Schmidbauer Die Kunst der Reparatur
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-96238-672-6
Verlag: oekom verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ein Essay
E-Book, Deutsch, 192 Seiten, Format (B × H): 1300 mm x 205 mm
ISBN: 978-3-96238-672-6
Verlag: oekom verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Schnelles Wegwerfen hat Konjunktur – mit fatalen Folgen. Massenhafte Produktion, gedankenloser Verbrauch, baldiges Entsorgen: Unser Konsummodell setzt nicht nur der Umwelt zu, sondern auch uns selbst.
Wir verlieren zunehmend die Fähigkeit, stabile Bindungen aufzubauen. Auch unsere Arbeit büßt an Wert und Würde ein, wenn sie allein dem schnellen Nutzen dient und Menschen austauschbare Glieder einer Produktionskette werden.
Für den Psychologen und Bestsellerautor Wolfgang Schmidbauer ist klar: Wir müssen Reparaturen (wieder) erlernen und wertschätzen. Sie ersparen uns nicht nur Neukäufe, sondern strahlen zugleich positiv in unsere emotionalen Beziehungen aus – zu Dingen, aber auch zu anderen und uns selbst.
Autoren/Hrsg.
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DIE ECHOKAMMER
Eine Familie mit drei adoleszenten Mädchen ist in heller Aufregung. Die mittlere Schwester will ihr Geschlecht verändern. Die anderen Familienmitglieder haben schon länger beobachtet, dass sie kaum von ihrem Smartphone wegzubringen war. Aber das ist relativ normal, »übertreibe nicht«, hieß es. Die Schulnoten waren in Ordnung. Sie ist jetzt 18 Jahre alt und besteht auf einem männlichen Vornamen. Die Mutter ist vor allem perplex und ringt um Ruhe. Die Geschwister schimpfen, das sei doch abartig, sie solle mal heraus aus diesem Chat. So erfährt auch die Mutter, dass ihre Tochter ständig mit einer Gruppe Transsexueller kommuniziert, die sie mit detaillierten Informationen über das Leben im falschen Körper und die Möglichkeiten versorgen, an dieser Situation etwas zu ändern. Anfangs hatte die Mutter noch gehofft, die Tochter werde sich beruhigen. Die Halbwüchsige wusste genau, dass sie für ihr Unternehmen einen Arzt brauchte, der es unterstützte, und dass sie sich einer ausführlichen Beratung unterziehen musste, um den in ihren Augen einzig denkbaren Weg für ihre Zukunft zu beschreiten: ein Mann zu werden. Die in ihrem Chat verbundene Gruppe hatte sie über solche Einzelheiten aufgeklärt. Man erhielt dort auch Adressen von verständnisvollen Ärzten und Psychotherapeuten, Experten, die zum Teil aufgrund ihrer eigenen Geschlechtsumwandlung die Probleme Transsexueller kannten. Während die Mutter versucht, ruhig zu bleiben und den Kontakt zu ihrer Tochter nicht zu verlieren, verliert der Großvater die Fassung, als er bei einem Besuch seiner Tochter vom Wunsch seiner Enkelin hört. Er schlägt mit der Faust auf den Tisch, dass die Frühstücksteller klirren, dann, erschrocken über den so wenig pädagogischen Affekt (denn er ist Lehrer für Deutsch und Geschichte), streichelt er wie in einer Geste der Wiedergutmachung die schmerzende Unterkante der rechten Hand und seufzt. »Entschuldigung. Ich will es ja nicht schwerer machen, als es ist. Aber es ist doch klar: Ohne diese komische Versammlung, diesen Chatroom oder wie ihr das nennt, hätte das Kind den Gedanken längst wieder aufgegeben. Früher hat man gesagt, dass der Blinde den Lahmen stützt und der Lahme den Blinden führt. Heute scheint es so zu sein, dass Blinde und Lahme ihre eigenen Chatrooms haben, wo sie sich die Überzeugung abholen, dass es eine wunderbare Sache ist, blind zu sein oder lahm, und man sich deshalb wechselseitig beraten muss, wie man noch blinder, noch lahmer werden kann.