Schmitter | Inneres Wetter | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 202 Seiten

Schmitter Inneres Wetter

Roman
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-406-77430-0
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 202 Seiten

ISBN: 978-3-406-77430-0
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eines Frühlingsmorgens schlägt Bettina Melker ihren beiden Geschwistern einen Überraschungsbesuch bei ihrem verwitweten Vater vor. Er wird 77, im Oktober, am Nationalfeiertag. In den Monaten bis zu dem Fest verdichten sich die Spannungen im Leben der alternden Kinder – als ob sie Rechenschaft ablegen müssten vor einem beobachtenden Auge. Doch schließlich reisen sie mit ihren Partnern oder dem Hund – und mit einigen Selbstzweifeln – ins beschauliche Westfalen. Was hält Familien zusammen? Woran bemisst sich ein gelungenes Leben? Mit viel Sinn für Komik und einer eigenwillig schönen Sprache erzählt Elke Schmitter in ihrem neuen Roman von einem Familientreffen auf schwankendem Grund.
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Bettina Melker 17. 4. 2014, 06:47 An: kupfer.s@aol.com; hub.erta@privatpost.de
cc: moracosta@privia.com Betreff: der Oktober, der wird Liebe Zwei, liebe Mora, dieses Läuten kommt früh, aber ich wollte doch schon vorsichtig die Geburtstagsglocke Vater betätigen, weil ich annehme, dass auch Ihr (wie ich + family) nicht unbedingt zu Weihnachten auf Zug oder Autobahn wild seid, es mir aber doch scheint, ein gemeinsamer Besuch wäre angebracht zum 77. – oder eben christmas, jedenfalls noch in diesem Jahr. Überraschungsvisite wäre denkbar, sein Geb. fällt auf einen Samstag; wenn er nichts Besonderes plant (kann man ja telefonisch in Erfahrung bringen), könnten wir Freitag anreisen und mit ihm reinfeiern. Und da in ganz Deutschland gefestet wird, sind die Autobahnen nicht so voll, und wir hätten alle den Sonntag wieder zu Hause. Für Johannes u Sophie kann ich noch nicht sprechen, aber ich denke, die Kerntruppe Geschwister sollte sein, alles andere fakultativ nach Lust & Zeit; was meint Ihr? –- Hier ist alles in Ordnung, viel zu tun, der übliche Kram und noch ein bißchen mehr (neue Nachbarschaftswebsite, endlos viele Details, die mich langweilen und: überfordern; das geht gut zusammen, man weiß nur nicht, was Henne, was Ei); ich hoffe, bei Euch auch – hat Adriana schon ihre große Reise geplant? Sophie ist intensiv mit ihren kids beschäftigt, die Mohameds von Spandau sind natürlich interessanter als bürgerliche Eltern;–) Herzlichst, Bettina Drei weiße, langgezogene Streifen durchziehen den frisch gewaschenen, blauen Himmel, als Sebastian Kupfer, die schwarze Ledertasche unter dem Arm, am Gleis Richtung München steht. Heute Abend wird er den Rasen nicht sprengen müssen, gestern hat es ausgiebig geregnet; so stark, dass man es durch das Küchenfenster hörte, durch das Klappern und die Gespräche am Tisch, und noch einmal, als er im Bett die letzten Akten durchsah. Die Luft ist kühl. Aber das Wollfutter seines Mantels wurde schon im Keller verstaut, Frau Elsner hat mit seiner Frau die Garderobe für Frühjahr und Sommer sortiert; dabei war auch die blaue Badehose wieder aufgetaucht, die noch immer gemischte Gefühle in ihm auslöst. All die Bahnen sind darin verwahrt, die er im Müller’schen Volksbad gezogen hat, möglichst am Beckenrand, um an einer Seite Ruhe zu haben. Der wattierte und zugleich verstärkte Klang der Stimmen, der ihn im Hintergrund begleitete, der wechselnde Chlorgeruch – alle zwei Wochen besonders stark, dann abklingend Tag um Tag –, das leuchtende Türkis der Kachelung, das weiche, durchsichtige Wasser. Mäandernde Gedankenreste, die irgendwann von einem festen, beunruhigenden Vlies zu einem lockeren Gewebe wurden, die Bewegungen seines Körpers, sein Prusten und Schnaufen, das Glickern des Wassers, das Mitzählen der Bahnen und die erwärmte Luft mit ihrem diffusen Strom von menschlichen Geräuschen – all dies hatte ihn trudeln lassen in einen Zustand von aufgelöster Zufriedenheit. Sein Leib, jetzt gerade verwahrt in einem möwengrauen Anzug aus leichtem, aber knitterfestem Stoff, erinnerte sich an die zahllosen Nachmittage im Freibad, an das Schreien und Jauchzen in sicherer Entfernung, an die braun-gelb karierte Decke im Gras, auf der er ganze Science-Fiction-Kosmen durchwandert hatte; anfangs vollkommen hingegeben, später untergründig gelangweilt von der Vorhersehbarkeit der Konflikte, von der ärmlichen Sprache, von der Durchschaubarkeit der Figuren, die sich, bis auf charakterstarke Ausreißer, in gut und böse einteilen ließen wie die Heiligen und die Sünder in der Bibelschule von Pater Immanuel. Er mustert die Handvoll Menschen, die mit ihm auf dem Bahnsteig stehen, und wünscht sich diese Sicherheit zurück oder eine Art von Menschenkenntnis, die nicht nur aus flüchtigen