Schäfer | Die Schuhe meines Vaters | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Schäfer Die Schuhe meines Vaters


1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8321-8258-8
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-8321-8258-8
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Im Sommer 2018 kommt der Vater von Andreas Schäfer zu Besuch nach Berlin. Kurz zuvor hat er erfahren, dass er an Krebs erkrankt ist, doch Beschwerden hat er keine. Er geht in die Oper, unternimmt einen Ausflug ans Meer, sitzt auf dem Sofa des Sohnes und sagt verwundert: »Dass da was ist!« Aber was? Was ist da im Kopf des Vaters? Er fährt nach Frankfurt zurück, wo er seit der Trennung von der griechischen Mutter allein lebt. Auch zur Biopsie geht er allein. Am Tag der Untersuchung meldet sich ein Arzt und teilt dem Sohn mit, dass der Vater eine Hirnblutung erlitten habe: »Ihr Vater wird sterben«, sagt er. »Er liegt im künstlichen Koma. Sie müssen entscheiden, wann wir die Maschinen abstellen.« Wie damit umgehen, wenn einem das Leben des eigenen Vaters in die Hände gelegt wird?

›Die Schuhe meines Vaters‹ ist ein ebenso erschütterndes wie zu Herzen gehendes Buch über Väter und Söhne und die unerwarteten Wege der Trauer. Aufrichtig, poetisch und einfühlsam erzählt Andreas Schäfer vom eigenen Schockzustand – vor allem aber nähert er sich dem Vater an, dem leidenschaftlich gern Reisenden, dem Kriegstraumatisierten, und ihrem besonderen, nicht immer einfachen Verhältnis.