« »Du übertreibst, Papa!« »Natürlich übertreibe ich. Ich kann mich auch noch ganz gut an meine eigene Pubertät erinnern. Ich fand es auch Mist, in einer Welt erwachsen zu werden, in der man so viel lernen sollte und so wenig tun konnte. Wir haben Karl May gelesen und uns in den Wilden Westen geträumt, wo Büffel, Bären und feindliche Indianer einem die Frage abnahmen, was sinnvoll ist an einem Leben, das vor allem darin besteht, auf Dinge zu warten, die dann doch nicht kommen, und das bis zum Ende des Studiums so weitergeht. Wie oft habe ich etwas gedacht wie: Stop the world, I want to get off. Aber es war doch auch klar, dass das nicht geht und dass es das Beste ist weiterzumachen!« »Möchte mal wissen, wer den Spruch erfunden hat«, sagt die Tochter nachdenklich. »War das nicht etwas mit Musik?« »Es ist ein Musical aus den 1960er-Jahren, eine Tragikomödie. Ein Mann macht Karriere, heiratet eine reiche Erbin und kapiert nicht, dass die Liebe zu dieser Frau sein Leben erfüllen könnte. Er hat Abenteuer mit anderen Frauen, fühlt sich aber immer wieder enttäuscht und möchte aussteigen. Erst nach dem Tod seiner ersten Liebe entdeckt er, was sie ihm bedeutet hat, und opfert sich für ein Enkelkind. Der Spruch soll ein Graffito sein, das die Autoren an einer Mauer gelesen haben.« »Aber dann verstehst du doch, dass meine Tochter ein Mann sein möchte?« »Natürlich verstehe ich, dass sie aussteigen möchte. Aber sie müsste doch klug genug sein, es nicht in diese Sackgasse zu machen! Seit sie Testosteron schluckt, ist nichts besser geworden. Ihre Haut ist schlechter, ihr Gesicht gröber, ihre Stimme rau.« »Sein Gynäkologe hat gesagt, dass Testosteron auf ihn so wirken werde, als hätte er Pubertät und Menopause in einem.« »Merkst du, wie du da redest? Sein Gynäkologe?« »Wie soll ich sonst sagen? Er sagt das auch so, mein Gynäkologe. Wo soll er denn sonst hingehen?« »Ich finde es falsch, das zu unterstützen. Sie wird kein richtiger Mann und ist keine richtige Frau mehr!« »Ach Papa, du bist hoffnungslos altmodisch. Das gibt es doch längst nicht mehr, diese biologische Definition von Geschlecht. Mann sein, Frau sein, das sind soziale Konstruktionen, wie homosexuell sein oder heterosexuell.« »Dass man Männer begehrt oder Frauen oder beides, das ist doch völlig in Ordnung und etwas ganz anderes, das wusste schon Platon. Zuerst einmal sollten Frauen und Männer ihren eigenen Körper lieben, würde ich sagen. Und diesen Körper kann man doch nicht einfach stoppen und aussteigen, als ob man in den falschen Bus geraten wäre!« »Ich habe doch keine andere Möglichkeit. Wenn ich versuche, sie zu dem zu bringen, was du für vernünftig hältst, bricht sie den Kontakt ab. Ich habe Angst um sie. Sie braucht mich doch. Ich würde auch zu ihr halten, wenn sie Drogen nimmt oder magersüchtig wird. So, wie es jetzt ist, hat er immerhin ein Ziel, er will Maschinenbau studieren. Seit dieser Idee mit der Geschlechtsumwandlung hat er bessere Noten in Mathe und Physik.« »Meine Güte, bin ich froh, dass ihr mir dieses Problem nicht gemacht habt! Und wie soll das weitergehen? Will sie … will er sich dann umoperieren lassen?« »Er sagt, dass er das noch nicht weiß. Sein Wunsch wäre es, aber bei der Operation kann viel schiefgehen, außerdem ist sie teuer und wird nicht von der Kasse bezahlt. Er hat eine Freundin, die das mit ihm durchstehen will.