E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Schneider Janowitz
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-95510-265-4
Verlag: Osburg Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-95510-265-4
Verlag: Osburg Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sommer 1914. In Janowitz, einem mittelböhmischen Schloss, treffen zwei prominente Autoren aufeinander: Rainer Maria Rilke, Lyriker und Romancier, und Karl Kraus, scharfzüngiger Herausgeber der Zeitschrift "Die Fackel". Die beiden kennen sich. Sie pflegen zueinander eine Haltung aus Respekt und Missgunst. Den Anlass dazu liefert ihnen Sidonie von Nádherný.
Sie ist schön, hochgebildet, weitgereist, sie will sich emanzipieren, was ihr in manchem gelingt, doch die Konventionen ihrer Herkunft kann sie nicht abstreifen. Die beiden Literaten werben um ihre Gunst. Kraus ist ihr heimlicher Geliebter, der sie auch heiraten möchte. Rilke erfährt davon. Eindringlich warnt er Sidonie vor der ehelichen Verbindung mit einem Juden, und sie hört auf ihn. Der Erste Weltkrieg bricht aus, von Rilke bejubelt, von Kraus radikal abgelehnt. Der schreibt darüber sein ausuferndes szenisches Werk "Die letzten Tage der Menschheit", Sidonie hilft ihm dabei. Sie lebt weiterhin mit ihm, die Beziehung zu Rilke gibt sie nicht auf. Ihr Verlöbnis mit dem italienischen Aristokraten Guicciardini hat sie bereits zu Kriegsbeginn beendet, ihre spätere Ehe mit dem Arzt Max Thun wird scheitern.
Rilke stirbt. Kraus stirbt. Es wird einsam um sie. Inständig widmet sie sich der Pflege ihres Parkgartens und den Nachlässen der beiden Dichter, bevor die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs und der nachfolgenden Machtübernahme durch die Kommunisten ihre Welt von Grund auf verändern.
Autoren/Hrsg.
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Die letzten Monate waren für Karl Kraus anstrengend gewesen. Der Krieg, dessen Ausbruch er mit eisigem Spott begleitet hatte, verlief genauso, wie insgeheim befürchtet und gegenüber Gesprächspartnern geäußert. Öffentlich kundtun und drucken durfte er das nicht. Es herrschte Zensur. Seine Artikel wollten nicht verboten, sondern gelesen werden. Entsprechend formulierte er sie so, dass der Zensor sie passieren lassen musste und die Leser dennoch erfuhren, was der Verfasser von den Ereignissen hielt. Es hatte viel Zeit gebraucht, und er hatte etliches an Mühe aufbringen müssen, um einen Text fertigzustellen, der solchen Ansprüchen genügte. Die letzte Ausgabe der »Fackel« vor Kriegsausbruch war im Juli 1914 erschienen. Das nächste Heft, Nummer 404, kam erst im Dezember 1914 heraus und bestand ausschließlich aus einem langen Essay des Herausgebers: In dieser großen Zeit, die ich noch gekannt habe, wie sie so klein war; die wieder klein werden wird, wenn ihr dazu noch Zeit bleibt; und die wir, weil im Bereich organischen Wachstums derlei Verwandlung nicht möglich ist, lieber als eine dicke Zeit und wahrlich auch schwere Zeit ansprechen wollen … So fing das an. Die Satzperiode ging weiter und würde fast die gesamte erste Druckseite füllen. Zwei Dinge waren ihrem Verfasser vor allen anderen wichtig: Der Umstand, dass es in dem gegenwärtigen Krieg, so wie in allen Kriegen, um wirtschaftliche Begehrlichkeiten ging. Ich weiß genau, dass es zu Zeiten notwendig ist, Absatzgebiete in Schlachtfelder zu verwandeln, damit aus diesen wieder Absatzgebiete werden. Dann war da noch die Unterstützung des Krieges durch das gedruckte Wort. Der Zeitungsreporter habe den Abglanz