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II Die Dinge des Vaters – ich habe sie alle berührt. Seine bekritzelten Zettel wuchsen aus Ordnern, Mappen und Heftern hervor, und die Kaumlesbarkeit seiner Schrift – in die Höhe strebende und zugleich gedrängt wirkende und mit starkem Druck geschriebene Buchstaben – beschwor eine unbekannte Bedeutung herauf. Während ich die Zettel entzifferte, stand ich jedes Mal unmittelbar vor der Lösung eines Rätsels. Das Versprechen auf einen anderen, einen neuen Vater steigerte sich noch, wenn die Zettel irgendwo herausgerissen worden waren und über Risskanten verfügten. Die Spur des Gestischen und Momenthaften löste eine Sehnsucht und Hoffnung in mir aus, von der ich selbst nicht hätte sagen können, worauf genau sie gerichtet war; mit einem Mal war ich von ihm umwölkt, und beides, die tiefe Verbundenheit und das Nie-ganz-verstehen-Können, wurde als scharfer Schmerz in der Magengrube körperlich. Ich begann Relevantes von Bedeutungslosem (für mich) zu scheiden. Die Brutalität lag dabei nicht im Loslassen der väterlichen Sachen, sondern in der immer wieder neuen Entscheidung, seine Lebensdinge nach dem Grad ihrer Verwertbarkeit zu unterteilen und Kategorien zuzuordnen. Erstens: notwendige Dokumente, Kaufverträge, Grundbuchauszüge und Ähnliches. Zweitens: Erinnerungsstücke oder jene, die dazu werden würden, wenn man sie wie Reliquien ins Regalfach stellte. Drittens: einige wenige praktische Gegenstände für den Haushalt und viertens: all jenes – Fotoalben, biografische Notizen, Reisetagebücher, aber auch Broschüren, Landkarten, Flugbuchungen und aufgeklebte Fährtickets –, das als Quelle und Material bei der Verwandlung eines realen Menschen in eine Buchfigur dienen könnte. Es war mir offenbar unmöglich, mich von den Dingen des Vaters zu trennen, ohne dass sich an den Rändern des Bewusstseins das vage Gebilde einer Vater-Erfindung abzeichnete. Meine Freunde in diesen Wochen: die stets gut gelaunten Lotsen auf dem Recyclinghof in der Frankfurter Seehofstraße. Braun gebrannt kamen sie in ihren orangefarbenen Latzhosen zum Auto geschlendert und beugten sich über das Chaos im Kofferraum. Altpapier und Kartons hier, Plastik da, Sperrmüll dort hinten. Obwohl ich die meisten Dinge meines Vaters ihrer Zerstörung zuführte, tröstete mich das Wissen, dass der Blick dieser Hüter ihnen bis zum Schluss einen Wert beimaß (den der möglichen Wiederverwertbarkeit), den ich selbst ihnen schon abgesprochen hatte. Eines der wenigen Vaterdinge, das seinen Weg bis in unseren Berliner Alltag fand und dabei sowohl Andenken, praktisches Gebrauchs- als auch Schreibobjekt darstellt, ist sein großer beiger, ziegelsteinschwerer Vollmetalllocher. »Wo ist der Locher?«, fragt unsere Tochter. Der Locher meines Vaters verwandelte sich in den Locher unserer Kleinfamilie und ist nun Der Locher an sich. Sobald ich den Locher benutze, durchfährt mich ein Glücksschauer, und dieses Wohlgefühl vertieft sich, wenn unsere Tochter damit Aufgabenblätter aus dem Unterricht locht. Vom Großvater über den Vater zu ihr, vom Vater über den Sohn zur Enkelin. Dabei hat der Locher für ihn nie die Bedeutung erlangt, die er nun für mich hat. Ich ehre mithilfe des Lochers, ich folge dem Gebot, indem ich Belege und Ausdrucke jeglicher Art in den Schlitz unter dem extrarobusten, steil aufragenden Metallhebel schiebe und mit kraftvollem Niederdrücken desselben zwei kreisrunde Löcher im Abstand von achtzig Millimetern in die Papiere stanze. Wäre es doch immer so leicht, sich im Strom der Generationen treiben zu lassen. In seinen Notizzetteln und Papieren stieß ich auf einen Brief, den er im Jahr 2000 (sogar an mich) geschickt und für sich ausgedruckt hatte. Er war dreiundsechzig Jahre alt und schrieb: »Ich fühle mich oft müde (nicht nur rein körperlich …). Ich meine mehr eine andere Müdigkeit, eine Trägheit – keine Lust mehr zum Kämpfen –, ich habe mein halbes Leben gekämpft, nicht immer »gegen« etwas oder wen, sondern auch »um«, sozusagen gegen die Umstände, häufig allerdings auch gegen mich selbst.« Ein Kampf mit den Umständen – und häufig gegen sich selbst. Mein Vater wurde am elften Dezember 1936 in eine Berliner Fleischerfamilie als zweites Kind des Ehepaares Robert und Johanna Schäfer geboren. Auch sein Großvater und der Bruder des Vaters waren Fleischer, alle drei arbeiteten im Familiengeschäft in Berlin Tempelhof; dort hatte sein Vater auch seine Mutter kennengelernt, die als junges Mädchen aus Dresden nach Berlin gekommen war, um eine Ausbildung als Verkäuferin zu absolvieren. Hineingeboren in eine deutsche Fleischerfamilie, fast vier Jahre nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Ein Kind erblickt das Licht der Welt, schreit, atmet, lernt laufen, sprechen, denken und urteilen in dieser Luft, in dieser Familie, in dieser nationalsozialistischen Berliner Wirklichkeit. Wenige Tage vor seiner Geburt hatte der deutsche Propagandaminister Joseph Goebbels jegliche Kunstkritik verboten. Was künstlerisch von Rang war, bestimmte ab diesem Zeitpunkt die NSDAP. Am zweiten Dezember wurde Thomas Mann, seit 1933 