E-Book, Deutsch, 200 Seiten
Schmidbauer KALTES Denken, WARMES Denken
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-96196-135-1
Verlag: kursbuch.edition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Über den Gegensatz von Macht und Empathie
E-Book, Deutsch, 200 Seiten
ISBN: 978-3-96196-135-1
Verlag: kursbuch.edition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Schnelles und langsames Denken ist mit Daniel Kahneman zum geflügelten Wort geworden reicht aber längst nicht aus, um den Reichtum menschlichen Denkens zu erfassen. Wolfgang Schmidbauer erläutert, warum wir auch die Emotionalität integrieren müssen - das warme Denken, wie er es nennt. Es unterscheidet sich vom kalten Denken in erster Linie dadurch, dass es nicht allein der Durchsetzung eines Gedankens oder der geistigen Machtausübung dient, sondern die ganze, illustre Bandbreite der Gefühle mitnimmt. Es spaltet das eigene Empfinden nicht von der Logik des Gedachten ab, sondern hält den Zugang zu ihm ebenso offen, wie es Nebengedanken im Sinn empathischer Phantasien zulässt, die sich mit den Gefühlen beschäftigen, die bei den Angesprochenen ausgelöst werden.
In seinem neuen Buch verhandelt Wolfgang Schmidbauer die prototypischen Bereiche des kalten und warmen Denkens, die Jurisprudenz auf der einen, die psychologische Empathie auf der anderen Seite. Dazwischen der Mensch. Und das, was er von der Temperatur von Gedanken lernen kann.
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Einleitung:
Zwischen seelischer Kraft und seelischer Not »Es erben sich Gesetz’ und Rechte Wie eine ew’ge Krankheit fort; Sie schleppen von Geschlecht sich zum Geschlechte, Und rücken sacht von Ort zu Ort. Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage; Weh dir, daß du ein Enkel bist! Vom Rechte, das mit uns geboren ist, Von dem ist, leider! nie die Frage.« 1 Das warme Denken unterscheidet sich von dem kalten dadurch, dass es auf dem Weg »ins Wort« nicht allein der starren Durchsetzung des Gedankens und der geistigen Macht über die Angesprochenen dient, sondern die ganze Bandbreite der Welt der Gefühle mitnimmt. Es spaltet das eigene Empfinden nicht von der Logik des Gedachten ab, sondern hält den Zugang zu ihm ebenso offen, wie es Nebengedanken im Sinn empathischer Phantasien zulässt, die sich mit den bei den Angesprochenen ausgelösten Gefühlen beschäftigen. Prototyp des kalten Denkens ist die Jurisprudenz, weit mehr als Mathematik und Naturforschung. Das juristische Denken gebietet ausdrücklich Versachlichung, Objektivierung und Ferne zu Subjektivität und Einfühlung. Mathematik und experimentelle Wissenschaften hingegen sind nach allen Richtungen neutral und entwickeln keine Widerstände, wenn es darum geht, Gefühle zu erforschen. Den besten Zugang zum warmen Denken, auf der anderen Seite, hat die Kunst behalten, aber auch Medizin und Psychologie haben reiches Wissen in diesem Feld gesammelt. Neben dem chemischen und physikalischen Effekt von Medikamenten wirkt die »Droge Arzt«, wie Michael Balint diesen Faktor nennt – die persönliche Beziehung. In dem Grenzgebiet von Medizin, Psychologie, Pädagogik und Religionswissenschaft, in dem die Psychotherapie angesiedelt ist, gilt warmes Denken als unverzichtbar. Psychotherapeuten sind wohl auch die Berufsgruppe, die besonders intensiv miterlebt, wie viel Schaden kaltes Denken anrichtet. Wie wir sehen werden, schwächeln die Disziplinen, denen am meisten daran gelegen sein müsste, Menschen vor geistigen Kälteschäden zu schützen. In