« »Ich hatte schon früher so eine Ahnung, sie könnte lesbisch sein.« »So darfst du nicht reden. Er legt Wert darauf, dass er empfindet wie ein Mann und dazu verurteilt war, im falschen Körper zu leben.« »Wenn das so weitergeht, haben wir noch Paare, bei denen eine Frau, die ein Mann sein möchte, mit einem Mann zusammenlebt, der eine Frau sein möchte. Die haben dann Verständnis füreinander.« »Sei nicht sarkastisch! Es ist leicht, sich zu empören, aber schwer zu verstehen. War die Welt früher besser, als solche Mädchen ihre Wünsche nicht ausformulieren konnten, weil es diese Echokammern nicht gab?« »Ich fürchte, dass das niemand weiß. Aber wohin soll das führen? Und können wir es uns auf Dauer leisten? Je mehr Echokammern, desto weniger Übung im Ertragen. Heute möchten alle siegen. Aber Rilke sagt: Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles!17 Es geht doch um … Trauerarbeit. Die ist zu leisten, wenn ich lieber eine Frau wäre, aber eben als Mann geboren bin. Wenn es keine andere Möglichkeit gibt, als im Kopf dem Körper zu folgen, dann muss das eben abgetrauert werden. Solange niemand eine Nase schöner operieren kann, muss die Psyche den Konflikt zwischen Ideal und Wirklichkeit verarbeiten. Aber sobald die kosmetische Chirurgie eingeführt wird, muss ich nicht mehr meine Gedanken ändern, ich kann meine Nase ändern. Die Front der Ärzte und Psychologen spaltet sich, manche fordern nach wie vor, die Psyche müsse das leisten, andere finden das grausam, denn es sei doch viel wirksamer und einfacher, die Nase zu ändern als die Bewertung der Nase.« »Aber du kannst doch nicht bestreiten, dass jemand besser mit dem Leben zurechtkommt, weil er endlich die Nase hat, die er schon immer haben wollte?« »Aber die große Nase war genauso gesund – hat vielleicht sogar besser funktioniert als die operierte! Sie war etwas Persönliches, nichts Angepasstes. Haben wir nichts Wichtigeres zu tun?« »Anscheinend nicht.« »Ich habe in der Zeit ein Protokoll entdeckt – ein 36-jähriger Psychologe, der sich den Penis größer operieren ließ.18 Er hat sich immer schlecht ausgestattet gefühlt, hat sich in der Sauna und in öffentlichen Duschen vor anderen Männern geschämt und die Hand vorgehalten. Die Operation hat über zehntausend Euro gekostet, und der Penis ist jetzt im nichterigierten Zustand nicht mehr nur sechs Zentimeter, sondern zwölf Zentimeter lang, liegt also über dem Durchschnitt deutscher Männer mit neun Zentimetern. Die Operation war ambulant, schmerzhaft und kompliziert, weil der Penis gestreckt werden musste, bis alles verheilt war. In der Operation wird vor allem Fett eingespritzt. Der Mann hat jetzt keine Angst mehr, sein Glied in der Sauna zu zeigen – er macht jetzt womöglich anderen Angst, die nicht aufgespritzt sind. Er berichtet auch, dass er mehr Freude am Sex hat.« »Was seine Freundin zu dem Unternehmen sagte, steht nicht im Protokoll?« »Kein Wort. Das ist auch mir aufgefallen. Wenn sie zufrieden ist, warum etwas ändern? Aber es geht um ihn, um seine Ängste. Der Freud-Schüler Ferenczi hat von der Männerfantasie berichtet, der Penis sei zu klein. Er sieht darin eine Störung des Selbstgefühls. Das Problem fängt wahrscheinlich schon an, wenn jemand daran denkt, seinen Penis zu messen. Der Narzissmus definiert das ideale Körperbild; der Chirurg repariert keinen Schaden, sondern er schädigt gesundes Gewebe, um ein Phantasma zu realisieren.« »Frauen interessiert die Penisgröße weniger als Männer. Guter Sex hat damit nichts zu...