Schulze | Die Erlebnisgesellschaft | Buch | 978-3-593-37888-6 | sack.de

Buch, Deutsch, 612 Seiten, Format (B × H): 140 mm x 215 mm, Gewicht: 756 g

Reihe: Campus Bibliothek

Schulze

Die Erlebnisgesellschaft

Kultursoziologie der Gegenwart
1. Auflage 2005
ISBN: 978-3-593-37888-6
Verlag: Campus

Kultursoziologie der Gegenwart

Buch, Deutsch, 612 Seiten, Format (B × H): 140 mm x 215 mm, Gewicht: 756 g

Reihe: Campus Bibliothek

ISBN: 978-3-593-37888-6
Verlag: Campus


1992 erschien Die Erlebnisgesellschaft zum ersten Mal – und machte rasch Furore. Heute kann der Text mit Fug und Recht als moderner Klassiker der Soziologie gelten. Gerhard Schulze konstatierte einen umfassenden Wandel in unserer Gesellschaft, durch den das Leben zum Erlebnisprojekt geworden ist. Die Erlebnisorientierung ist die unmittelbarste Form der Suche nach Glück. Eine Suche, die noch längst nicht abgeschlossen ist – diese neue Art zu leben müssen wir erst lernen und die Folgen noch bewältigen. Dies gilt auch heute noch: Die Sucht nach dem Kick und nach Performance ist eher gewachsen, und damit ist Gerhard Schulzes Analyse aktueller denn je.
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Editorische Notiz zur Neuausgabe

Übergang wohin? Kommentar im Jahr 2005

Einleitung

1. Kapitel: Ästhetisierung des Alltagslebens
Einleitung
1.1 Erlebnisgesellschaft
1.2 Die Vermehrung der Möglichkeiten
1.3 Erlebe dein Leben
1.4 Unsicherheit
1.5 Enttäuschung
1.6 Wandel der normalen existentiellen Problemdefinition und Gesellschaftsbildung
1.7 Zusammenhänge. Grundlinien der weiteren Analyse
1.8 Gemeinsamkeit trotz Individualisierung
1.9 Theoretische Affinitäten: Tour d'horizon
1.10 Der empirische Teil der Untersuchung

2. Kapitel: Hermeneutik der Stile
Einleitung
2.1 Das semantische Paradigma
2.2 Alltagsästhetische Episoden
2.3 Stil
2.4 Genuß
2.5 Distinktion
2.6 Lebensphilosophie
2.7 Mehrschichtigkeit
2.8 Zeichenfluktuation und Bedeutungskonstanz
2.9 Singularität und Gemeinsamkeit
2.10 Vereinfachung intersubjektiver Bedeutungskosmen: Stiltypen

3. Kapitel: Alltagsästhetische Schemata in Deutschland
Einleitung
3.1 Bedeutungsäquivalente Zeichengruppen
Der Begriff alltagsästhetischer Schemata
3.2 Erlebnisreiz, Tradition, Definition
Zur Entstehung von Bedeutungsäquivalenzen
3.3 Gesellschaftstypus und Schematisierungstendenz
3.4 Hermeneutik von Massendaten
3.5 Hochkulturschema
3.6 Trivialschema
3.7 Spannungsschema
3.8 Der dimensionale Raum der Stile
3.9 Zur Evolution des dimensionalen Raumes
3.10 Der Bedeutungswandel des Schönen

4. Kapitel: Theorie sozialer Segmentierung
Einleitung
4.1 Existenzformen
4.2 Soziale Milieus
4.3 Beziehungsvorgabe
4.4 Beziehungswahl
4.5 Zeichen und Gestalt
4.6 Der neue Blick für den anderen
4.7 Evidenz und Signifikanz
4.8 Manifester Stiltypus als Milieuzeichen
4.9 Alter als Milieuzeichen
4.10 Bildung als Milieuzeichen
4.11 Hervortreten und Verblassen von Zeichen
4.12 Wandel des Aufbaus von Existenzformen
4.13 Die Segmentierungshierarchie
4.14 Das Unschärfeproblem