Medizin und Psychotherapie werden juristisch denkende Söldner angeworben, die das vom warmen Denken geprägte Territorium verteidigen sollen. Wie die Geschichte lehrt, neigen solche Söldner aber dazu, Macht an sich zu reißen und jene zu unterwerfen, die sie als Beschützer und Helfer eingeladen haben. Parallel dazu beobachten wir in der Öffentlichkeit ein Streben nach narzisstischem Gewinn durch Moralisieren, das ich vor einigen Jahren als Helikoptermoral beschrieben habe.2 Eine kalte Verallgemeinerung moralischer Erregung wird missionarisch propagiert; die sogenannten »seriösen« Medien sind hier kaum vorsichtiger als die Boulevardpresse. Ein kleines Beispiel: 3 Am 1. Dezember 2018 interviewt der Redakteur Martin Wittman den 64-jährigen Schauspieler Rainer Bock, einen Mann, der als bescheiden und selbstkritisch dargestellt wird, viele Nebenrollen sehr gut gespielt hat und jetzt allmählich Hauptrollen – auch in Hollywood – bekommt. »Interviewer: Vor ein paar Jahren hieß es, Sie seien der Autoritätspersonen müde. Sie sagten: ›Es sei denn, Woody Allen wollte mich als Polizist.‹ Gilt das heute noch? Schauspieler: Das ist keine ernst gemeinte Frage, oder? Interviewer: Durchaus. Schauspieler: Weil Allen in Zusammenhang mit Missbrauch steht? Ich kann nicht beurteilen, was da in dieser Familie abgelaufen ist. Interviewer: Darum geht es nicht. Es geht darum, dass es der Karriere seit der ›MeToo‹-Debatte nicht mehr zuträglich sein dürfte, in einem Film von Allen mitzuspielen. Schauspieler: Ich habe noch nie darüber nachgedacht, was meiner Karriere hilft. Interviewer: Sie kokettieren.« Der Schauspieler hat irgendwann einmal einen Scherz gemacht, in dem sein Respekt vor dem Filmemacher Woody Allen deutlich wird. Der Reporter will ihn in seinen Empörungshelikopter holen, während der Schauspieler an die realistischen Möglichkeiten denkt, interessante Rollen zu spielen. Rainer Bock ist zu höflich, um sich gegen den moralisierenden Übergriff zu wehren. In Zeiten der Helikoptermoral müssen anständige Menschen, die ihre Arbeit gut machen möchten, um ihren Ruf fürchten, wenn sie sich der Empörung verweigern. In der Tat scheint es der Reporter für selbstverständlich zu halten, dass niemand mehr Woody Allen für einen interessanten Filmemacher halten darf. Es ist eine Welt, in der sich Menschen zur Geltung bringen, indem sie möglichen Opfern ihr Leid wegnehmen und als Anwälte dieser Opfer gegen mögliche Täter vorgehen. Dieses Manöver unterstützt seine Konsumenten, die Scham abzuwehren, die ein mitfühlender Betrachter empfindet. Solange ein wenig wehrhaftes Geschöpf misshandelt, bedroht und ausgebeutet wurde, haben die Zeugen dieses Geschehens den Blick abgewandt und sich der Aufgabe entzogen, den sexuellen Übergriff zu benennen. Ritterliches Verhalten ist rar. Dieses würde weder die Machtposition des Täters noch seine mögliche Rache fürchten. Wenn der Drache zahnlos geworden ist und in Schlingen zappelt, kostet es keinen Mut, die Attacke zu reiten. Jetzt ist das Mitgefühl mit den Opfern gespielt. Es dient einzig dazu, die Rache an Tätern oder Verdächtigen auszuleben und sich angesichts ihrer Erniedrigung aufzuwerten. Der Fragestil des Reporters ist ein trüber Abglanz dieser Dynamik. Indem er weder zu Woody Allen noch zur Person des Interviewten das Geringste beiträgt, jedoch als »Information« auftritt, erkennen wir die grausame Banalität einer Reportage, die Vorurteile bedient. Empathie in die mögliche Unschuld von Geächteten, die in so vielen Literaturen präsente