Schliesser | Was ist Glaube? | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 3, 127 Seiten

Reihe: Theologische Studien NF

Schliesser Was ist Glaube?

Paulinische Perspektiven
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-290-17655-6
Verlag: Theologischer Verlag Zürich
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)

Paulinische Perspektiven

E-Book, Deutsch, Band 3, 127 Seiten

Reihe: Theologische Studien NF

ISBN: 978-3-290-17655-6
Verlag: Theologischer Verlag Zürich
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



'Glaube' ist in allen Schichten des Neuen Testaments zur beherrschenden Bezeichnung des Gottesverhältnisses geworden. Auch der Apostel Paulus rückt den Glauben in den Mittelpunkt seiner Theologie. Auf Grundlage der paulinischen Texte und im Gespräch mit systematisch-theologischen Entwürfen wird in der vorliegenden Studie folgende Doppelthese zur Diskussion gestellt: Glaube ist bei Paulus zum einen anthropologische Kategorie und hat seinen Ort in der sich gegenseitig durchdringenden Dreiheit von Vernunft, Wille und Gefühl. Zum anderen bestimmt Paulus den Glauben christologisch, insofern er mit Jesus Christus in die Welt kam und in Christus Ursprung, Inhalt und Ziel hat. In dieser Dialektik aus anthropologischer und christologischer Perspektive lag und liegt die Dynamik der Frage 'Was ist Glaube?'.
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|27| 2. Glaube als Identitätskriterium einer Gemeinschaft
Forschungsgeschichte
Schon Adolf Schlatter hob hervor, dass der Glaube Unterscheidungsmerkmal und Identitätsbegriff ist: Der Glaube hob sich »als das hervor, was den Unterschied zwischen denen macht, die in, und denen, die außer der Gemeinde sind. Nicht als die Genossenschaft der Hoffenden oder Liebenden oder Wissenden, sondern als die der Glaubenden trat sie [sc. die Gemeinde] auf.«89 Schlatters Formulierung erinnert an zentrale Aussagen der sogenannte »New Perspective on Paul«, die freilich andere Exegeten als Schlatter zu ihren Wegbereitern zählt (z. B. Albert Schweitzer). Die v. a. in der angelsächsischen Exegese verbreitete neue Sicht auf Paulus weist mit Nachdruck auf die soziologischen Voraussetzungen und Implikationen der paulinischen Lehre von der »Rechtfertigung aus Glauben« hin. Sie tut dies in Abgrenzung zu einer vermeintlich anthropozentrischen und antijüdischen Paulusinterpretation, die ihren Ausgangspunkt bei Augustin nehme und über Luthers Frage nach dem individuellen Heil in Bultmanns existentialer Hermeneutik kulminiere. So polemisierte Krister Stendahl scharf gegen die Innerlichkeit und Introspektive der westlichen Geistesgeschichte seit Augustin und bezeichnet sie als »Western plague«90. Paulus’ Rechtfertigungslehre sei keine Polemik gegen jüdische Werkgerechtigkeit, sondern diene lediglich seiner Absicht, den Heiden Zugang zum Gottesvolk zu ermöglichen. Nach E. P. Sanders zeichnet sich die paulinische Theologie durch zwei Komponenten aus: das »Heidenproblem« und »Ausschließlichkeit der […] Soteriologie«; sie »sind für die Entthronung des Gesetzes verantwortlich«.91 Die Logik der paulinischen Soteriologie habe auch soziologische Konsequenzen: »Wenn das Heil nur in Christus kommt, darf niemand einem anderen, wie auch immer beschaffenen Heilsweg folgen.