (internationale) Recht, multilaterale Organisationen und die Internationale Zusammenarbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen. Auch Debatten und Diskurse sowie die Geschichte transnationaler Räume, die von Migrantinnen und Migranten geprägt sind und in Gemeinschaften gelebt werden, strukturieren aktuelle Migrationsverläufe. Sie werden von politischen, rechtlichen und polizeilich-militärischen Rahmenbedingungen beeinflusst. Die realen Verhältnisse vor Ort („localisation“) sind der geteilte Ansatz der Beiträge in diesem Buch; er entspricht der guten Praxis reflektierter Internationaler Zusammenarbeit der letzten Jahrzehnte.
Konkret gefragt: Welche politischen, wirtschaftlichen, sozialen, digitalen und humanitären Infrastrukturen schliessen heute Migrantinnen und Migranten ein und aus? Welche ermöglichen „eine geordnete, sichere, reguläre und verantwortungsvolle Migration und Mobilität von Menschen, unter anderem durch die Anwendung einer planvollen und gut gesteuerten Migrationspolitik“, wie sie im Rahmenwerk der Entwicklungsziele der UNO-„Agenda 2030“ festgeschrieben sind? Wie weit ist dieses Ziel aktuell von den Realitäten der Migration entfernt? Die Beiträge in diesem Sammelband ersetzen keineswegs die Vision einer kohärenten Entwicklungspolitik, auch wenn diese im Einzelnen hinter den Ansätzen einer engagierten Internationalen Zusammenarbeit teilweise zurücktreten mag.
Strukturelle Armut und Ungleichheit, ebenso wie menschliche Chancen, Hoffnungen und Potenziale bilden sich in Migrationsverläufen ab. Infrastrukturen in politischen Prozessen zu verändern ist damit das Gebot der Stunde, um menschliches Leid zu mindern. Deren Funktionieren zu kennen, um real an kurz-, mittel- und langfristigen Verbesserungen zu arbeiten, ist der Alltag der Internationalen Zusammenarbeit. Sisyphusarbeit ist diese nur auf den ersten Blick, wirkt sie doch an konkreten und resilienteren Strukturen sowie an der Ermächtigung von Personen und sozialen Gemeinschaften. Auf Augenhöhe ist diese Kooperation dann, wenn sie kritisch reflektiert wird und die machtpolitisch ungleichen Rahmenbedingungen nicht ausser Acht lässt. Sie muss sich an konkreten Messgrössen (z.B. der Armutsreduktion) orientieren, ohne diese zu verabsolutieren.

Caritas Schweiz hat sich deshalb entschieden, im aktuellen Almanach Entwicklungspolitik den Fokus auf konkrete Infrastrukturen und Räume der Migration zu richten, wo Probleme und Versagen, aber auch Lösungen, Engagement und Hoffnung sichtbar werden. Die Entwicklungsperspektiven durch Migration zu stärken ist eine besondere Herausforderung für ein transnationales Hilfswerk. In permanent instabilen Gesellschaften (ob durch Krieg oder Verlust der natürlichen Lebensgrundlagen infolge der Klimaerhitzung) ist gerade diese mittel- und langfristig ausgerichtete Arbeit zur Stärkung von Gemeinschaften akut gefährdet. Wo soziale Fragilität vorherrscht, wird kurzfristige Nothilfe zum dauerhaften Instrument. Die praktische Umsetzung einer Vision für eine gerechtere Welt schwindet. Mit einem analytischen Fokus auf die Infrastrukturen, innerhalb derer die globale Migration, besonders auch die zahlenmässig dominierende Süd-Süd-Migration, stattfindet, lässt sich aller Machtungleichgewichte zum Trotz im Hier und Jetzt ansetzen. Die historisch aus den postkolonialen Verhältnissen entstandenen und machtpolitisch verstetigten Ungleichheiten („We are here because you were there“) lassen sich nur konkret bekämpfen, wie die Praktikerinnen und Praktiker der Internationalen Zusammenarbeit wissen.
Eine kohärente Politik ist letzten Endes einzig eine Politik, die sich nicht von der (politisch zu verwirklichenden) Vision von sozialer Gerechtigkeit und individueller Freiheit abwendet. Dieses Spannungsfeld trägt Entwicklungspolitik nicht zuletzt in ihrem Namen aus. Einerseits historisch, da sich jetzt die Folgen einer auf 200 Jahre fossilem Kapitalismus basierenden Lebensweise katastrophal zu zeigen beginnen. Andererseits im weiterhin begründeten postkolonialen Verdacht, der auf dem Wort „Entwicklung“ lastet.

