Schmidbauer | Der Fortschritt und das Glück | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Schmidbauer Der Fortschritt und das Glück

Eine gescheiterte Beziehung
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-96238-899-7
Verlag: oekom verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Eine gescheiterte Beziehung

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-96238-899-7
Verlag: oekom verlag
Format: EPUB
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Unsere Zeit ist von einem seltsamen Widerspruch geprägt: Obwohl uns der Fortschritt immer mehr Wohlstand und Sicherheit bringt, leiden immer mehr Menschen an Depressionen und Ängsten.

Der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer wirft einen Blick auf unsere moderne Gesellschaft und diagnostiziert, dass wir nicht trotz, sondern wegen des Fortschritts immer unglücklicher sind: Geplagt von Verlustängsten und angehalten zum steten Konsum haben wir verlernt, uns selbst zu lieben, und passen stattdessen unsere Körper an gesellschaftliche Wunschbilder an. Anstatt den Dialog zu suchen, sind wir von kleinsten Meinungsdifferenzen tief gekränkt; anstatt eine gute Zukunft für unsere Mitmenschen und den Planeten anzustreben, scheuen wir jede Einschränkung unserer wirtschaftlichen Freiheiten. Schmidbauer erklärt, was hinter diesen Impulsen steckt, und plädiert für mehr Empathie und Gelassenheit im Umgang mit uns selbst und unseren Mitmenschen.