5. Kapitel: Die wissenssoziologische Interpretation
sozialer Milieus
Einleitung
5.1 Zwischenbilianz und Vorausschau
5.2 Kollektives existentielles Wissen
5.3 Die vorgestellte Welt: Wirklichkeitsmodelle
5.4 Existentielle Anschauungsweisen
5.5 Subjekt und Wirklichkeit
Zwei Verweisungszusammenhänge
5.6 Kognitive Selbstorganisation der Gesellschaft
Homologie und fundamentale Semantik
5.7 Von außenorientierter zu innenorientierter Semantik
5.8 Empirische Illustration
5.9 Denkmuster. Über den probabilistischen Charakter kollektiven Wissens
5.10 Die Trägheit subjektiver Welten
5.11 Die soziale Erarbeitung kognitiver Ähnlichkeit
5.12 Soziale Milieus als Wissensgemeinschaften
5.13 Zunahme mittlerer Gemeinsamkeit
5.14 Gegensatz und Ordnung
5.15 Interpretationspfade: Empirische Einstiegsmöglichkeiten

6. Kapitel: Fünf Milieubeschreibungen
Einleitung
6.1 Voreinstellung und Hintergrund. Zur Orientierung
6.2 Niveaumilieu
6.3 Harmoniemilieu
6.4 Integrationsmilieu
6.5 Selbstverwirklichungsmilieu
6.6 Unterhaltungsmilieu
6.7 Zwischenbilanz. Zwei milieuvergleichende Tableaus

7. Kapitel: Das Ganze
Zur Milieukonstellation der Gegenwart
Einleitung
7.1 Vom Einzelnen zum Ganzen
7.2 Komplexität und Einfachheit, Ordnung und Spontaneität
7.3 Homologien im Zeichen der fundamentalen Semantik
7.4 Die Struktur gegenseitigen Nichtverstehens
7.5 Die Altersgrenze
Zur Soziologie der Lebensmitte
7.6 Die Verschiebung der Bildungsgrenzen in der
Generationenfolge
7.7 Binnenkommunikation4
7.8 Zwischen Vereinfachung und Differenzierung
7.9 Grenzfälle und Inkonsistenzen
Eine Unschärfeanalyse
7.10 Kritische Bilanz und Forschungsvergleich

8. Kapitel: Vorstellungen vom Ganzen
Einleitung
8.1 Wonach fragen?
Relevanztraditionen der Großgruppensoziologie
8.2 Gespaltene Vertikalität sozialer Lagen
8.3 Sozialprestige
Die Segmentierung des Jahrmarkts der Eitelkeiten
8.4 Vom sozialen Konflikt zur gegenseitigen Distanz
8.5 Abschwächung kollektiver Selbsterfahrung
8.6 Entkollektivierung von Wirklichkeitsmodellen

9. Kapitel: Der Erlebnismarkt
Einleitung
9.1 Innengerichtete Modernisierung
9.2 Erlebnismarkt, Erlebnisangebot, Erlebnisnachfrage
9.3 Handlungsroutinen auf dem Erlebnismarkt
9.4 Von außenorientiertem zu innenorientiertem Konsum
9.5 Erlebnis als Handlungsziel
9.6 Rationalität der Erlebnisnachfrage
9.7 Publikumswirksamkeit als Handlungsziel
9.8 Rationalität des Erlebnisangebots
9.9 Dynamik des Erlebnismarktes
9.10 Zur Entwicklung alltagsästhetischer Schemata
9.11 Milieusegmentierung im Zeichen des Erlebnismarktes

10. Kapitel: Theorie der Szene
Einleitung
10.1 Publikum
10.2 Szenen
10.3 Entstehung von Szenen
10.4 Soziologische Bedeutung von Szenen
10.5 Die empirische Erforschung von Szenen
10.6 Umrisse einer großstädtischen Szenenstruktur
10.7 Hochkulturszene
10.8 Neue Kulturszene
10.9 Kulturladenszene
10.10 Kneipenszene
10.11 Szenenstruktur und Milieudynamik

