E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Sarginson Zertrennlich
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7320-0227-6
Verlag: script5
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
ISBN: 978-3-7320-0227-6
Verlag: script5
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine bewegende und fesselnde Reise zu den dunklen Geheimnissen einer Kindheit, die aus einem unzertrennlichen Ganzen zwei Schwestern machte, die einander wie Fremde erscheinen. Ein flirrender Sommer an Englands Ostküste. Die Zwillingsschwestern Viola und Isolte sind durch duftende Kiefernwälder gestreift, haben auf nebelüberfluteten Lichtungen längst vergessene Sagengestalten beschworen und den scharfen, salzigen Wind des Meeres geatmet. Doch nun, fünfzehn Jahre später, scheinen die beiden nichts mehr gemein zu haben. Während Isolte sich mit verzweifelter Lebensfreude der Welt entgegenwirft, hungert Viola sich in den sicheren Tod. Während eine der Schwestern sich verbissen an ihre Ziele und Pläne klammert, wünscht die andere nichts sehnlicher, als sich aufzulösen und ihrer Vergangenheit zu entkommen. Welcher unaussprechliche Schrecken ist geschehen in jenem Sommer, als alles möglich schien und der das Erwachsenwerden zweier Zwillingsschwestern so unerbittlich bestimmt? In ihrem hochgelobten Debüt schafft Saskia Sarginson eine bewegende Liebesgeschichte und einen Spannungsroman, dessen Geschichte mitreißt und dessen Atmosphäre lange nachklingt.
Genau wie ihre Protagonistinnen wuchs Saskia Sarginson mitten im Wald in Suffolk auf. Heute lebt sie in London und hat vier Kinder, darunter ein eineiiges Zwillingspaar. Bevor sie freiberufliche Autorin wurde, arbeitete sie als Lektorin, Journalistin, Ghostwriterin und Gutachterin für Drehbücher. Zertrennlich ist ihr erster Roman.
Weitere Infos & Material
1 Wir sind nicht immer Zwillinge gewesen. Früher waren wir ein einziger Mensch. Unsere Zeugung verlief ganz gewöhnlich, wie man es in der Biologiestunde lernt. Ihr kennt das ja: Ein besonders sportliches Spermium trifft auf ein Ei und schon bildet sich neues Leben. Da waren wir also, ein einzelnes, stinknormales Baby. Nun aber kommt der außergewöhnliche Teil der Geschichte, denn dieses eine Ei hat sich geteilt, ist mittendurch in zwei Hälften gerissen und aus uns wurden zwei Babys. Zwei Hälften eines Ganzen. Komisch, aber wahr – am Anfang waren wir ein einziger Mensch, wenn auch nur eine Millisekunde lang. Mummy sagte immer, Zwillinge seien das Letzte gewesen, was sie erwartet habe, obwohl ihr klar gewesen sei, dass es einen Grund dafür geben musste, warum sie bereits im vierten Schwangerschaftsmonat durch keine Tür mehr passte, geschweige denn ihre Jeans zubekam. Mummy war wunderschön. Das fanden alle. Sie sah aus wie eine Eiskönigin aus dem Märchenbuch. Eine Königin in Flipflops und troddelbesetzten indianischen Röcken und mit nikotingelben Fingern. Wer unser Vater war, wollte sie uns nicht verraten. Nicht, dass es wirklich wichtig gewesen wäre. Aber wir fanden es aufregend, Vermutungen darüber anzustellen, wer er wohl sein könnte, als wären wir dadurch in der Lage, die Geschichte unserer Geburt selbst zu bestimmen. Es gibt einen griechischen Mythos, laut dem eine Frau, wenn sie am selben Tag mit einem Gott und einem Sterblichen schläft, zwei Kinder bekommt: von jedem Vater eines. So verdorben war jedoch selbst unsere Mutter nicht. Aber wenn wir mal wieder über den Fliederbaum bis aufs Dach des Schuppens geklettert waren, uns dort einen Apfel teilten und über mögliche Väter diskutierten, war die Vorstellung von einem Gott schon ziemlich befriedigend. Die offensichtlichste Option war ein Gott der Rockmusik. Unsere Mutter war geradezu besessen von The Doors. Oft betrachtete sie seufzend Jim Morrisons Foto auf der Plattenhülle. Das Einzige, was