E-Book, Deutsch, 344 Seiten
Schott Arbeit und Krankheit
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7534-8581-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ein medizin-soziologischer Beitrag zur Problematik der Rehabilitation
E-Book, Deutsch, 344 Seiten
ISBN: 978-3-7534-8581-2
Verlag: BoD - Books on Demand
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Mit dieser Schrift promovierte der Autor 1974 an der Universität Heidelberg in Medizin. Die jezt vorliegende Erstpublikation gibt Einblick in jene Jahre des Umbruchs um1970, die in Wissenschaft und Gesellschaft tiefgreifende Veränderungen mit sich brachten. In der Medizin wurden nun sozial- und gesundheitspolitische Fragen relevant, die auch für die aufkommende Rehabilitationsmedizin bedeutsam waren. Die Doktorarbeit geht vom Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft aus, welches für das Verhältnis von Arbeit und Krankheit grundlegend ist. Die medizinische Anthropologie mit ihrem Blick auf das Subjekt regt dazu an, ideologische Fixierungen des Arbeits- und Krankheitsbegriffs auch jenseits der Medizin kritisch zu analysieren. Ein aktueller Rückblick beleuchtet die Entstehungszeit der Dissertation und die Bedeutung des "Doktorvaters" für ihr Zustandekommen.
Dr.med. Dr.phil. Heinz Schott ist Professor für Geschichte der Medizin. Er leitete von 1987 bis 2016 das MedizinhistorischeInstitut der Universität Bonn.
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1.22 Von der historischen Entwicklung und
Funktion der Arbeitswissenschaft Zwei überragende Namen verbinden sich mit der relativ kurzen Geschichte der Arbeitswissenschaft: TAYLOR und MAYO. TAYLOR könnte man als den Begründer der »ergonomics«, MAYO als den Begründer des »human engineering« bezeichnen. Es ist kein Zufall, dass gerade in Amerika der »Taylorismus« entstand. In einem Land, in dem der »cult of efficiency« herrscht, in dem ein Henry FORD zum ersten Mal Fließbandproduktion einführte und in dem Benjamin FRANKLIN – »the prototype of WEBER‘s ethical protestant« – den Ausspruch prägte: »time is money«, in einem solchen Land, meint BELL124, konnte sich der »Taylorismus« am ehesten entwickeln. TAYLOR (1856-1915) untersuchte die Bewegungsökonomie beim Schaufeln von Erde und kam zu dem Schluss, dass der Arbeiter bei einer solchen Arbeit am ehesten einem Ochsen gleichen müsse: »One of the very first requirements for a man who is fit to handle pig iron as a regular occupation is that he shall be so stupid and so phlegmatic that he more nearly resembles an ox than any other type.«125 TAYLOR ist der Erfinder de »job fitting«, der Methode, »den richtigen Mann an den richtigen Platz« zu stellen. Jeder Arbeiter könne so zu einem »erstklassigen« Arbeiter werden. »I have tried to make it clear that for each type of workman some job can be found at which he is ›first class‹, with the exception of those men who are perfectly well able to do the job, but won't do it.«126 TAYLOR gab mit seiner Arbeitszeitstudie (time and motion study) »den Anstoß, sich mit dem Studium der Arbeit zu beschäftigen; dann erst führte die Bewegungsstudie von F. B. GILBRETH zum Aufdecken kraft- und zeitsparender, weniger ermüdender Arbeitsbewegungen.«127 Die Lehren von TAYLOR und GILBRETH hatten deshalb einen so großen Erfolg, weil sie auch ohne Anwendung neuer Maschinen, nur durch methodische Beobachtung des Arbeitsvorgangs, durch seine sinnvolle Gestaltung und durch die Messung der Arbeitszeit zu wesentlichen Leistungssteigerungen gelangen konnten. Dabei war TAYLOR insofern einseitig, als er den besten Arbeiter auswählte und aus dessen Leistung verallgemeinernde Schlüsse zog, während GILBRETH durch Heranziehung des faulsten Arbeiters dessen bequemste und dadurch ökonomischste Bewegung erkannte.128 TAYLORs Reduktion des Arbeitsbegriffes auf berechenbare mechanische Effektivität von Muskelarbeit wurde – wenn auch nicht ideologisch, so doch praktisch – selbst von LENIN als äußerst wichtig für den Aufbau des Sozialismus anerkannt! BENDIX129 weist darauf hin, dass LENIN nach der Revolution aufgefordert habe, »das Beste im Kapitalismus« zu übernehmen »such as labor discipline, the TAYLOR system, piecework, and competition.«130 LENIN: »Arbeiten lernen – diese Aufgabe muß die Sowjetmacht dem Volk in ihrem ganzen Umfang stellen. Das letzte Wort des Kapitalismus in dieser Hinsicht, das TAYLORsystem, vereinigt in sich – wie alle Fortschritte des Kapitalismus – die raffinierte Bestialität der bürgerlichen Ausbeutung und eine Reihe wertvollster wissenschaftlicher Errungenschaften in der Analyse der mechanischen Bewegungen bei der Arbeit, der Ausschaltung überflüssiger und ungeschickter Bewegungen … Die Sowjetrepublik muß um jeden Preis alles Wertvolle übernehmen, was Wissenschaft und Technik auf diesem Gebiet errungen haben. … Man muß in Rußland das Studium des TAYLORsystems, die Unterweisung darin, seine systematische Erprobung und Auswertung in Angriff nehmen.