Stärkung der Handlungsmacht
Zum einen gehen die Beiträge des Buchs von der Realität selektiver und globaler Mobilität in Zeiten grosser, durch die multiplen Krisen von Krieg und Klimawandel verstärkten Ungleichheit aus. Zum anderen schärfen sie den Blick für die offenkundig vielschichtigen Ursachen und Folgen von Migration in jeweils konkreten sozialen und räumlichen Gegebenheiten. Regionale Migrationsphänomene und -verläufe werden analysiert und konkrete Modelle und Lösungsansätze der Internationalen Zusammenarbeit aufgezeigt. Das verbindende Element liegt auf der strukturellen Stärkung der Handlungsmacht der Migrantinnen und Migranten und ihrer Gemeinschaften selbst. Die aus Arbeitsmigration entstehenden Geldströme sind in vielen Ländern, wo ein Sozialstaat fehlt, das zentrale Element privater sozialer (Überlebens-)Sicherung. Sandra Boulos von der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) zeigt auf, wie Handlungsfähigkeit und finanzielle Resilienz (besonders von Frauen) durch bessere Instrumente bei transnationalen Finanzdienstleistungen erweitert wird.
Arbeitsmigration über Generationen und Länder hinweg hat Diaspora-Gemeinschaften entstehen lassen, deren wirtschaftliches und entwicklungsförderndes Potenzial für die Heimatländer entdeckt wird. Gerhard Schaumberger und Luiza Seqiraka von Caritas Schweiz illustrieren in ihrem Beitrag, welche Chancen sich für Ausbildung und wirtschaftliche Entfaltung in einem transnationalen Raum zwischen Kosovo und den deutschsprachigen Ländern mit ihren kosovostämmigen Gemeinschaften bietet. Hier können Hilfswerke wie Caritas Schweiz zur Vertrauensbildung zwischen Diaspora und Betrieben vor Ort beitragen und damit den Aufbau wirtschaftlicher Strukturen in kommunalen Strukturen sinnvoll und unter klaren Rahmenbedingungen unterstützen.

Andere (oft brutale) Realitäten der Migration verdichten sich besonders ambivalent in den Grenzzonen zwischen Nationalstaaten: Ein kleiner Teil der Menschheit profitiert von beinahe absoluter Reisefreiheit und bequemer Zugänglichkeit, abgesichert durch juridische Infrastrukturen. Viele Migrantinnen und Migranten werden hingegen in diesen Zwischenzonen abgewiesen oder ausgesetzt. Sie erfahren Gewalt und sterben, weil sie keinen oder nicht den richtigen Pass haben – besonders auch vor unserer Haustür im Mittelmeer, seit vielen Jahren einer der tödlichsten Grenzen weltweit. Kiri Santer untersucht den Diskurs um Infrastrukturen der Abschreckung und Grenzauslagerung durch die europäische Grenzschutzagentur Frontex im Mittelmeerraum und in Tunesien. Moctar Dan Yaye und Hans-Georg Eberl vom zivilgesellschaftlichen Netzwerk Alarmphone Sahara beleuchten die (Transit-)Migration im Sahel und beispielhaft das zivilgesellschaftliche anwaltschaftliche Engagement für eine gerechtere Migrationspolitik in Niger. Martin Alamalan erinnert an die multilateral verankerte Visafreiheit innerhalb der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft Ecowas und die historisch gewachsenen Realitäten der regionalen Arbeitsmigration zwischen den dortigen Ländern.
In diesen Beiträgen wird deutlich, dass das europäische Grenzregime nicht nur weit in andere Länder und auf andere Kontinente ausstrahlt, sondern dass das Dogma der Migrationsabwehr in europäischen Grenzräumen auch zunehmend informelle, ja illegale staatliche Praktiken befördert (gewaltsame Pushbacks von Geflüchteten, denen damit das Recht auf eine individuelle Prüfung ihres Asylantrags verwehrt wird). „Abschreckung, Abschottung und Abschiebung“ bestimmen weiterhin auch den europäischen Asylfahrplan, dem die Schweiz angehängt ist: Schnellverfahren unter Haftbedingungen sollen, wird die jüngste EU-Asylreform umgesetzt, zum Normalfall für irregulär Einreisende an den europäischen Aussengrenzen werden, um scheinbar effizient anerkennbare von nichtanerkannten Fluchtgründen zu selektionieren. Verfahrensgarantien, Unterbringungsstandards und individueller Rechtsschutz drohen dadurch weiter zu erodieren.

