E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Schultz / Decker / Hauser Was darf man sagen?
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-17-038306-7
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Meinungsfreiheit im Zeitalter des Populismus
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-17-038306-7
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Grenzen und Spielräume eines Grundrechts: Über das Recht, seine Meinung frei zu äußern
Claudia Kornmeier
Was darf man sagen? Artikel 5 des Grundgesetzes gibt zunächst eine klare Antwort auf diese Frage: »Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten.« Das Grundgesetz schränkt diese klare Antwort aber gleich wieder ein: »Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.« Das heißt: Es kommt darauf an. Genauer: Es kommt auf den Zusammenhang an. Was für Nicht-Jurist*innen wie die Parodie einer Antwort klingen mag, ist Jurist*innen ziemlich ernst. Um nur ein Beispiel zu nennen: Darf man jemanden »durchgeknallt« nennen? Es kommt darauf an. Der Bildzeitung-Kolumnist Franz-Josef Wagner bezeichnete in einem seiner Texte die damalige Fürther Landrätin Gabriele Pauli als »durchgeknallte Frau«. Der ehemalige Zeit-Herausgeber Michael Naumann nannte einen Staatsanwalt, der seinerzeit wegen Drogendelikten gegen den damaligen Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden, Michel Friedman, ermittelte, in einer Talkshow »durchgeknallt«. Beide Fälle gelangten vor das Bundesverfassungsgericht. Im Fall von Gabriele Pauli entschied Karlsruhe, der Bildzeitung-Kolumnist habe der Politikerin »provokativ und absichtlich verletzend« jeden Achtungsanspruch abgesprochen. Das sei nicht mehr von der Meinungsfreiheit gedeckt. Anders fiel die Entscheidung im Fall des Staatsanwalts aus. Ein ausschlaggebender Unterschied: der Zusammenhang. Die Kolumne von Wagner war ein bewusst geschriebener und als Verletzung gewollter Text, eine in den Intimbereich übergreifende Verächtlichmachung. Die Äußerung von Naumann fiel dagegen spontan während einer emotionalen Auseinandersetzung und stand im Zusammenhang mit der Kritik an der Informationspolitik der Staatsanwaltschaft. Was es am Ende meistens braucht, ist eine Abwägung im Einzelfall. Das mag mühsam klingen. Manch einer mag sich klarere Grenzen wünschen oder es gar für unzumutbar halten, was alles gesagt werden darf. Es darf nämlich ziemlich viel gesagt werden – so viel sei vorweggenommen. Und das ist auch gut so. Manchmal sollte sogar zulässig sein, was in einem anderen Zusammenhang offensichtlich unzulässig wäre. Etwa dann, wenn es Satire ist. Sensibel sollten wir dagegen sein, wenn es um Anfeindungen gegen Politiker*innen und rassistische Wahlwerbung geht – denn solche Äußerungen können zu körperlicher Gewalt führen und haben dies in Einzelfällen bereits getan. Aber lassen Sie uns von vorne beginnen: Was ist überhaupt eine Meinung? Was ist überhaupt eine Meinung?
Der Begriff der Meinung in Artikel 5 Grundgesetz ist weit zu verstehen. Eine Meinung ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Stellungnahme, ein Dafürhalten, eine Beurteilung, ein Werturteil. Es kommt nicht darauf an, ob sie »begründet oder grundlos, emotional oder rational« ist, »wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos«. Jeder soll frei sagen können, was er denkt, auch wenn er keine nachprüfbaren Gründe für sein Urteil angibt oder angeben kann. Da Tatsachen regelmäßig Voraussetzung für die Meinungsbildung sind oder sich mit Meinungsäußerungen vermischen, sind auch sie vom Schutz der Meinungsfreiheit umfasst, soweit sie zur Meinungsbildung beitragen. Ist eine Tatsachenbehauptung nicht klar von einer Meinungsäußerung zu trennen, muss die Äußerung im Interesse eines wirksamen Grundrechtsschutzes insgesamt als Meinungsäußerung angesehen werden. Nicht von der Meinungsfreiheit geschützt sind Tatsachenbehauptungen, denen jeglicher Meinungsbezug fehlt – wie etwa Statistiken – oder Unwahrheiten. Die Europäische Menschenrechtskonvention schützt dagegen nach ihrem Wortlaut die Mitteilung bloßer Informationen genauso wie Meinungen. Jede Form der zwischenmenschlichen Kommunikation ist geschützt – und zwar nicht nur Informationen oder Ideen, die positiv aufgenommen oder als »unschädlich oder belanglos« angesehen werden, sondern auch solche, die »beleidigen, schockieren oder verstören«, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in ständiger Rechtsprechung festgestellt hat. »Dies sind die Erfordernisse des Pluralismus, der Toleranz und der Aufgeschlossenheit, ohne die eine demokratische Gesellschaft nicht möglich ist.« Die Meinungsfreiheit ist eine der »wesentlichen Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft« und »grundlegende Bedingung für den gesellschaftlichen Fortschritt und die Selbstverwirklichung des Einzelnen«. Grenzen der Meinungsfreiheit