heroischer Eigenschaften zur Verfügung, und seine missbrauchte Sprache verschönt ein missbrauchtes Leben. Hier kehrte sein alter Hass auf die Presse zurück, auf ihre Sprache, ihre Verlogenheit, auf das Unheil, das sie stifte. Die Depesche ist ein Kriegsmittel wie die Granate, die auch auf keinen Sachverhalt Rücksicht nimmt. Die schöne Literatur nahm an solcher Praxis teil. Die freiwillige Kriegsdienstleistung der Dichter sei ihr Eintritt in den Journalismus, befand er, dies betrieb nun Gerhart Hauptmann ebenso wie Hugo von Hofmannsthal. Beide Schriftsteller hatte er einst geschätzt und öffentlich propagiert, jetzt veränderte er, und dies nicht zum ersten Mal, seine Haltung radikal. Diese Leute stünden in der vordersten Front, um dafür dekoriert zu werden, dieweil hinter ihnen der losgelassene Dilettantismus kämpfe. Rainer Maria Rilke kam in dem Text nicht vor. Im Manuskript hatte sein Name noch gestanden. Die unerträglichen Kriegsverse, in Janowitz begonnen (Kraus wusste davon durch Sidonie), hatte der Dichter fortgesetzt und auf insgesamt fünf lange Gesänge im hymnischen Hölderlin-Ton ausgeweitet. Inzwischen waren sie gedruckt worden, in München, als Beiträge für einen von mehreren Autoren belieferten Sammelband, der das kriegerische Bewusstsein der Leute befördern wollte. Es hätte keinerlei Mühe gemacht, das mythenschwere Pathos der Gedichte zu verhöhnen. Kraus hatte Rilkes Namen gestrichen. Er hatte es getan, da er Sidonie nicht verletzen wollte, deren Sympathien für den Dichter, wie er wusste, immer noch ungebrochen waren. Er wollte ihr und vor allem sich selbst nicht eingestehen müssen, dass es vielleicht Eifersucht war, die ihn zu seinen Schmähungen trieb. Vor der Drucklegung hatte er den Essay »In dieser großen Zeit« bei einer Lesung vorgetragen, im Wiener Konzerthaus, einer seiner bevorzugten Bühnen. Die Reaktionen der Zuhörer waren beifällig gewesen, Ablehnung hatte niemand geäußert, und von staatlicher Seite hatte es keinen Einwand gegeben. Jetzt hielt er die nächste Ausgabe der »Fackel« in den Händen. Er saß in an seinem Arbeitsplatz. Vor den Fenstern war blasses Vorfrühlingslicht. Er befühlte das rote Papier des Umschlags. Er durchblätterte die Seiten. Er schnüffelte an dem Heft. Der schwache Geruch von Druckerschwärze tat ihm gut. Der Inhalt bestand zum größeren Teil aus den Äußerungen anderer über Krieg und Frieden, Zitate von Schopenhauer, Jean Paul und Bismarck waren darunter. Er selbst schrieb, den gegenwärtigen Krieg betreffend: Als dieses umfangreiche Ereignis über die Menschheit hereinbrach und es allgemein hieß, dass die Maschine von einer Seele bedient werde und letzten Endes auch der Seele dienen werde, da war mein Scherflein der Zweifel, meine Bereitschaft das Schweigen und mein Mut, diesem Schweigen Ausdruck zu geben, damit man wisse, wie es gemeint sei. Derart war alles gesagt. War derart alles gesagt? Er sammelte emsig und wie bisher schon sprachliche Fehlleistungen auf bedrucktem Papier. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich die Ausrisse aus Zeitungen. Vorrangig sammelte er jetzt Äußerungen zum Krieg und überlegte, ob er sie für eine dramatische Arbeit verwenden könne, womit er außerdem seine unstillbare Sehnsucht nach dem Theater bedienen würde, Erfahrungen genügend besaß er, auch durch seinen fortwährenden Umgang mit Stücken Shakespeares, Nestroys und Wedekinds. Hatte sich nicht auch Rilke mehrfach als Dramatiker probiert? Er war sogar gespielt worden, doch ohne besondere Resonanz. Zwischendurch suchte