11. Kapitel: Paradoxien der Kulturpolitik
Einleitung
11.1 Irrelevanz, Gestaltung, Nebenfolgen
Zur Wirkungsanalyse der Kulturpolitik
11.2 Kulturpolitische Leitmotive
11.3 Akteure des kulturpolitischen Handlungsfeldes
11.4 Arrangements von Rationalitäten
11.5 Der Rechtfertigungskonsens
11.6 Anstrengung und Bequemlichkeit
11.7 Autonomie und Kolonialisierung
11.8 Gleichheit und Asymmetrie
11.9 Neutralität und Politisierung
11.10 Kulturpolitik nach der utopischen Phase

12. Kapitel: Die Bundesrepublik Deutschland im
kulturellen Übergang
Einleitung
12.1 Erstes Bild
Restauration der Industriegesellschaft
12.2 Zweites Bild
Kulturkonflikt
12.3 Drittes Bild
Die Erlebnisgesellschaft
12.4 Zum Wandel des Erlebens
12.5 Ein zusammenfassendes Tableau

Glossar

Literaturverzeichnis


Übergang wohin? Kommentar im Jahr 2005
Nach dem goldenen Zeitalter?

Anfang der neunziger Jahre faßte ich meine damalige Zeitdiagnose im Begriff der Erlebnisgesellschaft zusammen. Mehr als eine Momentaufnahme sollte dies nicht sein. Im folgenden Kommentar aus der Sicht des Jahres 2005 füge ich eine weitere Momentaufnahme hinzu, in die einfließen soll, was hier und heute aktuell ist. Das Aktuelle mag wieder versinken, worauf es aber ankommt, ist der langfristige Prozeß, der allmählich sichtbar wird, wenn man eine Momentaufnahme an die andere reiht. Beschreibungen der Gesellschaft fixieren immer nur Übergangszustände. Eine Serie von Beschreibungen erlaubt jedoch die Frage: Übergang wohin?
Vielen scheint heute die Antwort restlos klar: Die Party ist vorbei. Die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts zeigen Deutschland im pessimistischen Konsens. Bestseller tragen Titel wie Die deformierte Gesellschaft, Ist Deutschland noch zu retten? oder Deutschland - Abstieg eines Superstars. In Leitartikeln, Feuilletons, Polit-Talks und populärwissenschaftlichen Publikationen herrscht das große Unisono eines Krisenbefunds, der im Resonanzraum der Alltagskommunikation vielfach nachhallt. Längst hat die neue Angst vor dem Weniger die alte Angst vor dem Zuviel in den Hintergrund gedrängt.
Im späten 20. Jahrhundert erhob das grüne Lager Meadows´ Formel von den Grenzen des Wachstums zum politischen Programm. Die Lautstärke, mit der sich heute alle, die eine öffentliche Rolle spielen wollen, dem genauen Gegenteil verschreiben, der Wachstumspolitik, wäre Jahrzehnte vorher in der Öffentlichkeit schlecht angekommen. Was in den siebziger und achtziger Jahren ökologisch wünschenswert und ökonomisch tolerabel schien, der Übergang von einer Phase der Steigerung zu einer Phase der Bestandssicherung, wird im politischen Diskurs des beginnenden 21. Jahrhunderts als Niedergang gedeutet. Mit jeder Absenkung der sogenannten Konjunkturprognosen erhält die German Angst neue Nahrung, und der Blick auf die Nachbarn tut ein Übriges.
Ständig ist nun vom weiteren Vordringen der Armut die Rede, von zunehmender sozialer Spaltung, von neuer Ungleichheit. Quintessenz der sozioökonomischen Selbstbeobachtung ist die Schubumkehr der Möglichkeitsdynamik - von Expansion auf Reduktion. Solange das Steigerungsspiel brummte, gab sich wachstumsskeptisch, wer auf seinen guten Ruf bedacht war; seit es ins Stocken geriet, hat sich die Richtung der Kritik um hundertachtzig Grad gedreht. Beklagt werden nun die sozialen Folgen des nachlassenden Wachstums.
Jede Perspektive hat ihr Potential und ihre Grenzen. Der gegenwärtig normale, ständig wiederholte Blick auf die Bundesrepublik zeigt Langzeitarbeitslose, dickleibige Dauerfernsehzuschauer und jugendliche Schulabgänger ohne Abschluß, die keinen deutschen Satz herausbringen; er zeigt Menschen, die sich keinen Zahnersatz leisten können, die Praxisgebühr nicht aufzubringen vermögen und ihre Wohnung gegen eine billigere und schlechtere tauschen müssen; er zeigt Lohndumping, Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich, Betriebsschließungen, Verlagerung der Arbeit in Niedriglohnländer und eine Invasion von Billigarbeitern; er zeigt leere öffentliche Kassen, verödete Einkaufszentren und Wartende in den Fluren der Sozialämter.

