E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Reihe: Kampa Salon
Scholz Rocking and Rolling
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-311-70342-6
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
60 Jahre Bandgeschichte in Gesprächen mit Martin Scholz
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Reihe: Kampa Salon
ISBN: 978-3-311-70342-6
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Martin Scholz DIE SONNE, DER MOND UND DIE ROLLING STONES
This could be the last time, maybe the last time, I don’t know, oh no, oh no. »The Last Time«, 1965 Throwback 1982: Die Rolling Stones werden zwanzig. Sie sind auf Deutschland-Tournee – und ich bin nicht dabei. Wie sehr habe ich mich danach gesehnt, eines ihrer Konzerte in Köln zu sehen. »But what can a poor boy do?« Die Tickets sind einfach zu teuer. Ich bin achtzehn, gehe in die zwölfte Jahrgangsstufe des Städtischen Gymnasiums in Gütersloh, einer nicht ganz so kleinen Kleinstadt in Ostwestfalen. Köln liegt nur zweieinhalb Stunden mit dem Auto entfernt, aber am 4. und 5. Juli, wenn die Stones dort spielen, ist es für mich unerreichbar. Ich habe eine Menge Stones-Alben in meinem Zimmer: Let It Bleed, Black and Blue, Some Girls, die Greatest-Hits-Doppel-LP Rolled Gold, Emotional Rescue. Aber live gesehen habe ich die Band noch nie. Wie auch? Zuletzt haben sie 1976 in Deutschland gespielt, da war ich zwölf. Meine große, meine sehr große Befürchtung ist jetzt, dass ich die Rolling Stones nie mehr live sehen werde. Die Band ist schließlich unfassbare zwanzig Jahre alt – im jugendfixierten Musikgeschäft eine halbe Ewigkeit. Mick Jagger, Keith Richards und ihre Kollegen sind zu dem Zeitpunkt erst um die vierzig und gelten dennoch als Rockopas. Ihre Tour bricht weltweit Zuschauerrekorde, aber die Medien sind dennoch überzeugt, es sei ihre letzte. Das Orakel vom Ende der Stones ist schon damals nicht besonders originell, wird es doch seit Jahren gebetsmühlenartig wiederholt, woran die Band selbst allerdings nicht ganz unschuldig ist. 1975 sagte Mick Jagger, damals zweiunddreißig, er wäre lieber tot, als mit fünfundvierzig noch »Satisfaction« zu singen. 1982 ist er zwar erst achtunddreißig, aber ich bin alarmiert, denn all das klingt auch für mich verdammt nach Abschluss. An einem Morgen im Juli ’82 stehe ich mit ein paar Freunden auf dem Schulhof. Noch heute sehe ich deutlich vor mir, wie drei unserer Lehrer sehr beschwingt auf uns zugehen. Gerd Appelmann, Englisch, Rudolf Bülter, Geschichte, und Siegfried Bethlehem, Englisch und Geschichte. Sie sind alle Mitte dreißig und erst vor Kurzem an die Schule gekommen. Sie tragen Jeans, T-Shirts und Karohemden, haben längere Haare (Siegfried Bethlehem trägt seine fast schulterlang) und sehen nicht großartig anders aus als wir Schüler. Als »Überbleibsel der APO« werden wir sie später liebevoll-ironisch in der Abizeitung würdigen. Stones-Fans sind die drei auch. Klar, dass sie vor wenigen Tagen bei dem Konzert in Köln dabei waren. Und genau davon erzählen sie uns jetzt. In allen Details. Überragend sei es gewesen, schwärmen sie unisono und dämpfen die Euphorie sogleich, vielleicht, um dann doch ein bisschen kritische Distanz ihren Schülern gegenüber zu wahren: Natürlich habe man Mick Jagger und Keith Richards nur als Strichmännchen auf der riesigen Bühne sehen können. Dafür sei es ordentlich laut gewesen. Wir hängen an ihren Lippen, wollen mehr wissen. Mit welchem Song haben sie angefangen? – »Under My Thumb«. Was haben sie als Zugabe gespielt? – »Satisfaction«. Dann ist die Pause vorbei, wir müssen zurück in den Unterricht. Dass es mich damals so außerordentlich fuchste, es nicht zum Stones-Konzert nach Köln geschafft zu haben, lag nicht etwa an einer übertriebenen Liebe zu Retroklängen. Als Teenager hörte ich reihenweise andere aktuelle Rock-, Pop- und Jazzrockmusik, ziemlich querbeet: Weather Report, AC/DC, The Police, The Clash, Dire Straits, und ja, ab und zu auch ein bisschen Neue Deutsche Welle. Im Vergleich dazu sind die Stones larger than life, mehr noch, sie sind eine Art Urquelle. Die einzige, die noch sprudelt. 1982 sind die Beatles schon seit zwölf Jahren Geschichte. Nachdem John Lennon 1980 erschossen wurde, war klar, dass es die Fab Four als Liveband nicht mehr geben wird. Von den beiden großen Bands, die in den Sechzigern um den Thron kämpften, sind also nur noch die Rolling Stones übrig geblieben. Sie sind die Letzten ihrer Art, Ikonen einer kreativen Explosion, die viele der nachwachsenden Musikergenerationen auf die eine oder andere Weise angefeuert hat. Deshalb wollte ich sie so gerne sehen. Einmal zumindest: »Catch you dreams before they slip away.