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Kapitel 1 Die Regulierung des Lebens Seit jeher erleben Menschen die Natur als Mutter und Feindin zugleich. Wer in Mitteleuropa einen Garten anlegt, kann sich jeden Tag mit diesem Dilemma beschäftigen. Es grünt, blüht, trägt Frucht, aber der Gärtner muss beständig mähen und jäten. Tut er das nicht, ist sein Garten nach zehn Jahren von Wald bedeckt. Wenn er alljährlich schweißbedeckt seinen Heckenschnitt auf den Kompost wirft, mag er sich an den Mythos vom goldenen Zeitalter erinnern, in dem nach Hesiod die Menschen von süßen Eicheln lebten, Teil der Natur, mütterlich von ihr ernährt, nicht geschwächt von einem unaufhörlichen Kampf. Hesiod und die Erzähler der biblischen Paradiesgeschichte verbindet der Gedanke, dass es ein Verlust war, Ackerbau und Tierzucht zu erfinden, eine Sünde, Folge verderblicher Verführung. Der Mensch überschreitet dabei eine Grenze. Er will Gott spielen. Er gestaltet die Welt, erfindet Neues, statt zu lassen, was ist, und vom Überfluss zu nehmen. Dieser Gedanke verbindet Freuds Unbehagen in der Kultur mit den Büchern Mose und anderen Mythen, die eine Ambivalenz der Evolution zeichnen. Der Gestaltungswille, der sich in der neolithischen Revolution zeigt, diente vor allem der Einhegung einer großen Gegnerin: der Angst. Sie macht es uns unbequem in unserer Haut und führt zu einer Sehnsucht nach Größe und Macht, mit denen wir uns sicherer fühlen. Angst hat schon immer Sicherheitsbedürfnisse geweckt, aber die Möglichkeiten, diese Sicherheiten zu erzeugen, waren während der biologischen Evolution minimal und auch in der kulturellen Evolution lange Zeit sehr gering. Doch irgendwann gelangen die entscheidenden Schritte. Ackerbau und Viehzucht sind wohl die ersten, die wir gut fassen können, obwohl auch ein verbesserter Speer oder ein gefiederter Pfeil dem altsteinzeitlichen Jäger größere Sicherheit schenkten – und damit die Angst verkleinerten, sich am Abend hungrig schlafen legen zu müssen. Und schon bei diesen ersten Errungenschaften wird auch der Schatten der Fortschritte sichtbar: Fernwaffen etwa steigern die Versuchung, sich Mord als etwas vorzustellen, das ohne eigene Gefahr, ohne Konsequenzen möglich ist. Der Täter hält das Leid des Opfers von sich fern – ein Schritt, der nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, wenn er erst einmal getan wurde. Seither hat der Mensch seine Möglichkeiten rapide verbessert, das eigene Leben und das Leben um ihn herum zu kontrollieren. Aber was anfangs geeignet schien, Ängste abzuwehren, uns etwa die Sicherheit des Hirten gegenüber dem Jäger, der Gärtnerin gegenüber der Sammlerin zu spenden, ist spätestens seit dem Exzess der Konsumgesellschaft zur mächtigsten Angstquelle von allen geworden. Der Fortschritt hat eine manische Qualität gewonnen – es soll alles für alle in immer besserer Qualität geben. Manie und Melancholie, Überschwang und Depression sind schon geraume Zeit als psychologische Gegensatzpaare bekannt; wo ihre Extreme destruktiv werden, spricht man von einer zyklothymen, bipolaren oder manisch-depressiven Störung. Wer mit solchen Kranken therapeutisch arbeitet, wird bald entdecken, dass sie in depressiven Perioden hoch motiviert sind, Hilfe anzunehmen, in ihrer gehemmten und bedrückten Stimmung aber wenig verändern können, während sie in den manischen Phasen sehr aktiv und innovationsfreudig sind, aber wenig motiviert, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Dann verwandelt sich der anfangs bewunderte Helfer schnell in einen Langweiler, den man nicht mehr sehen mag. Manisch-depressive Erkrankungen sind wohl nur in einer vom Eigentum geprägten Kultur möglich. Nur dort stehen Manikern genug materielle Mittel zur Verfügung, um ihre Manie voll auszuleben. Seit den Anfängen der Psychiatrie ist die Verschwendung ihres Vermögens der zentrale Anlass, Maniker in geschlossenen Stationen unterzubringen. Grenzüberschreitungen sind sozusagen das Ding der Manie, wobei es sich, wie bei allen Psychosen, stets um eine Interaktion zwischen seelischer Störung und sozialem Angebot handelt. Die manische Illusion weckt den Glauben an totales Gelingen; die kollabierende Größenfantasie droht das Ich zu vernichten. Ebenso verhält es sich mit dem Fortschritt: Kollektiv wollen wir mit ihm immer höher, schneller, weiter. Doch die Konsequenzen unseres blinden Verschwendens der Natur lassen sich nicht länger verdrängen; die Illusion unendlichen, konsequenzenlosen Wachstums bröckelt. Die gegenwärtige Angst in der Kultur reagiert auf nichts Geringeres als den Untergang des menschlichen Lebens durch die drohende Zerstörung des Planeten. So wurde der angstbezwingende Fortschritt ironischerweise zur Angstquelle. Es überrascht daher nicht, dass einige derzeit einen Blick zurückwerfen: Die ökologische Überlegenheit der steinzeitlichen Kulturen hat neues Interesse an ihnen geweckt. Schließlich haben die Angehörigen dieser Kulturen viele Jahrtausende den Planeten erobert, ohne einen einzigen seiner lebenswichtigen Kreisläufe zu gefährden. Sie blieben ihr Leben