Ein gemischtes Bild

Es gehört freilich zu den Eigenschaften jeder beliebigen Perspektive, so auch dieser, daß man ihren unvermeidlichen blinden Fleck nur von einer anderen Perspektive aus sehen kann. Nun wissen wir zwar seit Kant, daß ohne partielle Blindheit kein Sehen möglich ist, aber sehr weit hat sich das noch immer nicht herumgesprochen. Der häufigste Irrtum bei der Interpretation der Welt besteht in der Verwechslung einer Teilansicht mit dem Ganzen, und der zweithäufigste darin, die Verschiedenartigkeit von Teilansichten mit einem logischen Widerspruch gleichzusetzen. Prekäre Lebensverhältnisse, um einen Schlüsselbegriff gegenwärtiger kollektiver Selbstbeschreibung aufzugreifen, sind eine Sache, und gute Existenzbedingungen einschließlich der damit verbundenen persönlichen Lebensphilosophie eine andere. Beides existiert nebeneinander. Deshalb läßt sich die Frage danach, was inzwischen aus der Erlebnisgesellschaft des späten 20. Jahrhunderts geworden ist, nicht einfach mit der Aufforderung abtun, sich doch bloß einmal einige Stunden in den Flur der örtlichen Arbeitsagentur zu setzen. Um sich ein Bild zu machen, genügt es nicht, in die Behörden der Mangelverwaltung hineinzugehen, man muß auch wieder hinaustreten und sich in der übrigen Wirklichkeit umschauen. Richtig: Da war doch noch etwas. Was sich insgesamt zeigt, ist ein gemischtes Bild. Die Erlebnisgesellschaft ist immer noch unterwegs, auch in Zeiten von Hartz IV, globaler Standortkonkurrenz und hoher Arbeitslosigkeit.
Verstößt es gegen die guten Sitten, sich mit dem gemischten Bild auch nur zu beschäftigen, während Feuer am Dach ist? Der führende Sozial-Alarmologe der Republik, Wilhelm Heitmeyer, sieht eine dreifache Spaltung nahen: zwischen Arm und Reich, zwischen Ost und West, zwischen deutscher Mehrheitsgesellschaft und islamischer Minderheit. So düster sieht es also aus. Freilich: Wer sich nicht für das gemischte Bild interessiert, wer die Gesellschaft nicht differenzierter beschreibt, für den gibt es nur die Obdachlosen unter der Brücke. Was sonst noch los ist, scheint den politisch korrekten Soziologen nichts anzugehen. Wer sich auch für die Vorgänge oben auf der Brücke interessiert, muß sich den Vorwurf gefallen lassen, die unter der Brücke als menschlichen Sperrmüll abzutun.
In den USA wächst derzeit der Reichtum, während sich gleichzeitig der Hunger ausbreitet, abzulesen an der wachsenden Inanspruchnahme von Armenspeisungen. Daß Deutschland auch im Jahr 2005 weit von solchen Verhältnissen entfernt ist, kommt nicht von ungefähr: Der Wohlfahrtsstaat ist immer noch fest in der politischen Kultur der Nation verankert. Bei einer Staatsquote von 48 Prozent und einer Sozialquote von 33 Prozent von sozialem Kahlschlag zu reden, mag realitätsfremder Katastrophismus sein, wie Robert Leicht in der ZEIT bemerkt hat. Reuben Abati, ein Kommentator des Guardian, der führenden Zeitung Nigerias, betrachtet freilich den Umstand, daß seine Landsleute in internationalen Umfragen als die glücklichsten Menschen der Welt figurieren, nicht als die gute Nachricht, sondern als das eigentliche Problem. Ein gewisses Maß an Katastrophismus läßt sich als kulturelle Errungenschaft begreifen. Übersensibilität für Not sorgt dafür, daß tatsächliche Not nicht übersehen wird.