Konkrete Infrastrukturen und politische Rahmenbedingungen
Ein Grossteil der Migration verläuft nicht in Nord-Süd-Richtung, sondern in ebenso historisch begründeten, durch wirtschaftliche, sprachlich-kulturelle oder religiöse Nähe geprägten „Süd-Süd“-Migrationskorridoren. Susan Thiemes einführender Buchbeitrag zeigt das Beispiel Nepals und Indiens auf und verweist – bei aller Kritik am Ausnutzen prekärer Migration – auch auf das Funktionieren von Infrastrukturen wie den Agenturen für Arbeits- oder Bildungsmigration. Yvonne Riaño untersucht die katastrophale Versorgungslage kolumbianischer Rückkehrer aus Venezuela, die sich angesichts der Corona-Pandemie und der politisch bedingten Wirtschaftskrise noch verstärkt. Meron Zeleke bringt die Arbeitsmigration äthiopischer Frauen in die arabischen Golfstaaten näher. So werden hierzulande meist vernachlässigte Migrationsphänomene und -korridore des globalen Südens konkret nachvollziehbar. Sie sind vielfach von Verletzlichkeit, gefährlichen Transitrouten, Gewalt, Illegalisierung und Ausbeutung geprägt – ebenso aber auch von (selektiver) persönlicher Ermächtigung innerhalb eines rigiden traditionsgebundenen sozialen Umfelds. Und sie zeigen nicht zuletzt die Ausbeutung von Arbeitskraft in vergeschlechtlichter Form als globales Phänomen der Care-Migration, das längst nicht nur im demografisch überalterten Westeuropa vorherrscht.
Eine Komponente der Migrationsinfrastruktur versinnbildlicht die Gleichzeitigkeit von Kontrolle und Ermächtigung, Überwachung und Bekämpfung migrantischer Ziele und Wünsche, migrantischer Bewegungen und Stillstands: Das Smartphone. Während die internationalen Institutionen und Staaten Daten aus den sozialen Medien für das bessere Verständnis der Steuerung von Migrationsflüssen auswerten, tauschen Migrationswillige und Menschen auf der Reise ihr Wissen in sozialen Netzwerken, holen sich Hilfe in der neuen Umgebung, finden Arbeits-, Bildungs- und Unterstützungsangebote oder setzen Notrufe via Satellitentelefon ab, um zu überleben.
In Ländern wie Myanmar, wo „Facebook das Internet ist“, veränderte die digitale Mobilität eine geschlossene Gesellschaft in Windeseile. Es wurde ebenso zur Waffe für Demokratie-Aktivisten wie zur Plattform, die angesichts der undurchsichtigen Algorithmen des Internetkonzerns den Hass auf eine ethnisch-religiöse Minderheit verstärkte. Die Journalistin Karin Wenger beschreibt plastisch die Folgen dieser digitalen Mobilität der Burmesinnen und Burmesen mit 130‘000 Internetnutzern im Jahr 2010 und 30 Millionen Facebook-Kontoinhaberinnen sechs Jahre später, als die Rohingya nach Bangladesh vertrieben wurden.
Fast so wichtig wie Nahrung und Wasser ist das „digitale Schweizer Taschenmesser“ namens Smartphone auch für Migrantinnen und Migranten aus Subsahara-Afrika im Transitland Türkei und im Zielland Schweiz, wie Ibrahim Soysüren und Mihaela Nedelcu in ihrem Beitrag darlegen. Er beruht auf Befragungen zum Gebrauch von Social Media und Messengerdiensten während verschiedenen Phasen von Migrationsverläufen.