« Über die Hintergründe ihrer Songs wusste ich damals ehrlich gesagt noch nicht viel. Ich kannte ein paar Geschichten darüber, wie diese weißen englischen Mittelschichtjungs schwarzen amerikanischen Blues erst nachgespielt und dann erweitert haben, bis am Ende der wilde Sound von Sex and Drugs and Rock ’n’ Roll dabei herauskam. Der Urknall. Ein paar Artikel hatte ich gelesen – von Drogenexzessen, Verhaftungen, Saalschlachten bei ihren frühen Konzerten war die Rede und davon, dass sie von manchen für den Niedergang der Moral verantwortlich gemacht wurden. Nicht zu vergessen die Klassikeranekdote, wonach sie im Kollektiv in aller Öffentlichkeit an einer Tankstelle urinierten und festgenommen wurden. Sie waren gefährlich und glamourös und, ja, auch komisch. Vor allem aber war ich fasziniert von ihrer elektrisierenden Musik. Von früheren Songs wie »Midnight Rambler«, »Get Off of My Cloud« oder »Jumpin’ Jack Flash« ging diese urtümliche, bedrohliche Kraft aus. Aber auch die aktuelleren Alben wie Emotional Rescue und Tattoo You, die ich unmittelbar nach ihrem Erscheinen gekauft hatte, hielten mit Krachern wie »Start Me Up« oder verstörend schönen Bluesklagegesängen wie »Down in the Hole« genügend Höhepunkte bereit. So viele, dass ich mir wünschte, sie würden noch lange weiterspielen. Es ist erstaunlich, dass die Stones auf Leute wie mich, die noch gar nicht geboren waren, als sie 1962 ihr erstes Konzert gaben, diese Faszination ausübten. Niemand hat dieses Kuriosum besser erklärt als Keith Richards, als er 1995 auf die ihm eigene lässig-unbescheidene Art verkündete: »Jeder, der unter fünfundfünfzig ist, weiß, dass es den Mond, die Sonne und die Rolling Stones gibt.« Dass ich die Stones 1982 nicht sehen konnte, war schlimm. Richtig schlimm. Nun wäre es aber auch übertrieben, zu behaupten, dass ich in der ostwestfälischen Provinz bis dahin ganz und gar abgehängt war. Miles Davis und Woodstock-Legende Alvin Lee hatten in Gütersloh gespielt, Spencer Davis sogar in der Aula meiner Schule. Und Alexis Korner, Schlüsselfigur der britischen Bluesrockszene, war ziemlich oft in unserer Gegend aufgetreten, in Minden, Höxter und Beverungen. Korner war übrigens gewissermaßen der Ziehvater der Rolling Stones – und verantwortlich für ihren ersten Auftritt. Am 12. Juli 1962 sollte er mit seiner Band Blues Incorporated im Londoner Marquee Club spielen. Weil er aber kurzfristig am selben Tag bei einer Liveübertragung in den Studios der BBC auftreten sollte, fragte er seine Zöglinge Brian Jones, Mick Jagger und Keith Richards, ob sie für ihn einspringen könnten. Damals nannten die drei sich noch »Rollin’ Stones«, ohne »g«. Dazu hatte sie der gleichnamige Song von Muddy Waters, eines ihrer großen Idole, inspiriert. Erst machten sie aus dem »Stone« die »Stones«, später fügte ihr Manager Andrew Loog Oldham das »g« hinzu. Seitdem heißt es vor nahezu jedem Auftritt: »Ladies and gentlemen – the Rolling Stones.« Jagger und die beiden Gitarristen Richards und Jones wurden im Marquee von Mick Avory am Schlagzeug, Dick Taylor am Bass und Ian Stewart am Piano unterstützt. Avory verließ die Band kurz darauf, um mit Ray und Dave Davies die Kinks zu gründen, er wurde durch Charlie Watts ersetzt. Taylor wechselte zu den Pretty Things, und Bill Wyman übernahm den Bass. Stewart schließlich wurde von Manager Oldham gefeuert, weil der meinte, der Keyboarder passe wegen seines kolossalen Kinns nicht zum Image der Band – und überhaupt seien sechs Musiker einer zu viel. Die Stones hielten Stewart auf ihre Weise die Treue: Er blieb bis zu seinem Tod 1985 als Faktotum in ihrem inneren Zirkel, war Roadie, Fahrer und immer wieder Sessionmusiker. Für Keith Richards war der Auftritt im Marquee, glaubt man seiner Autobiographie Life, der Beginn eines rauschhaften Erlebens auf der Bühne, von dem er bis heute nicht genug bekommen kann: »Da kommt dieser Moment, wo du merkst, dass du tatsächlich ein bisschen von der Erde abhebst und dass dir niemand was anhaben kann. Du bist einfach high, weil du da mit einer Handvoll Typen zusammen bist, die genau dasselbe wollen wie du. Und wenn das funktioniert, Baby, dann wachsen dir Flügel. Das ist wie Fliegen ohne Pilotenschein.« Beflügelt hat die Musik der Stones auch mich. Das kam mir in einem Moment zugute, in dem ich gar nicht damit gerechnet hätte. Im Frühjahr 1983 habe ich mein Abi gemacht. Bis dahin hatte ich es sehr geschätzt, von jungen, engagierten Lehrern unterrichtet zu werden, von denen ich wusste, dass sie wie ich Rolling-Stones-Fans waren. Bei meiner mündlichen Abiprüfung in Geschichte sitzen dann gleich zwei von ihnen vor mir, Rudolf Bülter und Siegfried Bethlehem. Thema: Kriegsschuldfrage des Ersten Weltkriegs im Zusammenhang mit der Kontroverse um den Historiker Fritz Fischer. »Hot stuff«, um es mit...