«92 Der Glaube an Christus ist der neue Heilsweg; allein die Zugehörigkeit zu Christus verschafft Heil. James Dunn, auf den der Begriff »New Perspective on Paul« zurückgeht, hält fest, dass Paulus seine Aussagen zur Rechtfertigung aus Glauben aus der Sicht der Heidenmission getroffen habe. Im Zentrum paulinischer Theologie liege die Frage, ob und wie Heiden |28| von Gott angenommen werden können – und die Überzeugung, dass Gottes Gerechtigkeit allen zuteilwird, die glauben. Paulus gehe es in seiner Verkündigung um nichts weniger, als die Schranken zwischen Juden und Heiden zu durchbrechen.93 Die in der jüdischen Frömmigkeit und Identität zutiefst verwurzelte Auffassung von der exklusiven Erwählung Israels äußert sich nach Dunn insbesondere im Halten der Gebote, die jüdische Prärogative verbürgen: Beschneidung, Speisehalacha und Sabbatobservanz. Paulus kritisiere diese »identity markers« jedoch nur dann, wenn sie sich gegen Gottes Gnade stellten, was in Galatien der Fall gewesen sei. Erst so sei es zur theologisch wie soziologisch bedeutungsvollen Antithese von »Glaube« und »Gesetzeswerken« gekommen.94 Zu der Frage, in welchem Verhältnis die frühchristlichen Gemeinden zur jüdischen Gemeinde standen, sind zunächst zwei sich prinzipiell ausschließende Meinungen zu nennen: Einerseits steht die These im Raum, dass die ersten Christen gänzlich unter der Autorität der Synagoge geblieben seien und dass Paulus von einer untrennbaren Verknüpfung zwischen dem Christusglauben und der Verpflichtung zur Halacha ausging.95 Demgegenüber halten andere dafür, dass Paulus seine Leser zu einem finalen Bruch mit der jüdischen Gemeinschaft aufgerufen und die christliche Reformbewegung bewusst in eine »Sekte« umgeformt habe, deren Ethos durch den Glauben definiert sei.96 Die Mehrheit der Forscher nimmt jedoch an, dass Paulus weder die Heidenchristen unter das Dach der Synagoge ziehen noch deren Abspaltung von der Synagoge provozieren wollte. Zwar verstand sich Paulus bis zuletzt als »Hebräer von Hebräern« und kämpfte »rastlos für die Einheit von Juden- und Heidenchristen«; doch die »fundamentale Relativierung von Elementen, die der überwiegenden Mehrheit seiner jüdischen Zeitgenossen unaufgebbar erschienen« führte dazu, dass er »vielleicht am meisten dazu beigetragen [hat], dass es zur Trennung zwischen der immer mehr heidenchristlichen Kirche und dem Judentum kam«.97 Das Christusereignis verschob das bisher gültige Koordinatensystem: Nunmehr kommt dem Glauben allein die entscheidende soteriologische und ekklesiologische Bedeutung zu. Zu einem entsprechenden Ergebnis gelangt auch Axel von Dobbeler, der in dezidierter Abwendung von Bultmann und noch unbeeinflusst von der neuen Paulusperspektive eine »Ekklesiologie des Glaubens« entwirft: »Pistis |29| ist für Paulus ein zentrales Kennzeichen der christlichen Gemeinden, das Abgrenzung sowohl gegenüber Heiden, als auch gegenüber Juden ermöglicht, der Gruppe ihre Identität verleiht und so deren wesentlicher Stabilisationsfaktor ist.«98 Es handle sich bei der »pistis nicht um ein neues Selbstverständnis, sondern um ein neues Gruppen- bzw. Gemeinschaftsverhältnis der vor Gott (im Blick auf Erwählung und Gerechtigkeit) Gleichgestellten«.99 Exegese
Die ekklesiologische Eigenart des Glaubens liegt in seiner (exklusiven) Ausrichtung auf Jesus Christus begründet, welche eine Identität stiftet, »die alle alltagsweltlichen Status- und Ethosdifferenzen hinter sich lässt«, und »eine Gemeinsamkeit herstellt, die die Differenz zwischen Juden und Heiden umgreift […] und die Christen von den nichtchristlichen Juden und Heiden signifikant unterscheidet«.100 Schon in seinem ersten Brief bezeichnet Paulus die Christen mithilfe eines absoluten Partizips als »die Glaubenden« (1Thess 1,7; 2,10.13). Diesen Sprachgebrauch behält er auch in den folgenden Briefen bei. »Das Wort Glaube bekommt […] besonders in seinen Partizipialformen […] eine ekklesiologische Funktion, was sprachgeschichtlich die spätere Verbreitung des Begriffs zu einem Synonym für Religion vorbereitet, aber keineswegs schon vorwegnimmt.