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E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Schmidt Midlife-Crisis
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-641-30844-5
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Von den feministischen Ursprüngen eines Männer-Klischees
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-641-30844-5
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Neuerzählung der Lebensmitte
Wir alle kennen das stereotype Bild des Mannes, der sich in der berühmten Midlife-Crisis befindet: Seines Alltags als Ehemann und Vater überdrüssig, geht er »nur schnell Zigaretten holen« und braust mit der neuen Freundin im Sportwagen davon, um für immer zu verschwinden. Doch das verbreitete Klischee männlicher Selbstfindung ist nicht der einzige Entwurf der Lebensmitte. Im Gegenteil: Der Begriff Midlife-Crisis hat feministische Ursprünge. Bekannt machte ihn die New Yorker Journalistin Gail Sheehy in ihrem Bestseller Passages (1976) um der zunehmenden Unzufriedenheit von Frauen mit ihrer Mutter- und Hausfrauenrolle einen Namen zu verleihen. Die Midlife-Crisis im Sinne eines Neuanfangs in den mittleren Lebensjahren einer Frau, verbunden mit weiblichem Aufbegehren und dem Kampf gegen tradierte Geschlechterrollen, verbreitete sich als ein Konzept der Frauenbewegung der 1970er- und 1980er-Jahre. Im weiteren Verlauf eigneten sich konservative Psychologen, Psychiater und andere Experten den populär gewordenen Begriff an, deuteten ihn radikal um und besetzten ihn neu: Die Midlife-Crisis als männliches Phänomen, gleichbedeutend mit dem Ausstieg der Playboys aus dem Familienleben, war geboren - samt aller mit dieser Idee einhergehenden anti-feministischen Implikationen. Susanne Schmidt erzählt den packenden wissenschaftshistorischen Krimi von der patriarchalen Vereinnahmung eines Konzepts, das der Frauenbewegung entstammt, und lädt zu einer Rückbesinnung auf das emanzipatorische Potenzial der Midlife-Crisis ein.
Susanne Schmidt, Historikerin, forscht und lehrt zu Themen der Wissenschaftsgeschichte, Geschlechtergeschichte und Globalgeschichte. Sie wurde an der University of Cambridge promoviert und unterrichtete in Harvard, an der Freien Universität und der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2025 ist sie Assistenzprofessorin an der Universität Basel. Ihre Arbeiten wurden mit verschiedenen Preisen, u.a. der Gesellschaft für die Geschichte der Wissenschaften, der Medizin und der Technik, ausgezeichnet.
Weitere Infos & Material
1 Einleitung Kaum jemand hätte wohl erwartet, dass die Geschichte der Midlife-Crisis ihren Anfang mit einer schockierenden Szene inmitten eines Massakers nimmt, und noch weniger, dass eine Frau diese Geschichte erzählen würde. »Es geschah in Nordirland: Ich arbeitete für eine Zeitschrift und unterhielt mich gerade mit einem Jungen, als ein Geschoß sein Gesicht zerschmetterte. Britische Panzerwagen rasten in die Menschenmenge. Soldaten mit Sturmgewehren sprangen aus den Panzern. Sie überschütteten uns mit einem Kugelhagel. Der Junge ohne Gesicht fiel auf mich.«1 Am Blutsonntag, dem 30. Januar 1972, töteten und verwundeten britische Soldaten Zivilistinnen und Zivilisten, die gegen die Internierung Hunderter vermeintlicher IRA-Mitglieder protestierten. Gail Sheehy, Journalistin beim New York Magazine, war nach Derry gereist, um über die Rolle der Frauen in der IRA und die irische Autonomiebewegung zu berichten.2 Vier Jahre später wurde Sheehy einer breiten internationalen Öffentlichkeit als Autorin des Buches Passages: Predictable Crises of Adult Life (1976) bekannt, das binnen weniger als einem Jahr unter dem Titel In der Mitte des Lebens ins Deutsche