«131 LENIN fordert die totale Unterwerfung des Arbeiters im unmittelbaren Arbeitsprozess unter die Anweisungen der Manager: »… during the workday they [die Arbeiter] must observe iron discipline and subordinate themselves unconditionally to the dictatorial will of one man, the Soviet manager.«132 TAYLOR wollte mit Hilfe der Arbeitswissenschaft ein »wissenschaftliches Management« (scientific management) als objektiven Interessenvermittler zwischen Arbeiter und Unternehmer ermöglichen. Das scientific management sollte den Gewinn so steigern, dass schließlich auch der Arbeiter beteiligt werden könne. Die vorgeschlagene Einführung dieses scientific management nannte er selbst eine »great revolution«.133 Was TAYLOR revolutioniert« hat, wird leicht ersichtlich; wenn man die Verwertung von seinen und GILBRETHs Forschungsergebnissen betrachtet: Sie ermöglichten eine Erhöhung der Produktivität der Industrie. »FORD organisierte zum ersten Male in einem Montagebetrieb eine Fließarbeit, die schon früher … angewendet worden war und folgerte aus der Erkenntnis der möglichen Leistungssteigerung, daß man die Herstellung von Kraftwagen immer weiter verbilligen und dabei trotzdem den Lohn ständig erhöhen könne.«134 MAYOs »industrial psychology« als eine Erweiterung der Arbeitswissenschaft basierte auf den Forschungsergebnissen von TAYLOR und GILBRETH. Diese studierten den Arbeiter als »Individuum«, »as an isolated unit«. »He [the worker] resembled a machine whose efficiency could be scientifically estimated; and ... the main factors influencing his efficiency were (a) wasteful or ineffectual movements in doing his job, (b) fatigue, which was believed to be a physico-chemical state of the body due to the accumulation of waste products, and (c) defects in the physical environment, such as poor lighting, inadequate heating, excessive humidity, etc.«135 Die Hawthorne-Experimente der MAYO-Gruppe sollten die Ergebnisse TAYLORS und GILBRETHs revidieren: »that there is something far more important than hours, wages, or physical conditions of work – something which increased output no matter what was done about physical conditions.«136 MAYO wendet sich gegen RICARDOs Gesellschaftstheorie, die er als eine vulgäre Gesellschaftslehre (rabble theory) kennzeichnet: »1. Natural society consists of a horde of unorganized individuals. 2. Every individual acts in a manner calculated to secure his selfpreservation or self-interest. 3. Every individual thinks logically, to the best of his ability, in the service of this aim.«137 Diese ökonomische Theorie RICARDOs bezeichnet MAYO als völlig ungenügend und absurd: »Humanity is not adequately described as a horde of individuals, each actuated by self-interest, each fighting his neighbor for the scarce material of survival. Realization that such theories completely falsify the normal human scene drives us back to study of particular human situations.« MAYOs erste Untersuchung fand 1923 statt. Er versuchte, in einer Spinnerei bei Philadelphia die Ursachen des geringen Output festzustellen. Er war von der Betriebsleitung dazu aufgefordert worden.138 Die Hawthorne-Experimente sind für die Arbeitswissenschaft so bedeutend geworden, dass wir sie hier etwas ausführlicher behandeln sollten. Zunächst unternahm ROETHLISBERGER in der Western Electric Company ein »wissenschaftliches Experiment«. Ein Experimentierraum, in dem eine Veränderung vorgenommen wurde und alle anderen Bedingungen gleichblieben und daneben ein unveränderter Kontrollraum. In beiden Räumen arbeitete eine vergleichbare Gruppe von Beschäftigten des Betriebes. Im Experimentierraum wurde die Beleuchtung verbessert; die Produktion stieg. Sie stieg aber auch im Kontrollraum. Dann wurde im Experimentierraum die Beleuchtung wieder reduziert, mit dem Erfolg, dass die Produktion in beiden Räumen sich weiter vergrößerte. Damit waren die »efficiency experts« (MAYO) widerlegt, die nur die physikalische Umwelt in ihre Untersuchungen miteinbezogen. »The ›expert assumption‹ of rabble hypothesis and individual self-interest as a bias for diagnosis led nowhere. On the other hand careful and pedestrian consideration of clinical diagnosis led us to results of surprising that we could at the time only partly explain them.«139 Im »Hawthorne-experiment«, das dann als solches in die Geschichte der Arbeitswissenschaft einging, wurden die Arbeitsbedingungen für die beschäftigten Mädchen auf der »relax station« in 12 verschiedenen Experimentierstufen geändert: Arbeitspausen verschiedener Länge und Anzahl, Änderungen der Länge des Arbeitstages, der Arbeitswoche, und Essen in der Morgenpause wurden eingeführt. Zu jedem Programmpunkt wurden die Arbeitenden genau befragt. »They had arrived at the point of free expression of ideas and feelings to management.«140 In der 12. Experimentierstufe kehrte man zu den ursprünglichen Arbeitsbedingungen zurück. Trotzdem stieg der Output! Nach drei Monaten ging man wieder zur Stufe 7 über: »a 15-minute midmorning break with lunch and a 10-minute midafternoon rest.« Diese...