E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Schmitt Die Legenden von Andor - Das Lied des Königs
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-440-14866-2
Verlag: Kosmos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-440-14866-2
Verlag: Kosmos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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DER WACHSAME WALD
Als Chada die Baumkrone erreicht hatte, konnte sie sehen, wie die Sonne an diesem Herbstabend langsam hinter dem Horizont verschwand und den Wachsamen Wald in Gold tauchte. Sie trug wie die meisten Bewahrer ein grünes Leinenhemd, darüber einen langen Umhang, und ihr kurzes schwarzes Haar hatte der Wind zerzaust. Ihren Bogen Audax, den sie immer bei sich trug, hatte sie über die Schulter gelegt. Hier oben im Baum der Lieder war ihr Lieblingsplatz. Von hier aus konnte sie im Süden die Gipfel des Grauen Gebirges sehen, an dessen Fuß das Reich der Schildzwerge lag. Im Westen ließ sich der Fluss Narne erkennen, die Lebensader von Andor. Dahinter begann das Rietland, in dem die Burg von König Brandur stand. »Chada, was machst du denn noch da oben? Du solltest längst an deinem Pult sitzen!« Auf Chadas fein geschnittenem Gesicht mit den dunklen grünen Augen zeigte sich Unwillen und die friedvolle Stimmung verflog, als sie Melkarts Stimme hörte. Der Oberste Priester der Bewahrer hatte ihr die Aufgabe zugeteilt, einen Bericht über die letzten Erntetage im Wachsamen Wald zu schreiben. Eine langweilige und, wie Chada fand, völlig unnütze Aufgabe. Es war nicht das erste Mal, dass er sie ermahnte, sie zu Ende zu bringen. »Ich weiß, dass du mich gehört hast, Chada!« Melkart klang ungehalten. Chada fiel es schwer, ihrer Aufgabe als Bewahrerin nachzukommen und Berichte niederzuschreiben, und schon der Gedanke daran machte sie ungeduldig. Viel lieber wollte sie durch den Wachsamen Wald streifen oder – und das wäre wirklich das Beste! – das Land Andor erkunden. Doch das war unmöglich, denn die Bewahrer durften die Grenzen ihres Waldes nicht überschreiten. Gab es bedeutende Geschehnisse im Land, kamen die Menschen hierher und berichteten davon. Die Aufgabe der Bewahrer war es, sie in das Archiv, den Baum der Lieder, aufzunehmen, um sie so vor dem Vergessen zu schützen. Chada erhob sich und kletterte geschickt auf allen vieren den dicken Ast entlang, auf dem sie gesessen hatte. Zwar hatte sie eine diebische Freude daran, Melkart zur Weißglut zu bringen, doch durfte sie auch nicht zu weit gehen. Melkart war, ganz abgesehen davon, dass er der höchste Würdenträger der Bewahrer war, auch das, was einem Vater für Chada am nächsten kam. Aber vor allem hatte er wenig Verständnis, wenn man seinen Anweisungen nicht folgte. Als sie den mächtigen Stamm erreichte, lief sie so schnell wie möglich die hölzerne Treppe zur Schreibstube des Obersten Priesters hinunter. Melkart empfing sie mit einem missbilligenden Blick. Sein braunes Haar lag offen über den Schultern, feine Linien durchzogen sein schmales Gesicht und verliehen ihm etwas Ehrwürdiges. Ordnung und Gewissenhaftigkeit waren seine obersten Prinzipien. Umso erstaunter war Chada über den schwarzen Rußfleck auf seinem ansonsten makellosen Gewand. Doch Melkart beachtete ihren fragenden Blick nicht. »So geht das nicht weiter, Chada. Du musst lernen, deine Aufgaben zu erfüllen. Zeit ist ein kostbares Geschenk und wir sollten sie nicht mit Tagträumen vergeuden!« Sie wollte etwas erwidern, doch Melkart ließ sie nicht zu Wort kommen. »Du wirst diesen Bericht jetzt zu Ende bringen! Andernfalls werde ich mir überlegen, ob du an der nächsten Jagd teilnehmen darfst.« »Was?! Aber ich übe seit Wochen dafür!« Die Jagd im Wald war für die Bewahrer ein besonderes Ereignis. Die Bogenschützen stellten ihr Können unter Beweis und am Ende des Tages wurde der Beste von ihnen vom Obersten Priester geehrt. Nicht daran teilnehmen zu dürfen, war für Chada die härteste Strafe, die sie sich vorstellen konnte. »Dann solltest du vielleicht deine Aufgaben genauso gewissenhaft erfüllen wie dein Bogenschießen! Du wirst so lange hierbleiben, bis der Bericht fertig ist.« Ergeben setzte sich Chada an den Tisch. Während sie überlegte, wie sie anfangen sollte, glitt ihr Blick über die Regale in dem halbrunden Raum, die bis oben hin mit Pergamenten gefüllt waren. Immer wieder wunderte sie sich, wie Melkart es schaffte, den Überblick zu behalten. Nie musste er nach etwas suchen, denn allem hatte er eine Nummer oder einen Buchstaben gegeben. Diese Ordnung erschien Chada fast schon unheimlich, sie selbst suchte eigentlich ständig irgendetwas. Melkart hatte sich ebenfalls an sein Pult gesetzt und zu arbeiten begonnen. Chada tauchte die Feder ins Tintenfass und fing an: Wir schreiben das Jahr 59 nach andorischer Zeit. Ein langer Sommer liegt hinter uns. Die Alten sagen, es sei der heißeste, den es jemals gegeben habe, aber ich glaube, das sagen sie fast jedes Jahr … Selbst im Wald war die Hitze an manchen Tagen kaum zu ertragen gewesen, erinnerte sich Chada. Doch es gab Waldpilze und Apfelnüsse im Überfluss und alle hatten sich über die reiche Ernte gefreut. Und wenn dann später im Jahr die fahrenden Händler mit ihren Waren kommen würden, hätten die Waldbewohner sicher noch genug zum Tauschen übrig. Ein Stoß gegen ihren Ellbogen ließ Chada zusammenzucken. »Du musst es nicht nur denken, sondern auch zu Pergament bringen.