im Schweizer Exil lebend, die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen; ab dem siebten Dezember war es den in sogenannten Mischehen lebenden Deutschen untersagt, die »Reichs- und Nationalflagge« zu hissen. Haben das meine Großeltern zur Kenntnis genommen, wenige Tage vor der Geburt ihres Sohnes? Und falls ja, haben Sie diese Entscheidungen begrüßt, insgeheim oder offen, oder entschieden abgelehnt? Persönlich betroffen hat es sie nicht. Sie waren beide evangelisch getauft, und Interesse an Kunst und Literatur ist nicht überliefert. Waren meine Großeltern Nazis? Wie bei allen Deutschen meiner Generation stellt sich diese Frage. Mein Vater sagte, als ich ihn danach fragte: Nein. Ein ruhiges, differenziertes Sprechen über die Eltern und ihre politische Haltung darüber hinaus ließ sein heftiger Elterngroll nicht zu. Eine Anfrage beim Bundesarchiv ergab, dass sie keine Parteimitglieder waren. Meine Vermutungen dazu sind unweigerlich von seiner Verletzung über die Enterbung beeinflusst, aber auch von meinem Argwohn, den ich als Teil einer psychologisch geschulten Nachkriegsgeneration gelernt habe, Erzählungen der Eltern zur Nazizeit grundsätzlich entgegenzubringen – als vermeintliche Deck-Erzählungen und unbewusste oder vorsätzliche Verharmlosungen. Etwas an meinen Großeltern bleibt deshalb immer verdächtig. Worüber kein Zweifel besteht: Für sie zählte vor allem die Arbeit. Arbeiten – und so bald wie möglich ein eigenes Geschäft eröffnen. Denn als Zweitgeborener würde nicht mein Großvater, sondern sein älterer Bruder das Familiengeschäft weiterführen. Besonders meine Großmutter wollte selbstständig sein, mit Mitte zwanzig übernahm sie einen kleinen Milchladen, gab ihn wenige Jahre später aber wieder auf, denn nun war es so weit: 1938 eröffneten meine Großeltern eine eigene Fleischerei in Berlin Moabit, Beusselstraße 44, nur einen Steinwurf entfernt von den Becken, Kanälen, Gleisanlangen und Verladekränen des Berliner Westhafens. Zum Geschäft im Erdgeschoss gehörten weitere Bereiche im Untergeschoss. Während mein Großvater in den Arbeitsräumen Fleisch zuschnitt oder Wurst herstellte, bediente meine Großmutter im Laden die Kundschaft. Die Kinder verbrachten die Tage mit dem Kindermädchen in der Wohnung darüber in der Beletage. Das Geschäft muss gut gelaufen sein – trotz der Fleischrationierung ab dem Kriegssommer 39. Die Familie konnte Urlaube an der Ostsee verleben; meine Großmutter reiste mit den Kindern auch nach Süddeutschland. Sein Lachen auf den Fotos dieser frühen Jahre: strahlend und ungetrübt. Auf einigen Bildern legt die ältere Schwester den Arm um seine Schulter, während er glücklich lächelt. Man sieht die fürsorgliche Sphäre förmlich, die Geborgenheit, die solch ein Strahlen erst ermöglicht. Seine Mutter, meine Großmutter, wirkt dagegen steif, als hätte sie schon früh unter Schmerzen im unteren Rücken gelitten. Schmales Gesicht, spitze Nase, das seitlich gescheitelte helle Haar gewellt. Sie trug lange Kleider, schief sitzende Hüte, Mäntel mit Pelzkragen oder gegürtelte Trenchcoats. Nicht streng im Ausdruck, aber verhalten und ein wenig verloren wirkt sie wie eine Frau, die nie jung gewesen ist, wie jemand, der – selbst wenn er lächelt – durch eine innere Wand von der Freude getrennt bleibt. Die Großmutter, die ich später bei ihren wenigen Besuchen trotz der mitgebrachten Rolle Atemgold und dem Zehnmarkschein im Umschlag als kühl und herrisch erlebte, wirkte auch damals schon unnahbar. Mein Großvater ist auf diesen Bildern ein ernster Mann um die vierzig, immer im Anzug, verschlossen, geradezu düster blickend – oder ein wenig geckenhaft in Position gestellt. Auf einem Foto reckt er das Kinn, stützt den Arm auf einen Spazierstock und winkelt dabei ein Bein an, wie man es von Charlie Chaplin kennt; statt verspielt wirkt die Haltung jedoch großspurig. Sieht man der Großmutter den Dauerschmerz an, so ihm den Willen, es zu schaffen, aber auch die Anstrengung und einen grollenden Stolz, es als Zweitgeborener schwerer gehabt zu haben als der ältere Bruder. Dann dieses Bild von Vater und Sohn in Sonntagsstaat: mein Großvater im zweireihigen geschlossenen Mantel. Weißes Hemd, Krawatte, Hut, Zigarre im Mund. Daneben mein herausgeputzter fünfjähriger Vater: auch er im zweireihigen dunklen Mantel, dazu ebenfalls ein weißes Hemd; auch seinen Kopf ziert ein Hut, und wie die Hände des Vaters stecken auch seine tief in den Taschen des Mantels. Vater und Sohn im Partnerlook, der Kleine den Großen nachahmend. Man hatte ihn Robert...


Schäfer, Andreas
ANDREAS SCHÄFER wurde 1969 in Hamburg geboren, wuchs bei Frankfurt/Main auf und lebt heute mit seiner Familie in Berlin. Er schreibt Romane, Essays, Libretti und Radiofeatures. Sein Debüt ›Auf dem Weg nach Messara‹ wurde u. a. mit dem Bremer Literaturförderpreis ausgezeichnet. Es folgten die Romane ›Wir vier‹ (DuMont 2010), der für den Deutschen Buchpreis nominiert war und mit dem Anna-Seghers-Preis ausgezeichnet wurde, ›Gesichter‹ (DuMont 2013) und zuletzt der Spiegel-Bestseller ›Das Gartenzimm



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