Schlögel Entscheidung in Kiew
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-446-27662-8
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ukrainische Lektionen Aktualisierte und erweiterte Neuausgabe
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-446-27662-8
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Militärwesen Ausrüstung & Waffen
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Internationale Beziehungen Geopolitik
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Internationale Beziehungen Diplomatie
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Internationale Beziehungen Internationale Organisationen und Institutionen
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Internationale Beziehungen Konflikt- und Friedensforschung, Rüstungskontrolle, Abrüstung
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Ideologien Nationalismus
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Weltgeschichte
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Europas Ukraina —
Einleitung
Wir wissen nicht, wie der Kampf um die Ukraine ausgehen wird; ob sie sich gegen die russische Aggression behaupten oder ob sie in die Knie gehen wird, ob die Europäer, der Westen, sie verteidigen oder preisgeben wird; ob die Europäische Union zusammenhalten oder auseinanderfallen wird. Nur so viel ist gewiss: Die Ukraine wird nie mehr von der Landkarte in unseren Köpfen verschwinden. Es ist nicht lange her, da gab es diesen Staat, dieses Volk, diese Nation im allgemeinen Bewusstsein kaum. Besonders in Deutschland war man daran gewöhnt anzunehmen, dass sie irgendwie Teil »Russlands«, des Russischen Reiches oder der Sowjetunion war und dass man dort eine Sprache sprach, die so etwas wie eine Unterart des Russischen sei. Die Ukrainer haben mit ihrer »Revolution der Würde« auf dem Majdan und mit dem Widerstand, den sie der versuchten Destabilisierung ihres Staates durch Russland entgegensetzen, gezeigt, dass diese Ansicht von der Wirklichkeit längst überholt ist. Es ist Zeit, noch einmal einen Blick auf die Landkarte zu werfen und sich neu zu vergewissern. Jedenfalls gilt dies für mich. Ein Buch zur Ukraine zu schreiben war in meinem Lebensplan nicht vorgesehen. Aber es gibt Situationen, wo man nicht anders kann und wo man gezwungen ist, alle Planungen über den Haufen zu werfen und sich einzumischen. Putins Handstreich gegen die Krim, der seither weitergehende Krieg in der östlichen Ukraine ließen mir keine andere Wahl. Dies nicht deshalb, weil ich mich für besonders kompetent hielte, sondern eher im Gegenteil: Ich musste feststellen, dass man sich ein Leben lang mit dem östlichen Europa, mit Russland und der Sowjetunion beschäftigt haben konnte, ohne eine genauere Kenntnis von der Ukraine besitzen zu müssen — und ich war nicht der einzige im Fach, der zu dieser Einsicht kam. Erst recht gilt dies für das allgemeine Publikum. Im medialen Dauergespräch ging es fast ausschließlich um Putins Russland, das zudem nicht als politisches Subjekt, als Akteur verstanden wurde, sondern als Opfer, das auf Aktionen des Westens reagierte. Man sprach selten mit den Ukrainern, sondern vielmehr über sie und ihr Land. Man hörte leicht heraus, dass viele Diskutanten das Land, über das sie sprachen, nicht kannten, es nicht für nötig ansahen, sich dort umzusehen. Während jedermann etwas zur »russischen Seele« einfiel, kam vielen — ausgerechnet den Deutschen, die zweimal im 20. Jahrhundert die Ukraine besetzt und verwüstet hatten — nicht mehr in den Sinn als das Klischee von den Ukrainern als ewigen Nationalisten und Antisemiten. Fast ohnmächtig stand man dieser kompakten Ignoranz und Anmaßung gegenüber, die sich auf ihre Fortschrittlichkeit auch noch etwas einbildete. Während man jede Woche im Fernsehen wählen kann zwischen Dutzenden von Russland-Filmen — vorzugsweise Flussreisen und historischen Dokumentationen —, hat das (öffentliche) Fernsehen es auch nach einem Jahr, in dem die Ukraine zum Kriegsschauplatz geworden war, nicht zuwege gebracht, diesem Land ein Gesicht zu geben, das über die Bilder vom Majdan hinausginge — keine Dokumentation über Odessa oder den Donbass oder die Geschichte des Kosakentums, keine Tour durch Lemberg oder Czernowitz — Orte, mit denen man in Deutschland — dank der alten wie der jungen Dichter — durchaus etwas anfangen kann. Kurzum: Die Ukraine blieb eine Leerstelle im Horizont, ein weißer Fleck, von dem allenfalls Beunruhigung ausging. Dieses Buch ist der Versuch, mein Versuch, sich ein Bild von der Ukraine zu machen. Es ist keine Geschichte der Ukraine, wie sie von Historikern in herausragenden Werken bereits erzählt und dargestellt worden ist (die in meinen Augen wichtigsten sind im Anhang aufgeführt). Es