Schmidt Please leave the bus hier
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-446-27874-5
Verlag: hanserblau in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Bus, sechsundzwanzig Haltestellen, eine Berlinerin erzählt
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-446-27874-5
Verlag: hanserblau in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
„Susanne Schmidt ist eine scharfe Beobachterin deutschen Sozialverhaltens." Die Zeit
Busfahren in Berlin: des einen Leid, des anderen Freud. Aber immer ein Griff in die Wundertüte. Susanne Schmidt ist ehemalige Busfahrerin und fährt noch immer mit Leidenschaft gerne Bus – nur eben als Passagierin. Wir begleiten sie im M19 quer durch die Großstadt vom Villenviertel im Berliner Westen, über Deutschlands bekannteste Shoppingmeile in Charlottenburg bis zum Gemüsedöner nach Kreuzberg.
Anhand einer Buslinie porträtiert Susanne Schmidt die Menschen. Liebevoll, scharf beobachtet, voller wahrhaftiger Begegnungen, und unvorhergesehener Überraschungen, von denen man gerne liest - und die einem manchmal bekannter vorkommen, als einem lieb ist.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Januar
Anfang und Veränderung
M19 — Mehringdamm / Bülowstraße / Kurfürstendamm / Europa-Center
An Silvester herrscht normalerweise Ausnahmezustand. Mit Beginn des Feuerwerkverkaufs versinkt die Stadt in einer Wolke aus Euphorie und Angst. Wer Berlin kennt, ist in diesen Tagen ständig auf der Hut, denn die voreiligen Knallkörper können aus allen Richtungen kommen, werden aus Fenstern geworfen, in U-Bahn-Eingänge oder in die sich schließenden S-Bahn-Wagen. Wer kann, fährt irgendwo anders hin. Wer nicht kann, trägt Mützen, Ohrenschützer oder Regenschirme. Alle anderen genießen diese wilden Tage und Nächte zwischen den Jahren. Berlin ist kaum wiederzuerkennen — die Bürgersteige sind voller brandgefährlicher Kartons, denn Feuerwerk darf an jeder Ecke verkauft werden, und normal gültige Regeln der Rücksichtnahme werden vor, zu und nach Silvester Nebensache. Die Lust auf ein bisschen allgemein anerkannte Anarchie ist groß. Die Silvesternacht selbst gleicht einer rauschenden Orgie. Nur eine Sorge stört: »Bin ich wirklich auf der angesagtesten Party des Jahres?« Nach den ersten Getränken, Küssen, Tänzen, nach den ersten Griffen zum Nudelsalat oder den Austern, der zweiten vielleicht oder doch nicht veganen Bulette kommen die Zweifel. Die Gefahr rüttelt an allen Champagnerflöten, nur durch das Feiern im falschen Haus nicht mehr dazuzugehören im neuen Jahr, die Drohung, das Highlight dieser Nacht zu verpassen. Die Angst davor, zu feiern und doch den größten Spaß zu verpassen, den einen Moment nicht mitzuerleben und noch Jahre später davon erzählt zu bekommen, dass man nicht dabei war. Tausendfach werden ähnliche Sätze gesprochen, so verlegen wie zielstrebig: »Ach, weißt du eigentlich, wie schön du heute bist und wie froh ich über deine Einladung bin? Nächstes Jahr feiern wir bei mir, und du bist dann mein Ehrengast. Aber heute muss ich leider jetzt gleich los.« »Es war wirklich ganz toll hier mit dir und dir und dir. Mit euch allen! Aber James und Johannes warten schon auf mich, ich musste ihnen schwören, sie zu besuchen, noch im alten Jahr, sonst sprechen sie nie wieder ein Wort mit mir.« »Verpeilt wie ich bin, habe ich Kim und Leander fest versprochen, noch vorbeizukommen, und ihr seid mir doch nicht böse, oder, wenn ich schon verschwinde?« »Rutscht gut rein, wir sehen uns im nächsten Jahr, tschüsschen mit Küsschen, ihr Lieben. Es war schön hier. Wir sehen uns im neuen Jahr!« »Ich würde liebend gern noch bleiben, aber jetzt muss ich wirklich los!