ihn Max von Thun heim. Er mochte den verrückten Mediziner, wie er auch sonst eine Schwäche für skurrile Naturen hatte, aber die immer häufiger werdenden Besuche Thuns begannen ihn zu quälen. Er sei auf dem Weg, eine völlig neue und die gesamte Biologie umstürzende Idee über die Entstehung des Lebens zu verfolgen, sagte Thun, weswegen er sich derzeit ausführlich mit der Existenz, den Erscheinungsformen und der Fortpflanzung von Amöben abgebe. Er legte Papiere vor, auf denen er sorgfältig die wechselnden Gestalten der Einzeller samt Scheinfüßchen oder Pseudopodien nachgezeichnet hatte. Ob Karl Kraus in seine Ordination kommen und dort die Amöben durch ein Mikroskop betrachten wolle? Kraus wollte nicht. Von Biologie verstand er nichts, anders als Sidonie, und das Ansinnen Thuns, einen Text über Amöben in der »Fackel« zu veröffentlichen, musste er ablehnen, da sich seine Zeitschrift ausschließlich mit Dichtung, Sprache und Politik befasste. Thun nahm es zur Kenntnis. Er war erkennbar betrübt. Nach ein paar Tagen erschien er neuerlich bei Kraus und trug sein Ansinnen vor. Bei keinem seiner Besuche vergaß er, sich eingehend nach Sidonie zu erkundigen. Wie ihr Befinden sei? Was sie gegenwärtig unternehme? Seine Worte klangen äußerst schwärmerisch, Sidonie sei eine sehr schöne Frau. Offenbar war er ihr heftig zugetan, wie andere Männer auch, Rainer Maria Rilke etwa. Kraus gab geduldig die erwünschten Antworten und komplimentierte seinen Besucher höflich hinaus. Immerhin war es Thun gewesen, durch den er Sidonie überhaupt kennengelernt hatte. Seit dem Spätsommer hatte Rilke Janowitz und Sidonie nicht wieder besucht, der Dichter und Sidonie verkehrten über Briefe. Für Kraus war das alles kein Anlass, etwa beruhigt zu sein: Rilke konnte von München, wo er jetzt lebte, jederzeit nach Böhmen reisen. Entsprechend gab es für Kraus keinen Grund, seine heimlich ausgetragene Rivalität mit Rilke als beendet und für ihn entschieden zu sehen, schon da Sidonie sich geweigert hatte, mit ihm die Ehe einzugehen. Das Gespräch darüber hatten sie in Janowitz geführt, in Sidonies Schlafzimmer, gegen Mitternacht. Sie lagen nebeneinander, Sidonie steckte sich eine Zigarette an und sagte: Ich bin dir noch eine Antwort schuldig. Ich will sie dir jetzt geben. Ich habe lange darüber nachgedacht, und ich habe mich entschieden, deinen Heiratsantrag nicht anzunehmen. Das ändert gar nichts an unserer Beziehung. Sie wird bleiben wie bisher. Ich liebe dich. Ich liebe dich sehr, aber ich will nicht deine Ehefrau werden. Meine Gründe dafür sind dieselben, die Karl Kraus gegen das Heiraten und gegen das Eheleben immer wieder vorgetragen hat. Sie atmete Tabakrauch ein und aus. Sie streifte Zigarettenasche ab in die Jakobsmuschelschale, die neben ihr auf dem Nachttisch stand. Kraus schwieg. Es war nicht so, dass Sidonies Entscheidung ihn völlig überrascht hätte. Ihr langes Zögern war Hinweis genug gewesen, doch seine Hoffnung war stärker geblieben. Nun, da er die Ablehnung wusste, war ihm, als sei er gezüchtigt worden, wie einst, als er noch ein Kind war, ein schwächliches Kind, das sich gegen die Übermacht Gleichaltriger nicht wehren konnte. Er nahm seine Brille ab und blinzelte ins Leere. Er hustete. Er spürte, wie Sidonie ihm sanft über Haar, Stirn und Wangen strich. Die Berührung erregte ihn nicht, fast war sie ihm lästig. Schließlich fragte er: Willst du lebenslang unverheiratet bleiben? Darüber denke ich nicht nach. Vielleicht bleibe ich es, vielleicht nicht. Deine Absage an mich ist...