« Melkart sah sie tadelnd an. »Unsere Aufgabe ist es, die Geschehnisse im Land festzuhalten. Diese Verantwortung trägst auch du! Aber wie ich sehe –« Weiter kam er nicht, denn Chada war aufgesprungen und zum Fenster geeilt. »Hast du diesen Schrei gehört, Melkart?« Der Oberste Priester sah Chada irritiert an und für einen Augenblick lauschten beide angestrengt, dann polterte er los: »Jetzt ist es aber genug! Meine Geduld ist am Ende! Die nächste Jagd ist für dich gestrichen. Du wirst sofort hinausgehen und die Löschfässer kontrollieren. Vielleicht kommt dir ja dabei die Einsicht, wie wichtig unsere Berichte und Legenden sind!« Chada wusste zwar, dass die Löschfässer noch gut gefüllt waren, aber ihr war klar, dass jedes Widerwort alles nur noch schlimmer machen würde. Wütend verließ sie das Archiv. Sie war sich ganz sicher, etwas gehört zu haben. Seltsam hatte der Schrei geklungen, nicht wie der eines Menschen. Sie eilte die Treppe hinunter, die spiralförmig in den gigantischen Stamm gehauen war. Am Ende der Treppe verließ Chada den Stamm durch eine große Pforte. Sie blieb stehen und lauschte, doch es war nichts zu hören. Sie blickte nach oben auf die schweren Löschfässer, die mit Tauen an den Ästen befestigt waren, und seufzte tief. Die Fässer mussten immer gefüllt sein, damit die Bewahrer bei einem Brand schnellstmöglich eingreifen konnten. Der Baum der Lieder stand auf einer Lichtung und war umgeben von großen Mammutbäumen. Jetzt am Abend lag der Platz verlassen und still da. Chada lief den schmalen Weg entlang, der zum Brunnen führte, und wollte gerade den ersten Eimer mit Wasser füllen, als sie plötzlich ein Jaulen hörte. Sie stellte den Eimer ab und lauschte. Das Geräusch kam aus dem Wald. Chada schlich leise durch das Gehölz. Immer wieder blieb sie stehen und horchte. Da! Das Jaulen kam aus einer Tanne, deren dichte Zweige bis auf den Boden reichten. Leise näherte sie sich, schob vorsichtig einen großen Ast zur Seite – und blickte in die leuchtend grünen Augen eines großen grauen Wolfs. Chada hielt erschrocken inne. Auch der Wolf starrte sie unverwandt an. Und dann, ehe sie sich versah, schnappte er zu, grub seine bleichen Zähne in ihren Umhang und zerrte sie unter die Tanne. Chada wimmerte, doch der Wolf hatte sie schon wieder losgelassen. Er stand über ihr und seine Schnauze berührte beinahe ihre Nase. Chada roch Blut und Fleisch in seinem Atem. Mit rasendem Herzen blieb sie liegen. Unfähig, klar zu denken oder sich zu bewegen. Alles, was sie sah, waren diese zwei smaragdgrünen Augen. Und plötzlich erkannte Chada, dass sie schon einmal in diese Augen geblickt hatte. Bevor sie wusste, wie ihr geschah, schleckte ihr der Wolf mit seiner rauen Zunge über das Gesicht. Chada blinzelte ungläubig. In diesem Moment hörte sie Schritte. Chada erstarrte. Zu dieser späten Stunde ging kein Bewahrer mehr in den Wald! Der merkwürdige Schrei kam ihr wieder in den Sinn und erst jetzt wurde ihr bewusst, wie weit sie sich von der Lichtung am Baum der Lieder entfernt hatte. Sie machte sich klein und rutschte näher an den Wolf heran, dabei bemerkte sie eine tiefe Wunde an seinem Hinterlauf. Die Schritte kamen näher und ein Schnauben war zu hören. Als Chada durch die Äste spähte, konnte sie zuerst kaum etwas erkennen, aber plötzlich tauchte nur wenige Schritte vor ihr eine Gestalt auf, gewaltig und Furcht einflößend. Die Kreatur war größer als ein Mensch, der Kopf hatte etwas Raubtierhaftes und ihr stachelbewehrter Schwanz peitschte über den Waldboden. Ein ekelerregender Gestank nach Blut und faulem Fleisch ging von ihr aus. Chada hatte solch ein Wesen noch nie gesehen, aber aus den Büchern im Baum der Lieder wusste sie, dass dies ein Skral sein musste. Eine Dunkle Kreatur, ungeheuer stark, die Siedlungen überfiel und Menschen fraß. Doch wie war das möglich? Wie konnte ein Skral den Wachsamen Wald betreten, ohne von den Wächtern am Waldrand entdeckt zu werden? Die Kreatur hob den Kopf und jäh gellte ein Schrei durch die Nacht. Das war es also, was sie gehört hatte! Einen Augenblick später antwortete aus der Ferne ein ähnlicher Schrei. Dann war es still. Chada drückte sich tiefer in die Zweige. Der Wolf neben ihr hatte die Ohren aufgestellt und lauschte angespannt. Nach einem schier endlosen bangen Moment setzte sich die Gestalt wieder in Bewegung. Immer noch starr vor Schreck blieb Chada sitzen. Als sie sich endlich wieder rühren konnte,...