wir über unseren Dad wussten, war, dass unsere Mutter ihn auf einem Festival in Kalifornien kennengelernt hatte. Bingo. Es musste Morrison sein. Auf jeden Fall wollten wir keinen der gruseligen, abgedrehten Typen zum Vater haben, mit denen wir in der Kommune in Wales gelebt hatten. Den Langen Luke zum Beispiel oder Eric, der so müffelte. Von denen hatte Mummy doch keinen geliebt. Einmal schrieben wir Mr Morrison heimlich einen Brief, unterzeichnet mit Viola und Isolte Love. Eine Antwort haben wir nie bekommen. Am dritten Juli 1971 wurde Jim Morrison tot in seiner Badewanne in Paris aufgefunden. Die Ursache: Herzversagen, vermutlich aufgrund von schwerem Alkoholismus. Er hatte kein Rockmusik-Gott mehr sein wollen, sondern Dichter, und nur noch darauf gewartet, dass sein Plattenvertrag auslief. Als wir an dem Tag, als die Nachricht bekannt wurde, aus der Schule nach Hause kamen, fanden wir unsere Mutter vor, wie sie wieder und wieder Hello, I love you hörte und in ihr Rotweinglas schluchzte. Auch wir weinten oben in unserem Kinderzimmer, heulten lauthals in die Kissen. Zuerst war es lediglich gespielt, aber dann wurde daraus echte Verzweiflung. Kennt ihr das? Wie sich manchmal, wenn man richtig heftig lacht, plötzlich eine Art emotionaler Schalter umlegt und man anfängt zu weinen? So ungefähr war das. Nur dass es diesmal eben vorgetäuschtes Weinen war, das sich in echtes verwandelte, und mit einem Mal versanken wir in Tränen, japsten zittrig nach Luft und rieben uns den Rotz von den Wangen. Und dabei hatten wir keine Ahnung, weshalb wir überhaupt so schluchzten. Später, als Mummy wieder nüchtern war und wir alle hicksend durch geschwollene Augenlider blinzelten, erklärte sie uns, dass Jim Morrison definitiv nicht unser Vater gewesen war. »Ihr Dummerchen«, seufzte sie wehmütig. »Wie kommt ihr denn auf so was?« Auch danach versuchten wir noch einige Male herauszufinden, wer unser Vater war. Aber damit verärgerten wir Mummy nur. Sie zuckte mit den Schultern, drehte sich langsam eine Zigarette und blies Rauchringe in die Luft, enttäuscht über unsere stumpfsinnigen Fragen. »Ich habe eine neue Dynastie gegründet«, verkündete sie. »Ich will, dass ihr euch eure Zukunft selbst aufbaut. Ihr braucht keine Vergangenheit.« Wir wussten, dass sie unsere Sehnsucht nach einem Vater für kleinlich und spießig hielt. Und das war das Schlimmste, was man auf der Welt sein konnte. Im Frühjahr 1972 kam Mummy angesichts des Bergarbeiterstreiks und der Drei-Tage-Woche zu dem Schluss, das ganze Land gehe vor die Hunde. Ted Heath sei ein konservativer Idiot und wir müssten auf das Schlimmste vorbereitet sein. Selbstversorger werden. Also riss sie im Garten die mickrigen Blumen aus, pflanzte stattdessen Gemüse an und kaufte außerdem zwei Ziegen, Tess und Bathsheba. Eine war braun, die andere schwarz, und beide hatten zuckende Stummelschwänze und gespaltene Hufe wie der Teufel. Wir bemühten uns wirklich, sie ins Herz zu schließen, aber sie taten den ganzen Tag nichts anderes als kauen. Unablässig mahlten ihre langen Zähne aufeinander. Selbst wenn wir uns vor sie auf den Boden kauerten und ihnen die Ohren kraulten, kauten sie weiter und starrten mit ihren Glubschaugen geradewegs durch uns hindurch. Oft rissen sie sich los und trampelten durch den Gemüsegarten, wo sie die Pflanzen mitsamt den Wurzeln ausrissen. Dann brachte Mummy morgens Stunden damit zu, mit grimmigem Blick schlappe Brokkolis und Möhren von Neuem einzupflanzen, bevor sie sich, den Kopf an die Ziegenflanke gelehnt, auf einen Hocker setzte und den beiden unter Fluchen über ihre Zappelei ein dünnes Rinnsal Milch abrang, die ranzig wie reifer Käse oder alte Socken roch. Sie besorgte sich auch ein Buch, in dem stand, welche Wildpflanzen man unbesorgt essen konnte und wann und wie man sie erntete und