lang gleich weit vom Komfort einer funktionierenden Stadt wie von der Hölle eines Bombenkrieges oder den Bedrohungen der Klimakrise entfernt. Lässt sich aus diesem Blick zurück etwas mitnehmen für unser zukünftiges Zusammenleben und das Glück? Die Forschung über die Jäger- und Sammler-Kulturen macht deutlich, dass es keine »Wilden« in dem Sinn gibt, den der Blick der westlichen Zivilisation entwirft.4 Die Primitiven kennen die Sprache und sie haben Regeln des Zusammenlebens, wenngleich sehr wenige Sanktionen, um diese durchzusetzen. Sie verteidigen sich energisch, wenn es gar nicht anders geht, gehen aber einem Kampf lieber aus dem Weg und lösen Konflikte durch Distanzierung: Wer Streit hat, schließt sich einfach einer anderen Gruppe an. Diese Kulturen zeigen nicht nur deutlich weniger Regulierungsdrang, was die nichtmenschliche Welt angeht; auch die elementaren Momente des menschlichen Lebens werden bei ihnen weniger kontrolliert. Die Regulierung von Geburt und Tod
Die gesellschaftliche Regulierung von Geburt und Tod ist in der Altsteinzeit den Bedürfnissen der Beteiligten überlassen. Frauen, Männer und Kinder sorgen füreinander, aber auch hier gibt es wenig Sanktionen, wenn ein Mann nicht von einem Jagdzug zurückkommt, weil er sich einer anderen Gruppe angeschlossen hat, oder eine Frau mit einem anderen Mann weiterzieht. Kinder zu bekommen, ist selbstverständlich; ein respektvoller Umgang mit ihnen wurde oft beschrieben. Es gibt aber ebenso keine Strafen, wenn sich eine Mutter gegen ein Kind entscheidet. Das Neugeborene wird sterben, wenn nicht eine andere Frau ihre Aufgabe übernimmt. Entweder ist in der Gruppe, in die das Kind hineingeboren wird, die Wärme da, es anzunehmen und zu beschützen – oder es gibt nach kurzer Zeit das Kind nicht mehr. Wo der Staat die Fruchtbarkeit der Menschen reguliert, kann diese Wärme verloren gehen. Die traditionelle Gesetzgebung war patriarchalisch und militarisiert. Die Unterbrechung einer Schwangerschaft wurde mit strengen Strafen verboten; das seelische Elend unerwünschter Kinder war dem Gesetzgeber egal. Kinder überleben auch in einer kalten Umgebung, und das System war auf die Produktion möglichst vieler Soldaten zugeschnitten. Die liberale Wende stellte später nicht mehr den Soldaten, sondern die Konsumentin und den Konsumenten ins Zentrum, daher öffneten sich die Strukturen nach und nach den Frauen und der Sexualität. Schwangerschaften dürfen heute unterbrochen werden, Homosexualität und Transsexualität sind erlaubt. Diese Öffnung ist höchst erfreulich – aber das Problem der Kälte bleibt, es nimmt vielleicht sogar zu, denn statt empathischer Aufklärung wird etwa bei der Abtreibung eine schnelle, »harmlose« Dienstleistung angeboten und vernünftige Aufklärung darüber bisher vom Gesetzgeber tabuisiert. Das verführt zu einer Art Flucht nach vorne, einer Entscheidung, die ohne Einfühlung in ihre existenzielle Dimension vollzogen wird. In der therapeutischen Praxis klagen manche Frauen, die früher eine Abtreibung hatten und jetzt einen unerfüllten Kinderwunsch, über ihre unbedachte Entscheidung damals. »Ich habe es einfach so gemacht, damit ich es hinter mir habe. Und jetzt weine ich jedes Mal, wenn ich daran denke.« Wer aus solchen Gedanken lesen möchte, die drakonischen Verbote einer Abtreibung seien eine »bessere« Lösung, denkt am Wesentlichen vorbei. Es geht darum, eine Entwicklung zu unterstützen, nicht sie zu unterdrücken. Das ganze Elend von Debatten über die Regulierung des Lebens steckt in der ebenso dummen wie verbreiteten Auffassung, dass jeder, der gegen ein strafbewehrtes Verbot der Interruptio ist, Abtreibungen »befürwortet«. Wer über das menschliche Glück im Kontext technischer Lösungen nachdenken will, sitzt immer zwischen zwei Stühlen, denn er ist weder dafür noch dagegen und wird deshalb zum Feind der Fanatiker auf beiden Seiten. Aber nicht nur der menschliche Lebensbeginn, auch das Lebensende wird durch den Fortschritt zunehmend reguliert. Der Tod ist nicht mehr frei, er kann kein Freund der Schwerkranken mehr sein, denen der Weg zurück in ein lebenswertes Leben abgeschnitten ist. Wir haben ihn eingesperrt, er wird von Juristen, Theologen und Medizinern bewacht. Sterbende werden an Orte gebracht, deren Inspiration es ist, Leben zu retten und den Tod zu vertreiben. Diese Gefangenschaft des Todes schmälert unsere Chancen auf Glück und ein friedvolles Hinnehmen schwerer Situationen. Der mehrfach Beeinträchtigte, von unheilbarem Schmerz Geplagte, dem der Tod als Erlösung vorschwebt, soll über dieses glückliche Bild nicht sprechen. Er stößt auf...


Schmidbauer, Wolfgang
Wolfgang Schmidbauer ist einer der bekanntesten Psychoanalytiker Deutschlands. Seine Bücher über Liebe, Ängste und das Helfersyndrom verkauften sich millionenfach und wurden zu Standardwerken. Schmidbauer war in den 1970er-Jahren einer der ersten Kritiker der Konsumgesellschaft und hat als junger Erwachsener selbst erlebt, wie viel mehr Glück ein Leben ohne Warenluxus und Konsumzwang zu bieten vermag.



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