übertragen wurde. Mit diesem Bestseller, so möchte ich zeigen, hielt der Begriff »Midlife-Crisis« in den Vereinigten Staaten und weltweit nicht nur im Alltagsleben, sondern auch in der Wissenschaft Einzug. Sheehys Buch beginnt mit der Beschreibung ihres eigenen Zusammenbruchs nach dem »Bloody Sunday«. Sie führte ihren mentalen Zustand teilweise auf das Trauma in Nordirland zurück, aber auch auf die Notwendigkeit, das eigene Leben an der Schwelle zum 40. Lebensjahr neu zu bewerten und es zu verändern. Sheehy beschloss, wie sie schreibt, »über diese sogenannte Midlife-Crisis alles herauszufinden, was ich konnte«.3 Heute ist die Midlife-Crisis ein gängiges geschlechtsspezifisches Klischee, das Bilder von männlichem Vergnügen und Verantwortungslosigkeit heraufbeschwört – ein wohlhabender Mann mittleren Alters, der mit einer halb so alten Frau in einer roten Corvette davonrast. Doch die Midlife-Crisis wurde ursprünglich als feministisches Konzept bekannt. Sheehys eigene Midlife-Crisis manifestierte sich in einem Nervenzusammenbruch, der sich über sechs Monate ihres Lebens und zehn Seiten ihres Buchs erstreckte. Er war mit der Beobachtung zweier politischer Ereignisse verbunden, dem traumatisierenden Blutsonntag in Nordirland und dem katastrophalen Parteitag der Demokraten im Juli 1972, bei dem Konflikte innerhalb der Frauenbewegung die erste nationale Versammlung des National Women’s Political Caucus (NWPC), einer parteiübergreifenden Organisation zur Erhöhung des Frauenanteils in politischen Ämtern, lahmlegten.4 Sheehy kam auf ihre eigene Krise in Passages nicht wieder zurück, es ging ihr vielmehr darum, die Midlife-Crisis als ein universelles Phänomen zu etablieren. Als literarisches Mittel zielten autobiografische Bezüge darauf ab, die Autorin authentisch wirken zu lassen. Doch die von Sheehy beschriebene Gefahr wäre wohl den meisten ihrer Leserinnen und Leser fremd gewesen. Die Selbstdarstellung als Kriegsberichterstatterin und politische Kommentatorin mag ihre Glaubwürdigkeit und ihr Ansehen als Schriftstellerin gestärkt haben, die detaillierte Schilderung ihres Zusammenbruchs jedoch drohte das Gegenteil zu bewirken: »Sie werden dich für verrückt halten«, warnte Sheehys Lektorin.5 1.1. Passages von Gail Sheehy: Predictable Crises of Adult Life (1976, dt. 1977 In der Mitte des Lebens: Die Bewältigung vorhersehbarer Krisen). Sheehys Bestseller ist für das von Milton Glaser entworfene Cover bekannt: eine regenbogenfarbene Treppe. Kräftige Farben und der großformatige Schriftzug verliehen dem Buch Aufmerksamkeit und signalisierten zugleich Seriosität. Vor allem jedoch erzeugte die Analogie zwischen dem tödlichen Konflikt in Nordirland und der Midlife-Crisis einer Jetset-Journalistin ein gewisses Unbehagen. Sie erinnerte an die Beschreibungen von Ernest Hemingway und anderen, die den Krieg als Initiationsritus der männlichen Persönlichkeitsentwicklung beschrieben – nur dass Sheehy über Frauen sprach. Und genau das war der Punkt. Indem sie die Midlife-Crisis in den Kontext des »Bloody Sunday« und des Women’s Caucus stellte, zeigte Sheehy, dass es in der Lebensmitte um die Emanzipation von Frauen und den Kampf für deren Rechte ging – sei es mit Waffen, wie bei der IRA, oder mit dem langen Marsch durch die Institutionen, der auf dem Parteitag der Demokraten der USA begann. »Das Private ist politisch.«6 Sheehy verwendete den von dem kanadischen Psychoanalytiker und Unternehmensberater Elliott Jaques in den 1950er-Jahren geprägten Begriff »Midlife-Crisis« – der bis dahin weder unter Experten noch in der breiteren Öffentlichkeit bekannt war –, um zu beschreiben, wie Frauen ihr Leben im Alter von ungefähr 35 Jahren überdachten, wenn in einer typischen Mittelschichtfamilie das jüngste Kind eingeschult wurde. Sie fragten sich: »Was gebe ich mit dieser Ehe alles auf?