Erzählung von den zu Unrecht angeklagten und ohne Urteil bestraften Opfern von Verleumdung kommt in dem erregten Moralisieren der Gegenwart nicht vor. Moralisten interessieren sich weder für Opfer noch für Täter, sondern nur für sich selbst. Sie haben sich zu Anwälten der Opfer ernannt. Sie verkünden nun jenseits aller ordentlichen Prozessführung ihr Urteil und rufen nach dem Henker. Menschen sind keine Sachen. Sie sind Subjekte, atmende, erlebende Wesen mit einer komplizierten Innenwelt, die sich mit anderen Wesen verbinden. Jeder von uns lebt in einer ganz eigenen Welt. Die für unser Lebensgefühl besonders bedeutsamen Liebesbeziehungen sind durch die subjektive Überzeugung charakterisiert, dass wir einander mit einer Liebe lieben – während die Realität der Beziehungskonflikte doch lehrt, dass es auch bei Eheleuten, Geschwistern, Eltern und Kindern immer zwei Lieben gibt, deren oft krasse Differenzen erst im Konfliktfall bewusst werden. Subjektive Überzeugungen und innere Bilder der Wirklichkeit sind Gegenstand der Psychologie, während sich die Rechtsprechung auf die Verhältnisse zwischen Sachen und Subjekten konzentriert und – um zu funktionieren – jedes Geschehen zwischen Menschen erst einmal versachlichen muss. Die Sozialisation in den Juristenberuf gleicht in vieler Hinsicht der medizinischen Sozialisation. Angehende Ärzte 4 erfahren im Anatomiekurs, dass sie sich über ihre empathischen Hemmungen hinwegsetzen müssen, mit Skalpell und Pinzette einen menschlichen Körper zu präparieren.5 Die Pioniere der psychosomatischen Medizin, Georg Groddeck und Alexander Mitscherlich, haben beide diesen Beginn des Studiums an der Leiche erwähnt und als Wurzel der Probleme von Medizinern mit Psychotherapie und Psychologie thematisiert. Eine Parallele in der juristischen Sozialisation findet sich im Scherz über den Jurastudenten, der mit seinem Professor auf einen Turm steigt. Beide betrachten das vielfältige Geschehen auf Straßen und Plätzen. Der Professor fragt: »Was sehen Sie?« Der Student beginnt, eifrig aufzuzählen: »Männer, Frauen, Kinder, Autos, Radfahrer, Häuser, Bäume, Hunde, Straßenlaternen …« »Falsch!«, sagt streng der Professor. Der Student ist perplex, der Professor gibt die richtige Antwort: »Rechtsobjekte und Rechtssubjekte! Mehr nicht!« Die Rechtswissenschaften sind das Esperanto der Moderne. Je komplexer Wirtschaft und Staat werden, desto mehr bürokratische Regelungen werden entworfen; wer solche Regeln konzipiert und zu Papier bringt, orientiert sich automatisch an der juristischen Sprache. Wenn ich einen Verein gründe, um einem Anliegen einen formalen Hintergrund zu geben, muss ich die Satzung einem Juristen vorlegen. Ich werde mich im Vorgriff auf diese Situation bemühen, so zu schreiben, wie er es erwartet. Größere Organisationen haben für diese Aufgaben ihre eigenen Juristen an Bord. Wo verwaltet wird, wo Gesetze angewendet oder neue Gesetze entworfen werden, sind Juristen tätig. Längst haben auch die Standesvertretungen der Psychotherapeuten, die primär in einer ganz anderen Denkweise geschult wurden, neben dem ehrenamtlichen Vorstand einen angestellten Juristen in ihrer Geschäftsführung. Das Gleiche gilt selbstverständlich für politische Parteien, die – wie einst die Grünen – in kritischer Distanz zur verwalteten Politik begonnen haben. Wo auch immer wir den intimen Bereich der emotionalen Regulierung von Aufgaben und Beziehungen verlassen, beginnt die verwaltete Welt. Wer in sie eindringt, kommt fast unweigerlich an den Punkt,...