Vorurteilen besteht. Oder wenigstens das leidenschaftliche Interesse, mit dem er die Menschen um sich herum betrachtet hat, weil er etwas von ihnen wollte, weil er von einem Begehren nach Bewunderung, nach Liebe oder nur Wahrnehmung getrieben war; eine Leidenschaft, die ihm abhandengekommen ist. Die Türen öffnen sich mit einem pneumatischen Seufzer, und er findet eine Bank am Fenster, wo er sich anlehnen und hinter der Zeitung verschwinden kann, während an jeder weiteren Station Pendler wie er dasselbe versuchen: die Fahrt zu ignorieren; so zu tun, als wären sie ungestört. Doch sie hatten getaugt, die bunten Bücher. Um sich dahinter zu verstecken, um die Zerrissenheit zu kaschieren, die ihn quälte – zu jung, um den Freundinnen seiner Schwestern mehr zu sein als eine selbstverständliche Begleitung. Stark genug, um ihnen die unförmigen Taschen mit den nassen Bikinis, den feuchten Badetüchern und den leeren Thermosflaschen zu ihren Fahrrädern zu tragen; zuverlässig genug, um auf ihre bestickten, kleinen Portemonnaies und ihre neuen Tischtennisschläger aufzupassen; gut genug, um mit ihnen ein Match zu spielen, damit sie die langen Haare fliegen lassen konnten, bis irgendein Kai oder Achim oder die schönen Zwillinge aus der 11b ihn überflüssig machten. Und alt genug, um zu spüren, dass seine Zeit noch nicht gekommen war, dass sie vielleicht nie kommen würde. Er war mollig und ungelenk, sein Haar spielte ins Rötliche, er interessierte sich nicht für Fußball, und es war lange her, dass man ihn «süß» genannt hatte. All das hatte ihn dahin geschoben, in die feuchte Wärme der Halle im heitersten Jugendstil. Er musste etwas für seinen Körper tun – aus Vernunft, auf Anraten von Fassbaur, der vor Rückenbeschwerden warnte («du sitzt den ganzen Tag, Sebastian, und einmal Rasenmähen pro Woche ist wirklich nicht genug –»), und auf die Seitenblicke Moras hin, wenn er morgens das Schlafanzugoberteil über den Kopf streifte und seinen erschlaffenden Bauch spürte wie etwas, das nicht zu ihm gehörte. Damals, in seinen letzten zwei Jahren vor dem Abitur, war er frühmorgens zum Schwimmen gefahren, hatte die Wohnung vor allen anderen verlassen und war so dem Familienfrühstück entgangen, das ihn sonst in seiner Mischung aus gereizter Hektik und Unausgeschlafenheit überfordert in den Tag schickte. Stattdessen hatte er sich in klösterlicher Ruhe, in einem Haus voller Schlafender, zwei belegte Brote gemacht, sie akkurat in seine Frühstücksbox aufeinandergelegt und war durch die stille Vorortsiedlung geradelt, allein mit sich und, wie er im Rückblick feststellte, in köstlicher, vitaler Selbstzufriedenheit. All dies schwang mit, wenn im letzten Sommer der Wecker um fünf Uhr fünfzehn brummte und Mora sich auf die andere Seite drehte, wenn er in der Küche einen Espresso trank und ein Müsli aus einer weißen Porzellanschale verzehrte. Und wenn er in der Kabine stand, das Gemisch aus Plastik, Putzmitteln und Chlor atmete, sein Oberhemd über dem Bügel ordnete und auf nackten Füßen in seiner blauen Badehose zum Spind am Ende des Ganges tappte, wenn er sich das Plastikbändchen um das Handgelenk fummelte und schließlich am langen Beckenrand, da, wo es am tiefsten war, seinen Körper in die Schwerelosigkeit sinken ließ. Erst nach Wochen wurde er gewahr, dass an diesem Ort nicht nur Gewohnheitstiere wie er genügsam ihrer Verpflichtung oder ihrem Vergnügen nachkamen, hin und wieder mit einem höflichen Nicken des Wiedererkennens, aber für sich und ohne Erlebnisbedarf – sondern dass auch hier etwas geschah. Am Rand des großen Beckens, auf der anderen Seite, lief sommers ein dicht tätowierter junger Mann auf und ab und machte hin und wieder akzentuierte Bewegungen; im Herbst wurde er von einer Frau abgelöst, deren Gewandtheit, kraftvoll und von federnder Eleganz, die Aufmerksamkeit auf sich zog. Schwimmunterricht. Er hatte sich beim Lernen immer wohlgefühlt, möglicherweise im Ausgleich für die widersprüchlichen, unvorhersehbaren Anforderungen, die seine Mutter an ihn stellte. Eine Rechenaufgabe meistern, einen Einkauf im Eckladen erledigen, den Müll hinausbringen, das war die Hilfsschule seiner Liebe zu ihr. Dann kam, auf der zweiten Stufe, die systematische Entwicklung dessen, was sie seine Begabungen nannte: das schwarze Piano mit den schweren Verzierungen, der Tennisschläger mit dem noblen, hölzernen Schaft, die Barockflöte und die Esperantobücher gehören zu diesem Inventar der weitgespannten Hoffnungen; all diese Dinge, die, bis auf das Piano, im Keller in diversen Kisten ihrer (seiner) Erlösung harren, so wie...


Elke Schmitter studierte Philosophie in München, seit 2001 ist sie Mitglied der Kulturredaktion des "Spiegel". Ihr Debütroman "Frau Sartoris" (2000) wurde in mehr als 20 Sprachen übersetzt.



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