«101 Die Frage, ob die Zulassung der Heiden(christen) zum endzeitlichen Gottesvolk von der Einhaltung der Gebote abhängig zu machen oder ob der Glaube alleiniges Kriterium sei, stellte sich der urchristlichen Mission, sobald sie sich den »Völkern« zuwandte (vgl. Röm 1,16: »zuerst den Juden, dann den Griechen«). Dabei scheint schon früh eine beschneidungsfreie Heidenmission praktiziert worden zu sein (vgl. Apg 10,1–11,18); wie den »Gottesfürchtigen« erließ man den Heiden(christen) die Pflicht, sich beschneiden zu lassen, und senkte so die Schwelle zu einer vollgültigen Teilhabe am Heilsgeschehen. Diese Praxis trug wesentlich dazu bei, dass die Zahl der Heidenchristen stetig wuchs, verursachte aber auch Auseinandersetzungen mit toraobservanten Juden und Christen und forderte zum weiteren theologischen Nachdenken heraus.102 Ein Reflex dieses Nachdenkens ist der bereits zitierte |30| »Lehrsatz« Röm 3,28, der mit großer Wahrscheinlichkeit eine bereits vor Paulus vorhandene Grundeinsicht aufgreift.103 In diesem Vers spiegelt sich zwar die soziale Dynamik der Rechtfertigungsbotschaft wider (vgl. Röm 3,29–30), doch trägt die theologische bzw. soteriologische Perspektive deutlich den Ton. Denn voraus geht Paulus’ Analyse der menschlichen Situation vor Gott, die alle unter der Macht der Sünde und Ungerechtigkeit sieht und die Werke des Gesetzes für soteriologisch irrelevant erklärt (Röm 1,18–3,20). An der im Forschungsüberblick referierten »New Perspective on Paul« wurde zu Recht kritisiert, dass sie die radikale Ausweglosigkeit des Menschen heruntergespielt und die theologische Gewichtung der paulinischen Rechtfertigungslehre (wie sie in Röm 3,28 zum Ausdruck kommt) unterschätzt habe.104 Maßgeblich ist in diesem Zusammenhang auch die typologische Bedeutung der Rechtfertigung Abrahams als der Rechtfertigung des Gottlosen (Röm 4,5): Ohne die Besonderheit der jüdischen Erwählung zu leugnen, betont Paulus die universale Vaterschaft Abrahams, die vor der Unterscheidung zwischen »beschnitten« und »unbeschnitten« grundgelegt wurde und die allen Glaubenden ohne Unterschied gilt (Röm 3,22; 10,12). Dem Glauben Abrahams kommt somit im Rahmen der identitäts- und stabilitätsstiftenden Funktion des Glaubens eine besondere Rolle zu. Er präfiguriert nicht nur den Glauben des einzelnen Menschen, sondern ist zugleich bestimmendes Merkmal für die Zugehörigkeit zum Gottesvolk. »Da nun die Schrift voraussah, dass Gott die Völker aus Glauben gerecht machen würde, hat sie dem Abraham das Evangelium im Voraus verkündigt: ›In dir werden alle Völker gesegnet werden‹ [Gen 12,3]. Also werden die aus dem Glauben Lebenden gesegnet, zusammen mit dem glaubenden Abraham« (Gal 3,8–9). »Sofern die pistis nämlich ein ekklesiologischer Begriff ist, will Paulus in diesen Stücken zum Ausdruck bringen, dass Abraham der Typus des neuen Gottesvolkes ist. Abraham ist also gewissermaßen das präexistente Glied der Ekklesia, er ist ekklesiologische Gestalt.«105 |31| Der Begriff »Glaube« fasst also die Identität und Lebensweise der paulinischen Gemeinden zusammen. Im Modus des Glaubens sind wir nach Paulus Teil des Gottesvolkes, »Hausgenossen des Glaubens« (Gal 6,10) und Mitglied in der familia Dei: »Denn ihr seid alle Söhne und Töchter Gottes durch den Glauben in Christus...


Benjamin Schliesser, Dr. theol., Jahrgang 1977, ist Oberassistent am Theologischen Seminar der Universität Zürich.



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