E-Book, Deutsch, 280 Seiten
Schmidt Über die Vergänglichkeit
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-89684-560-3
Verlag: Edition Körber-Stiftung
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Philosophie des Abschieds
E-Book, Deutsch, 280 Seiten
ISBN: 978-3-89684-560-3
Verlag: Edition Körber-Stiftung
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Alles, was wir anfangen, geht seinem Ende entgegen; vom Moment der Geburt an ist der Mensch Abschieden ausgesetzt. Ein souveräner Umgang mit dieser existenziellen Erfahrung kann uns helfen, Vergänglichkeit als Teil des Lebens anzuerkennen. Ina Schmidts Philosophie des Abschieds inspiriert zu einer ebenso wichtigen wie tröstlichen Gedankenarbeit.
Die Autorin führt uns vor Augen, in wie vielfältigen, all täglichen ebenso wie außergewöhnlichen Zusammenhängen wir Abschied nehmen. Denn es sind ja nicht nur Menschen, von denen wir uns verabschieden, sondern auch Erwartungen und Empfindungen, Überzeugungen und Gewissheiten. Abschied zu nehmen heißt auch, sich der eigenen Verletzlichkeit und Sterblichkeit zu stellen.
So schärft Schmidt unseren Blick für die Vielfalt von Vergänglichkeit und zeigt zugleich, dass wir in kleinen wie in großen Abschieden lernen können, dem Phänomen der Vergänglichkeit gestaltend und reflektierend zu begegnen. Das bedeutet nicht, dass Verluste automatisch leichter, Schmerz erträglicher oder Entscheidungen einfacher werden. Doch wenn wir den Abschied als kulturelle und individuelle Praxis begreifen, können wir lernen, das Ende zu akzeptieren.
Autoren/Hrsg.
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Ein paar Worte zum Anfang Wer hat uns also umgedreht, dass wir was wir auch tun, in jener Haltung sind von einem, welcher fortgeht? Wie er auf dem letzten Hügel, der ihm ganz sein Tal noch einmal zeigt, sich wendet, anhält, weilt – so leben wir und nehmen immer Abschied. RAINER MARIA RILKE »DUINESER ELEGIEN« Der Blick aus dem Fenster meines Arbeitszimmers hat sich verändert – nicht durch den Wandel der Jahreszeiten oder die über die Zeit immer höher gewachsenen Bäume, nicht durch das neue Auto der Nachbarn oder den frisch gestrichenen Carport. Nach fast zwanzig Jahren brauchte es nur wenige Tage – und alles sieht anders aus. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite wurde ein Haus abgerissen, ein altes Haus, das schon eine Weile leer stand. Im letzten Jahr war das Fundament gebrochen, es bestand Einsturzgefahr; der Anblick aber hatte sich kaum verändert. Ein schleichender Verfall vielleicht, allmählich verwitterndes Mauerwerk, Moos auf dem Dach oder die Dachrinne, in der das Laub aus dem Herbst einfach den Winter überdauerte. Ein Ort, der ein wenig aus der Zeit gefallen zu sein schien. Eine Vergangenheit konservierend, die in keine Gegenwart mehr münden konnte und keinen neuen Anfang in sich trug. Als in den letzten Tagen die Bagger die Einzelteile des Hauses wie Spielzeug auseinanderrissen, die Treppe in einem Stück im Container landete, der Blick auf ein fast noch intaktes Badezimmer frei wurde und unweigerlich Bilder eines vergangenen Lebens in diesen Räumen vor meinem inneren Auge auftauchten, hatte diese Zerstörung etwas eigenartig Ambivalentes. Auf der einen Seite ging hier etwas auf brutale Weise zu Ende, das einmal der Rahmen für ein Leben gewesen war, und zugleich erschien dieser Ort seit Langem wieder lebendig, im Aufbruch begriffen, eine Leerstelle, offen für eine Zukunft. Nun schaue ich aus dem Fenster und sehe nicht mehr als die Anwesenheit einer Abwesenheit, einen leeren Raum für etwas, das kommen wird, ohne erkennbar zu sein. Es wirkt kahl, ein wenig traurig und trostlos, was dort zurückgeblieben ist, und gleichzeitig fast einladend, wie eine Möglichkeit, die