Konkrete Migrationsinfrastrukturen und -korridore sowie Angebote und Praktiken der Internationalen Zusammenarbeit leiten sich aus politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen ab, innerhalb derer um die globalen Machtverhältnisse gerungen wird. Ungleichheiten, Interessengegensätze, aber auch Ansätze globaler Zusammenarbeit jenseits der derzeit deutlichen Rückkehr der geopolitischen Machtblöcke zeigen sich exemplarisch und besonders interessant beim UNO-Migrationspakt, der ab 2016 initiiert wurde. Marion Panizzons Analyse des Pakts zeigt, welche Dynamik in der (internationalen) Migrationspolitik herrscht. Diese Dynamik kommt daher, dass die Migrationspolitik tiefgreifend in nationalstaatliche Politikdomänen, besonders die Sozialpolitik, hineinwirkt und letztlich an den Kern nationaler Selbstverständnisse rührt – an die Frage, wer dazu gehört. Die Migrationsabkommen, ein Kernelement der Schweizer Migrationsaussenpolitik der letzten 20 Jahre, sind ein Teil der institutionellen Vorgeschichte des UNO-Migrationspakts. Dabei bildete die hierzulande tief verankerte Idee, wonach die Schweiz eine Plattform zur Förderung der internationalen Zusammenarbeit sei, immer auch die Vorlage für die bilaterale Zusammenarbeit zur Wahrung migrationspolitischer Interessen der Schweiz als wichtigem Zielraum für Geflüchtete, die nach Westeuropa kommen wollen.
Wie sich die Widersprüche der Schweizer Migrationsaussenpolitik zwischen humanitärem Selbstbild und einer effizienten Interessenspolitik mit menschenrechtlich problematischen Auswirkungen kristallisieren, analysiert der Beitrag der Fachstellen Entwicklungspolitik und Migrationspolitik von Caritas Schweiz, Angela Lindt und Michael Egli: „Der humanitäre Anspruch, all jenen Schutz zu bieten, die darauf angewiesen sind, widerspricht der politischen Forderung, die ,illegalen‘ Fluchtwege zu unterbinden und abzuschieben, wer die eng gefassten Bedingungen des schweizerischen Asylgesetzes nicht erfüllt. Die Abschaffung des Botschaftsasyls und die unzureichende Umsetzung der Vergabe humanitärer Visa, etwa an Afghaninnen und Afghanen nach der Machtübernahme der Taliban 2021, machen diesen Umstand besonders deutlich.“ Das Ziel müsse hingegen sein, weltweit sichere und menschenwürdige Rahmenbedingungen für Migrantinnen sowie sichere Fluchtwege für Zwangsvertriebene zu etablieren. Gerade hier ist der Bundesrat stärker in der Pflicht und sollte etwa die Sistierung des Resettlement-Programms überdenken: so konnten bis Ende 2022 immerhin jährlich rund 800 sehr verletzliche Personen auf sicherem Weg in unser Land einreisen, um ihren Asylantrag prüfen zu lassen.
Analysen zum Fluchtursachendiskurs, d.h. zur Bekämpfung der Fluchtursachen, wurden nach dem sogenannten „Sommer der Migration“ 2015 in den deutschsprachigen Ländern zur geteilten Chiffre vieler Migrationsdebatten. Judith Kopp analysiert, woher dieser Diskurs kommt und welche Folgen er hatte und hat. Der Historiker Jochen Oltmer deutet auf das Potenzial einer verknüpfenden Betrachtung von Gewaltforschung und Migrationsforschung; die beiden Beiträge ergänzen gesellschaftliche und akademische Debattenperspektiven rund um Infrastrukturen der Migration.
Flutkatastrophen und Dürren lassen heute bereits erahnen, was es bedeutet, wenn Millionen von Menschen wegen der Klimakatastrophe ihre Heimat verlassen müssen. Das Ausmass dieser erzwungenen Migrationsbewegungen wird durch die Instabilität in vielen Weltregionen verstärkt. Zwei Aufsätze von Caritas Schweiz loten den Zusammenhang von Klimawandel und Migration aus und richten die Perspektive auf diese riesige Herausforderung der Gegenwart und der nächsten Jahrzehnte: Das Erreichen der Klimaneutralität und die Vision der Klimagerechtigkeit. Die Klimakrise bedingt angepasste technische und soziale Infrastrukturen und wird diese zugleich auf eine harte Probe stellen. Politisch wird die längst angezeigte sozialökologische Transformation viel zu oft und wohlfeil an die Entwicklungspolitik und die Internationale Zusammenarbeit delegiert, wo doch insbesondere die Gesellschaften und Politik des globalen Nordens gefordert wären. Gleichzeitig ist die Internationale Zusammenarbeit seit langem mit den Folgen des Klimawandels in Projekten der Armutsbekämpfung und Erhaltung bäuerlicher Lebensgrundlagen konfrontiert und hat dementsprechend bereits ein grosses Know-how aufgebaut.
Sarah Estermann und Verena Donislreiter stellen den methodischen Ansatz vor, den Caritas Schweiz in einem Projekt in Uganda verfolgt. Die Autorinnen unterstreichen anhand der Analyse der Migrationsbewegungen zwischen Südsudan und Uganda aber auch: Zwischen Klimawandel und Migration ist kein Automatismus ersichtlich. Die Folgen des Klimawandels wirken sich auf Migration aus, indem sie die verschiedenen Migrationsursachen, einschliesslich wirtschaftlicher, sozialer und politischer Faktoren beeinflussen und die Verletzlichkeit der Menschen verstärken können. Die Darstellung des Klimawandels als direkte Ursache für insbesondere grenzüberschreitende Migration birgt die Gefahr, dass die komplexe Realität von klimabedingter Migration verschleiert wird und zu unwirksamen Massnahmen sowie zur Instrumentalisierung für eine restriktive Grenz- und Migrationspolitik führt.