« Und runter die Treppen auf die Straße in der Hoffnung, ein Taxi zu erwischen oder wenigstens irgendeine schnelle Mitfahrgelegenheit. Auf den Straßen ist längst jede Zurückhaltung passé. Es ist diese eine Nacht, die alles erfüllen muss. Freie Taxis sind Mangelware. Der Frust, warten zu müssen, ist riesig, denn die Zeit steht nicht still, egal, wer du bist. Silvester ist plötzlich sehr stressig. Zum Glück haben die Spätis auf, ein kaltes Bier und ein Schokoriegel beruhigen für einen Moment. Und dann kommt zwischen Böller- und Raketenrauch ein gelbes Licht angerattert, hält und öffnet alle Türen. In der Silvesternacht gibt es kein besseres Verkehrsmittel als den Bus. Dicht gedrängt stehen und sitzen die Fahrgäste, schwenken Sekt- oder Bierflaschen, singen, grölen, kommen sich schnell näher, tauschen kleine Küsse und Getränke, machen sich blaue Flecken und laute Beschimpfungen. Wer mit lachendem Gesicht einsteigt, wird mit übermütigem Jubel begrüßt. Eine abenteuerliche Fahrt durch die lauteste Nacht des Jahres beginnt. Spätestens ab 23 Uhr ist alles außer Rand und Band, Leute tanzen mitten auf den großen Kreuzungen, die Luft wird immer dicker, und mit jeder weiteren Ladung Böller aus China oder Polen wird die Sicht schlechter. Bald schon kann man die Häuser auf der gegenüberliegenden Seite nicht mehr sehen. Menschen tauchen auf und verschwinden im Nebel der Raketen. Lichter sprenkeln den bedeckten Himmel, ein verirrter Superheuler erschreckt selbst die abgebrühten jungen Männer. Der Busfahrer behält die Nerven und schleicht im Schritttempo von ungefährer Haltestelle zu ungefährer Haltestelle. Er muffelt dabei gerne vor sich hin und freut sich innerlich über den Feiertagslohn und die frechen Blicke und Sprüche der Damen und Herren. Am Brandenburger Tor steigt die größte Silvesterparty des Landes. Hunderttausende Gäste aus aller Welt reisen extra an, um die außergewöhnliche Atmosphäre zwischen Livemusik und Moderation, Bratwurst und Falafel, Bier und Champagner im Gedränge mitzuerleben. Sie lieben dieses atemlose Durcheinander unter freiem Himmel, umgeben von den Bäumen und Wiesen des Tiergartens. Sie lieben den wohligen Schauer dieser unvorhersehbaren Stunden und erzählen zu Hause begeistert von ihren Fahrten in den verkehrten Bussen, der Freundlichkeit der anderen. Je später der Abend, umso sorgloser wird die Stimmung unterwegs. »Feiern kannste überall, wo’s was zu trinken gibt. Und Musik!«, sagt sich der angesäuselte Berliner und hält sich an der Mitteltür fest. Luftschlangen und Liederfetzen wehen über die Sitze, und auf den Stehplätzen wird geschunkelt. In den langen Schlenkerbussen tanzen die Fahrgäste schon mal die engste Polonaise des Abends und fahren einfach bis irgendwohin, wo es ihnen lustig genug erscheint, um auszusteigen. Auf das eigentliche Ziel kommt es gar nicht so genau an, sobald gleichgesinnte Menschen aufeinandertreffen. Auf den hinteren Plätzen schlafen manche ihren ersten Rausch kurz aus, um an der Endhaltestelle ins Gebüsch zu pinkeln und erleichtert in den nächsten Bus zu springen. Es ist so einfach, sich für eine Nacht zu verlieren und später aufzuwachen, ohne zu wissen, ob man etwas verpasst oder im Zentrum des Vulkans alles miterlebt hat. Die Busse fahren schließlich zuverlässig die ganze Nacht lang durch. So herrlich und schrecklich ist es normalerweise. Diesmal aber liegt Silvester in einer schweren Welt. Die Pandemie zerstört seit langen Monaten Leben und Alltag; das Virus trägt den Tod in einer Häkeltasche aus Luftmaschen durch alle Länder, über alle Grenzen. Es teilt wahllos aus: Krankheit, Angst, Entsetzen, Sterben. Die großen Feiern fallen erneut aus, um Ansteckungen zu vermeiden. Das Feuerwerk fällt auch ins Wasser: Es gibt keinen Verkauf in Berlin, um Feuerwehr und Krankenhäuser zu entlasten. Im weiteren Umland sind die Regeln etwas anders. Aber insgesamt ist es sehr still, und die Straßen sind verlassen. Das neue Jahr wird höchstens in ganz kleinem Rahmen und vor allem privat begangen. Viel zu feiern ist im zweiten Jahr der Pandemie nicht, viel zu hoffen umso mehr. Die meisten bleiben zu Hause, gehen früh ins Bett, betrinken sich am Nachmittag, heulen zusammen in die Sofakissen und beschwören insgeheim alle guten Geister. Man kann frisch getestet ins Kino gehen und den Jahreswechsel dort mit einem Glas Sekt und einem ausgewählten Film angenehm verpassen. Man kann allein oder zu zweit auf die »Berliner Berge«, den Kreuzberg oder den Teufelsberg, klettern und auf eine winzige Stimmung und ein paar Raketen aus den Vorräten der letzten Jahre zählen. Und man kann in den Bus steigen und sich einfach treiben lassen. Ich verstaue eine kleine Flasche Sekt, packe Luftschlangen und Wunderkerzen dazu und gehe voller Neugier zur Haltestelle. Unterwegs entspanne ich nach ein paar Hundert Metern, denn es gibt kaum andere Menschen auf den Straßen, und vor...