ergriffen werden will. Am Ende ist es nicht mehr und nicht weniger als eine Baulücke, und doch verändert es meinen Blick, zumindest den aus dem Fenster. Solche Bilder begegnen uns überall, mitten im Alltag. Oft nehmen wir sie kurz wahr und gehen weiter, manchmal aber bleiben wir stehen und schauen genauer hin, halten tatsächlich kurz inne: Wie leben wir mit der Vergänglichkeit von Dingen, Orten und Ereignissen und letztlich mit dem Wissen, dass unser ganzes Leben unvermeidlich zu Ende gehen wird? Häuser werden irgendwann abgerissen oder einstürzen, Überzeugungen geraten ins Wanken, Moden überleben sich selbst, und politische Systeme brechen zusammen. Auch wir selbst und all das, was für uns von Bedeutung ist, wird irgendwann der Vergangenheit angehören. Manches für immer, anderes wandelt sich und wird zu etwas Neuem. Darin liegt keineswegs eine überraschende Einsicht, aber so selbstverständlich sie uns erscheint, so sehr trifft sie uns manchmal in ebendieser Endgültigkeit, und es ist bei aller Selbstverständlichkeit schwer, wirklich mit ihr zu leben. Wie also verorten wir uns in diesem lebendigen Spiel aus Kommen und Gehen, aus Anfang und Ende, aus Verwundbarkeit und Heilung? Was soll bleiben und kann es dennoch nicht? – Wir bewahren Vergangenheit und erworbenes Wissen in unseren Erinnerungen, kulturellen Gepflogenheiten, Traditionen und Gedenkzeremonien, und doch wandelt sich auch diese gut gepflegte und konservierte Vergangenheit im Laufe der Jahre und Generationen. Mit dieser Ambivalenz der Vergänglichkeit, die unser Leben bestimmt und der wir dennoch zu widerstehen versuchen, beschäftigen wir Menschen uns, seitdem wir denken können. In der griechischen Antike sah Platon die produktive Seite der Vergänglichkeit: Er hielt die Angst vor der eigenen Sterblichkeit für die wichtigste Bedingung menschlicher Schaffenskraft. Epikur hingegen war rund eine Generation später überzeugt, dass die eigene Vergänglichkeit den Aberglauben fördere und uns in der Verteidigung unserer Glaubenssätze zu den gefährlichsten und grausamsten Taten verleite. Die Not von Abschieden, Trennungen und Verlusterfahrungen ist das Thema uralter Mythen, bestimmendes Motiv in Literatur, Poesie und Musik. Und immer haben wir Menschen dem Wandel der Zeit, der eigenen Endlichkeit etwas entgegenzusetzen versucht – um mit dieser größtmöglichen Kränkung durch die eigene Vergänglichkeit einen Umgang zu finden: ein Vermächtnis und Erbe, das über uns hinausreicht und vielleicht sogar das eigene Ende hinauszuzögern vermag. Insbesondere seit Beginn der Neuzeit streben wir nach technischem und wissenschaftlichem Fortschritt, um unser Leben länger, gesünder und bedeutsamer zu machen, mit immer neuen Höhepunkten in den jüngsten Erkenntnissen der medizinischen Forschung, smarten Lebensformen oder der fast lückenlosen Dokumentation unseres Lebens auf Social-Media-Plattformen. Wir wollen um die Vergänglichkeit wissend das Ende so wenig wie möglich mitdenken, das Leben festhalten, Veränderungen als Chance zu Wandel und Aufbruch verstehen und den letzten Abschied so lang es nur geht hinauszögern. Ganz egal, ob es dabei um ganz persönliche Einsichten, um gesellschaftliche Visionen oder faktenbezogene Prognosen geht: Das drohende Ende auszuhalten, fällt schwer. Doch warum können wir Endlichkeit so schwer akzeptieren, bis hin zur Negation des eigentlich Unvermeidlichen? Ist die Einsicht in die Vergänglichkeit von lebendigen Prozessen wirklich so unerträglich, oder ließe sie sich nicht auch in ein erfülltes und glückliches Leben integrieren? Wäre sie vielleicht sogar die Voraussetzung dafür? – Und wenn nicht: Müssen wir uns dann vielleicht mit der Vergänglichkeit abfinden, um dem Wesen des Lebens auf den Grund zu