«, »Warum musste ich so viele Kinder bekommen?«, »Warum habe ich meine Ausbildung nicht abgeschlossen?«, »Nutzt mir mein Abschluss überhaupt noch etwas, nachdem ich so lange nicht berufstätig gewesen bin?«, »Soll ich wieder berufstätig werden?« oder »Warum hat mir nie jemand gesagt, dass ich wieder arbeiten gehen muss?«7 Männer machten laut Sheehy ebenfalls eine Midlife-Crisis durch, allerdings auf andere Art und Weise. Während Frauen die Rolle der Hausfrau und Mutter gegen eine berufliche Karriere eintauschten, kehrten die Männer der Arbeitswelt den Rücken zu. Viele durchlebten mit ungefähr 40 Jahren eine Phase der Unzufriedenheit. Bei manchen geriet die Karriere ins Stocken, andere verloren sogar ihren Job – es war die Zeit der Ölkrise und des Börsencrashs von 1973. Doch es konnte auch die Erfolgreichen treffen. Sheehys Paradebeispiel für eine männliche Midlife-Crisis war ein etablierter und international erfolgreicher New Yorker, eine Koryphäe auf seinem Gebiet – wahrscheinlich der Grafikdesigner Milton Glaser, bekannt durch das »I NY«-Logo. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere fühlte er sich gezwungen, innezuhalten und sein Leben zu hinterfragen, und er erkannte, dass seine Erfolge zulasten des Glücks und der Selbstverwirklichung seiner Frau gegangen waren. Während sie wieder zur Uni ging, belegte er einen Kochkurs.8 Passages, das Ideen aus Betty Friedans The Feminine Mystique (1963, dt. 1966 Der Weiblichkeitswahn oder die Selbstbefreiung der Frau: Ein Emanzipationskonzept) mit David Riesmans Ansätzen in The Lonely Crowd (1950, dt. im gleichen Jahr, Die einsame Masse) vereinte, gab der Unzufriedenheit von Frauen mit dem häuslichen Ideal und der Selbstentfremdung der Männer in der Arbeitswelt einen neuen Namen.9 Das von der Kritik gefeierte und breit rezipierte Buch machte die Midlife-Crisis weithin bekannt. Zwei Jahre lang stand es auf den amerikanischen Bestsellerlisten, länger als jeder andere im selben Jahr erschienene Titel. Grob geschätzt lasen mindestens acht Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner Sheehys Buch, und weitaus mehr kannten es aus Rezensionen, Auszügen und Interviews mit der Autorin, die in Zeitungen und Fachzeitschriften abgedruckt wurden, oder aus den Bücherregalen ihrer Freundinnen und Verwandten. In Umfragen der Library of Congress in den 1980er- und 1990er-Jahren wählten Leserinnen und Leser Passages unter die zehn Bücher, die ihr Leben am meisten beeinflusst hatten – nach der Bibel und Friedans The Feminine Mystique.10 Auch international erregte die Midlife-Crisis enormes Interesse. Sheehys in 28 Sprachen übersetztes Buch erreichte ein Publikum in ganz Nordamerika und Westeuropa, außerdem in asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern und im Südpazifik. In manchen Besprechungen war von einem »Weltbestseller« die Rede.11 * Die Geschichte der Midlife-Crisis wurde noch nie erzählt. Zwar enthalten die meisten Veröffentlichungen zum Thema eine kurze Entstehungsgeschichte. Allerdings sind diese Zusammenfassungen, die oft in einleitenden Bemerkungen oder knappen Exkursen präsentiert werden, von einem stillschweigenden Konsens geprägt. So hält eine Psychologieprofessorin fest: »Die Midlife-Crisis begann ganz unschuldig unter dem nicht ganz so reißerisch wirkenden Namen ›Midlife-Transition‹. Ein Psychologe von der Yale University namens Daniel Levinson veröffentlichte ein Buch […] mit dem Titel The Seasons of a Man’s Life. […] Der deutlich prägnantere Ausdruck ›Midlife-Crisis‹ stammt von der Journalistin Gail Sheehy, deren eigenes Buch...