ist auch nicht der Versuch, die laufenden Ereignisse darstellen und kommentieren zu wollen — eine Arbeit, die von den Journalisten und Reportern manchmal auf geradezu heroische Weise geleistet wird. Meine Art, mir ein Bild zu machen, ist die Erkundung geschichtlicher Topographien. Meine Weise, mir die Geschichte und Eigenart eines Landes oder einer Kultur vor Augen zu führen, ist die Begehung von Orten und die Erschließung von Räumen. Ich habe diese Methode in meinem Buch »Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik« (2003) dargestellt. Man kann »Städte lesen«, Städte als Texturen und Palimpseste dechiffrieren, ihre Schichtungen in einer Art urbaner Archäologie freilegen und ihre Vergangenheit so zum Sprechen bringen. Städte sind erstrangige Dokumente, die gelesen und erschlossen werden können. Sie erweisen sich dann — anders als in der makrokosmisch-globalen oder der mikrokosmischen Perspektive — als Punkte maximaler Verdichtung geschichtlicher Ereignis- und Erfahrungsräume. Im Zentrum des vorliegenden Bandes stehen Porträts ukrainischer Städte. Sie sind das Ergebnis dieser Art von urbaner Archäologie. Der Blick auf diese mittlere Ebene hat unschätzbare Vorteile, gerade im Kontext einer Geschichte der Ukraine als einer nicht ethnisch, sondern politisch definierten Nation, deren Territorium von der Geschichte und Kultur ganz verschiedener Imperien geprägt worden ist. Es ist gerade das Fragmentarische, Partikulare, Regionale, das etwas sehr Spezifisches der ukrainischen Nations- und Staatsbildung zum Ausdruck bringt. Die hier versammelten Städtebilder sind nicht vollständig — wie gern hätte ich Winniza oder Tschernigiw aufgenommen und das vom Holodomor so furchtbar heimgesuchte ukrainische Dorf. Wie wichtig wäre es gewesen, auch Uman oder Drohobytsch aufzusuchen, um die noch sichtbaren Spuren des in der Shoah vernichteten Shtetl, dem einstigen Zentrum des osteuropäischen Judentums, zu lesen. Aber auch der Gang über die Dammkrone von Dneproges, dieser Ikone sowjetischer Modernisierung, hätte dazugehört. Trotz dieser Beschränkungen glaube ich, dass die vorliegenden Studien den Blick für die außerordentliche Komplexität, aber auch den Reichtum der Ukraine schärfen können. Die Erkundung dieses Grenzlands Europas, dieses »Europas im Kleinen« hat eben erst begonnen. Die Städtebilder zu Lemberg und Czernowitz stammen aus den späten 1980er Jahren, die Porträts von Odessa und Jalta aus dem Jahre 2000. Schon an anderer Stelle veröffentlicht, sind sie von den geschichtlichen Ereignissen überrollt und überholt worden, aber sie halten eine Perspektive und einen Perspektivwandel fest, der selber höchst aufschlussreich ist: Lemberg und Czernowitz waren in unseren Horizont in einer Zeit getreten, als Mitteleuropa, das Europa jenseits von Ost und West, sich zu Wort gemeldet hatte; die Ukraine lag also schon damals im Horizont Europas. »Die Mitte liegt ostwärts«, hatte ich in den 1980ern noch vor dem Fall der Mauer formuliert. Nun stellt sich mit Blick auf Städte wie Charkiw, Dnipropetrowsk, Donezk heraus, dass die Osterweiterung unseres Blicks noch weiter in dieser Richtung fortschreiten muss. Auch an der Beschreibung der Krim und Odessas kann man etwas sehr Wichtiges ablesen: die imperiale Prägung des postsowjetischen, damals aber schon zur Ukraine gehörenden Raumes, die sich nicht von heute auf morgen wegdekretieren lässt, sondern noch lange fortwirkt. Die Ukraine hat sich entschieden, ihren eigenen Weg zu gehen, und die Lebensform, für die sie sich entschieden hat, zu verteidigen, der russischen Aggression Widerstand zu leisten. Der Majdan war eine Erhebung im Zeichen nicht nur der blau-gelben Flagge der Ukraine, sondern der blauen Europafahne mit den goldenen Sternen. Eine technisch-redaktionelle Bemerkung: Texte, die von russisch-ukrainischen Problemen handeln, sind nicht nur mit dem üblichen Problem der Übertragung von Personen- und Ortsnamen ins Deutsche konfrontiert — die Entscheidung für die eher leserfreundliche Transkription oder die wissenschaftliche Transliteration —, sondern auch mit dem Problem, welche Sprache in einem zweisprachig geprägten Land zur Bezeichnung verwandt wird — die russische oder die ukrainische. Es war hier ein Mittelweg zu gehen zwischen der eingespielten Lesegewohnheit, in der das Russische dominant war, und der sanften Ukrainisierung, die stattfindet, ohne dass sie als affirmative action forciert werden müsste. Einen mittleren Weg zu finden, ohne dem einen oder dem anderen Gewalt anzutun, ist nicht ganz einfach. Was die Anmerkungen betrifft, wurde in den Essaytexten auf Fußnoten und Literaturverweise verzichtet; doch findet sich die verwendete und zitierte Literatur im Anhang zu den einzelnen Kapiteln. ...