gehen, die Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit aber soweit wie möglich vermeiden, um diese Bedrohung überhaupt ertragen zu können? So wie es schon Epikur empfahl, der sicher war, dass Tod und Leben sich ausschließen, wir im Leben also über das Leben nachdenken sollten, nicht aber über dessen Abwesenheit. Beiden Standpunkten lässt sich im bloßen Nachdenken etwas abgewinnen, welchen wir individuell akzeptieren können, erweist sich aber oft erst an konkreten Lebensstationen. Das ist nicht nur eine Frage der ganz persönlichen Einstellung oder Haltung, denn die Offenheit eines Endes, über dessen Zeitpunkt wir nichts wissen, und die Unverfügbarkeit einer Erklärung, die die Vergänglichkeit des Lebens für uns sinnvoll und begreifbar machen könnte, überfordert jeden von uns in seiner verunsichernden Grausamkeit. Auf sehr grundsätzliche Weise will das nicht zu unseren kulturellen Denkmustern und Ansprüchen passen, die den meisten Fragen des Lebens mit einer modernen Zielstrebigkeit und Daueroptimierung begegnen. Bei aller Kritik an einer gegenwärtigen Lebensweise, die sich diesem Denken in Gänze verschrieben hat, lassen sich aber auch gute Gründe für sie anführen: Selbstverständlich streben wir danach, unser Leben so lang und so gut wie möglich zu leben, warum auch nicht? Und wir scheinen doch einiges erreicht zu haben, um der Vergänglichkeit, der Zerbrechlichkeit und Verwundbarkeit lebendiger Zusammenhänge und Organismen, uns selbst eingeschlossen, zu begegnen. Warum sollten wir damit nicht einfach weitermachen? Schauen wir uns (in unserem westlichen, postindustriellen Umfeld) um: Die Errungenschaften in Wissenschaft und Forschung, im Gesundheitswesen und Bildungssystem ermöglichen es uns tagtäglich, ein einigermaßen sicheres Leben zu führen, Leid und Not zu lindern, Krankheiten zu heilen und sogar den Tod zumindest ein wenig hinauszuschieben. Dass wir mit diesen Errungenschaften neue Formen der Zerstörung und Ausrottung kultivieren, ist zwar eine wichtige Beobachtung, die zu neuen Fragen Anlass gibt, aber nichts an der grundlegenden Überlegung ändert, welche den einzig möglichen Einwand zu einem auf Verbesserung und Verlängerung ausgerichteten Leben darstellt. Denn selbst wenn wir den zivilisatorischen Fortschritt seinem Wesen nach als positiv ansehen, ändert der mögliche zeitliche Aufschub bzw. die Verlängerung eines einzelnen Lebens nichts an der eigentlichen Frage: Wie gehen wir mit seinem weiterhin unvermeidbaren Ende um? Und zwar als zeitliche Befristung ebenso wie im Sinne der quantitativen Grenzen des Mach- und Schaffbaren. Mit den Grenzen des Wachstums auf der globalen Ebene gilt es sich ebenso auseinanderzusetzen wie mit den Grenzen, die unserem eigenen Leben gesetzt bleiben. Vergänglichkeit und die uns darin begegnende Endlichkeit bleibt ein Faktum: Sie ist keine Option, die wir wählen oder ablehnen könnten. An dem Ziel, Lebendigkeit festzustellen, auf Dauer festhalten zu wollen, oder jenseits der Vergänglichkeit so etwas wie Unsterblichkeit zu versprechen, können wir zumindest gegenwärtig nur scheitern. Dass wir dieses Unvermögen als Scheitern empfinden, liegt aber nicht etwa daran, dass wir uns (noch) nicht genug angestrengt haben, sondern vielmehr daran, dass wir die Endlichkeit als Wesenszug aller Lebendigkeit nur ungern anerkennen wollen. Denn trotz unserer Bestrebungen, durch Stammzellenforschung, Nanotechnologie oder bizarre Konservierungsversuche der Kryonik der eigenen Endlichkeit zu entkommen – zumindest gegenwärtig werden wir weiter mit dieser Grenze leben und ganz besonders sterben lernen müssen. Diese Einsicht könnte uns also zu dem Schluss veranlassen, dass wir doch zu einer Vermeidungsstrategie aufgerufen sind, die uns ein gelingendes und...