Artikel 5 Grundgesetz postuliert nicht nur die Meinungsfreiheit, sondern regelt auch ihre Grenzen: die allgemeinen Gesetze, die Gesetze zum Jugendschutz und das Recht der persönlichen Ehre. Das sind etwa Strafgesetze zum Schutz von Persönlichkeitsrechten, des öffentlichen Friedens oder der Sicherheit und des Bestands des Staates. Aber auch zivilrechtliche Regelungen, die Menschen die Möglichkeit geben, sich gegen Beleidigungen zu wehren. Auch die Menschenrechtskonvention setzt der Meinungsfreiheit Grenzen. In Artikel 10 Absatz 2 heißt es: Die Ausübung der Meinungsfreiheit ist »mit Pflichten und Verantwortungen verbunden; sie kann daher Formvorschriften Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden«. Um festzustellen, ob diese Grenzen überschritten sind, muss die fragliche Äußerung zunächst zutreffend erfasst werden. Maßstab ist dabei nach dem Bundesverfassungsgericht der »unbefangene Durchschnittsempfänger«. Es kommt also nicht darauf an, was jemand mit einer Äußerung sagen will. Es kommt auch nicht darauf an, wie Betroffene sie verstanden haben. Ausgangspunkt ist der Wortlaut. Bei mehrdeutigen Aussagen sind der sprachliche Kontext und die Begleitumstände zu beachten. Bleibt es dabei, dass eine Äußerung mehrere Bedeutungen haben kann, dürfen die Gerichte die Variante, die etwa ehrverletzend oder volksverhetzend wäre, nur dann ihrer rechtlichen Beurteilung zugrunde legen, wenn sie »andere Auslegungsvarianten mit nachvollziehbaren und tragfähigen Gründen« ausschließen können. Auf entfernte, weder durch den Wortlaut noch die Umstände gestützte Alternativen müssen die Gerichte dabei nicht eingehen – genauso wenig müssen sie abstrakte Deutungsmöglichkeiten entwickeln, die in den konkreten Umständen keinerlei Anhaltspunkte finden. In einem Fall, der vor dem Bundesverfassungsgericht gelandet war, hatte ein früherer Kreisvorsitzender der rechtsextremen Partei der »Republikaner« den damaligen Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in einer Presseerklärung »Zigeunerjude« genannt. Im Prozess hatte der Republikaner angegeben, er habe damit auf die »Reisetätigkeit« des Mannes hinweisen wollen. Das durfte das Landgericht als »absolut fernliegend« einstufen, so das Bundesverfassungsgericht. (Beschluss vom 12. Juli 2005, Az. 1 BvR 2097/02) In einem nächsten Schritt stellt sich die Frage, ob absolute Grenzen überschritten sind – etwa die zur Schmähkritik oder Volksverhetzung. In beiden Fällen wäre die Äußerung unzulässig. Was ist schon eine Schmähung?
Schmähungen sind in der juristischen Welt sehr, sehr selten. Das Bundesverfassungsgericht mutet uns viel zu. Nur wenn eine Äußerung allein auf die Diffamierung einer Person zielt – also auf die reine Herabsetzung – kommt eine Einordnung als Schmähung in Betracht. Eine überzogene oder auch eine ausfällige Kritik reicht für sich genommen nicht aus. Die Auseinandersetzung mit einer Sache muss völlig von der persönlichen Kränkung in den Hintergrund gedrängt werden. Eine Schmähkritik könne etwa bei »besonders schwerwiegenden Schimpfwörtern – etwa aus der Fäkalsprache« vorliegen, wiederholt das Bundesverfassungsgericht regelmäßig. Steht das sachliche Anliegen dagegen im Vordergrund, liegt keine Schmähung vor. »Bei einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage liegt Schmähkritik nur ausnahmsweise vor, sie bleibt grundsätzlich auf die Privatfehde beschränkt.« In zwei bekannt gewordenen Fällen, in denen Karlsruhe tatsächlich Schmähungen festgestellt hat, ging es aber gerade nicht um Privatfehden: So schrieb ein Literaturkritiker in einer Rezension u. a., Heinrich Böll sei ein...