Keine Milchbüchleinrechnung
Diese einseitige Instrumentalisierung gilt es zu bekämpfen. Solidarisch Verantwortung zu übernehmen ist keine Milchbüchleinrechnung, in der «Fluchtursachenbekämpfung» und «Grenzschutz zur Steuerung der Migration» automatisch zu einer Win-Win-Situation für Herkunfts- und Zielländer führen. So argumentiert ergibt sich das populistische Zerrbild einer einfachen Lösung, hinter dem eine richtige Entwicklungspolitik – die die globale Ungleichheit bekämpft und Klimagerechtigkeit einfordert – ebenso delegitimiert wird wie eine reflektierte Internationale Zusammenarbeit, die von Anspruchsgruppen und Kooperationen in Wissen und Praxis ausgeht. Dieses Zerrbild negiert nebst vielem anderem auch die Realität, dass es seit eh und je die ärmsten Länder sind, die die allermeisten Zwangsmigrierten beherbergen. Der Blick auf Infrastrukturen vergegenwärtigt hingegen die Realitäten der Migration so, wie sie sich unter den herrschenden Verhältnissen globaler Ungleichheit eben auch unterschiedlich äussern – im globalen Süden, in den sogenannten Transitländern oder auch der Art und Weise, wie in Europa Internationale Zusammenarbeit und Migrationspolitik verschränkt werden.
Dagegen gilt es sich zu vergegenwärtigen, was Franziska Koller, Leiterin Internationale Zusammenarbeit von Caritas Schweiz, in ihrer Synthese festhält: «Die Klimamigration ist uns heute bekannt, wir stehen mittendrin. Bereits heute verschärft die Klimakatastrophe nicht nur bestehende humanitäre Krisen, sie bringt auch ständig neue hervor. Trotzdem sind die Dimensionen, welche die Klimaflucht annehmen wird, schwer vorstellbar. Wir können uns kaum an den Gedanken gewöhnen, dass ganze Länder überspült werden und dass Hunderte von Millionen Menschen kleiner Inselstaaten und tiefliegender Küstengebiete in die Flucht getrieben werden.»
Das schwer Vorstellbare trifft ein, und es mobilisiert sofort auch Gegenkräfte und Hoffnung – oder ist es vor allem auch die Vorstellungskraft fürs Unrecht, die als Voraussetzung für Solidarität nötig ist? An letzteres erinnert der Alarmphone-Aktivist Malek Ossi aus Zürich, der als Geflüchteter aus Syrien 2014 selbst auf der sogenannten «Balkanroute» zahlreiche Grenzen überquerte: «Was uns damals Hoffnung gab, war die Unterstützung aus der Zivilgesellschaft.» In den letzten beiden Jahren hat der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine in Westeuropa wiederum Kräfte der Solidarität freigesetzt, und dies wegen einer grossen Zahl geflüchteter Menschen. An diese Solidarität gilt es nicht nur zu appellieren, sie gilt es mit aller Kraft, Ressourcen, Intelligenz und Improvisationsfreudigkeit zu befördern und zu erweitern.

Die zunehmende Zahl gewaltsam Vertriebener wird in den nächsten Jahren auf rund 100 Millionen Menschen anwachsen. Dies ist das Abbild sich überlagernder, verstetigender Krisen. Vergessen wir angesichts dieser düsteren Prognosen und bei aller Tagesaktualität aber auch nicht, wie stark seit jeher Migrantinnen und Migranten soziale und technische Infrastrukturen mitgeprägt haben: Keine grössere Stadt, überhaupt kein grösserer sozialer Zusammenhang wäre ohne den Beitrag von Migrantinnen und Migranten entstanden – von den wirtschaftlichen und sozialen Leistungen, die Migrantinnen und Migranten global erbringen, ganz zu schweigen:

Fabian Saner, Herausgeber Almanach Entwicklungspolitik


Saner, Fabian
Dr. phil., Historiker



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