zubereitete. Dieses Buch wurde nun unentwegt zurate gezogen, auf Spaziergänge mitgenommen, von denen es immer fleckiger und zerlesener zurückkehrte, und aufgeschlagen neben dem Herd aufgestellt, wo es wiederum jede Menge Spritzer abbekam. Das Hamstern wurde zu unserer neuen Religion. Beeren, Pilze und Äpfel zu sammeln, die über Hecken oder Zäune ragten – das zeugte, wie Mummy sagte, nicht nur von Freigeist, sondern brachte uns zudem Gratis-Lebensmittel ein. Beides Dinge, die sie sehr befürwortete. Wir handelten uns Kratzer ein, als wir uns durch Brombeergestrüpp zwängten, um an Holzäpfel zu gelangen, während unsere Mutter barfuß danebenstand. »Ein Stück weiter oben, Viola. Ja, gut so.« Ungeduldig warf sie ihr Haar zurück. »Pflück auch die am Zweig darüber, Issy.« Aus den Äpfeln machte sie Gelee und Wein: herb und rosarot wie eine Zunge. Einmal bekamen wir schreckliche Magenkrämpfe von irgendwelchen gefleckten Pilzen, die sie in den Eintopf geworfen hatte. Aber Zitterling – oder Gehirnpilz, wie wir ihn wegen seines welligen, gummiartig bleichen Aussehens nannten – schmeckte uns, gebraten in Butter, Salz, Pfeffer und ein bisschen Currypulver, ziemlich gut. Wo immer wir ihn fanden, rissen wir ihn büschelweise ab. Und Boviste, dick und weiß, pflückten wir ebenfalls, wenn sie an Herbstmorgen wie verirrte Schneebälle im taubenetzten Gras leuchteten, und aßen sie in Scheiben geschnitten und in Backteig frittiert mit knusprigem Speck zum Frühstück. * * * Habt ihr schon mal richtig Hunger gehabt? Ich meine kein leichtes Magenknurren, das eine versäumte Mahlzeit anmahnt, oder das unangenehme Rumpeln und Gurgeln, wenn das Mittagessen später kommt. Sondern den tiefen, wehenähnlichen Schmerz echter Leere. Das hohle Ziehen des Nichts. Übergewicht ist ein rein menschliches Problem, denn nur Menschen werden dumm vor Gier. Vögel dagegen sind so leicht wie eine Handvoll Laub. Ich will die Leichtigkeit von Flügeln in mir spüren. Ich habe gelernt, wie ein Vogel zu essen, nicht mehr wie ein Mensch. Dort, wo ich jetzt bin, versuchen sie, mich mit jeder List zum Essen zu bringen, sie spielen Psychospielchen mit mir und stecken mir Schläuche in den Hals. Natürlich tut Hungern weh. Aber diesen Schmerz kann man nutzen wie ein Messer, das das Böse in einem wegschält. Irgendwann wirst du regelrecht süchtig nach diesem Gefühl. Weil der Hunger dein Freund ist. Zusammen mit ihm kommst du schneller bis runter auf deine Knochen, als du glaubst. Ich kann sie mit den Fingern ertasten, wie sie dicht unter meiner Haut an die Oberfläche drängen, jeden Tag ein bisschen mehr: glatt und makellos und hart. Das sagt man doch über Knochen, oder? Dass sie rein sind. Sauber. Wenn ich ihre Linien nachfahre, ergibt sich eine Form: das Gerüst meiner selbst. Am Ende sind wir doch alle nichts anderes. Und manchmal noch nicht einmal das. Manchmal bleiben als Nachweis eines Lebens nicht einmal Knochen übrig – nur Moleküle, die durch die Luft wirbeln, und ein paar Erinnerungen in deinem Kopf, vergilbt wie alte Fotografien. Jetzt bin ich müde. Am liebsten würde ich schlafen gehen. Ich gerate ins Faseln, ich weiß. Issy würde das gar nicht gefallen. Sie hat mir auch damals befohlen, den Mund zu halten, als wir in dem kleinen Zimmer saßen und ein Mann und eine Frau uns ständig dieselben Fragen stellten, wieder und wieder. Was hatten wir gemacht? Gesehen? Wann? Wo? Ihr müsst wissen, die haben uns für böse gehalten. Sie dachten, wir hätten etwas Unverzeihliches getan. Ich weinte und rutschte auf dem harten Stuhl hin und her, bis plötzlich etwas beschämend Warmes meine Unterhose durchdrang. Die Flüssigkeit rann über das Plastik und lief auf dem Boden zu einer Pfütze zusammen. Irgendwann kam ein Polizist mit Eimer und Lappen. Ich schloss die Augen und bemühte mich, den stechenden Geruch des Urins...