Es gibt soziale Not, auch im immer noch reichen Deutschland. Die Gesundheitsreform des Jahres 2004 hat beispielsweise dazu geführt, daß Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Obdachlose und andere Gruppen mit niedrigem Einkommen ein Prozent ihres Einkommens für Gesundheit aufwenden müssen - genug, um vielen den Arztbesuch fast unmöglich zu machen. Auf dem Deutschen Ärztetag 2005 in Berlin war "Krankheit und Armut" ein Hauptthema. Es wurde darüber gesprochen, daß auch in Deutschland die Lebenserwartung mit dem Einkommen sinkt, daß die Tuberkulose - die Krankheit der Armen - wieder auf dem Vormarsch ist, daß immer mehr Menschen
(gegenwärtig etwa 300 000) keinen Versicherungsschutz mehr haben.
Im Unterschied zu der Zeit, als ich die Erlebnisgesellschaft schrieb, fürchten heute auch Menschen mit guter Ausbildung und gutem Lebensstandard den sozialen Abstieg. Sie spüren deutlich: Wenn sich nicht bald etwas ändert, könnte es sie selbst treffen. Das Wissen, daß sie eigentlich noch ganz gut dastehen, hilft wenig gegen die nagende Angst. Eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht plötzlich dafür, daß ihnen der Wohlstand, den sie sich unter Umständen hart erarbeitet haben, wieder genommen wird, bevor der Staat für sie einspringt.
Hier geht es ans Eingemachte. Die Abhängigkeit von Transferleistungen ist jetzt nicht mehr allein das Schicksal einer chronisch alimentierten Randgruppe, die man früher ganz selbstverständlich mit durchgefüttert hat. Die selbe Abhängigkeit kann jetzt auch jene treffen, die es gewohnt sind, aus eigener Kraft etwas auf die Beine zu stellen. So kommt zusammen, was nicht zusammen gehört: Diejenigen, die bessere Zeiten gesehen haben und diejenigen, die gar nicht wissen, was das ist. Angehörige der sogenannten neuen Mitte werden an den Rand der Gesellschaft gedrängt, Armut kann jetzt auch jene treffen, die das Projekt des schönen Lebens für sich schon verwirklicht hatten und sich mit den Feinheiten ganz gut auskennen.

Unerheblicher Deutungsbedarf?

Heißt das aber, daß sie sich deshalb wieder vom Projekt des schönen Lebens verabschieden? Für die erste und unreife Form der Erlebnisgesellschaft würde das zutreffen, denn der Aufenthalt darin kostete vor allem Geld: Fernreisen, Freizeitparks, Shopping-Malls, Designer-Möbel, Wellness-Oasen. Gerade die aktuelle Krise der Entertainment-Branche deutet aber darauf hin, daß es auch in Zeiten geringeren Wachstums und stagnierender Einkommen der Mehrheit der Deutschen darum geht, das Projekt des schönen Lebens
fortzuführen. Materielle Unsicherheit ist eine Sache, Nachdenken über Glück und Lebenssinn eine andere.
Das eine Thema schließt das andere nicht aus; beiden kommt in den Alltagsdiskursen der Gegenwart etwa gleich große Wichtigkeit zu. Aber wie steht es mit der soziologischen Beobachtung dieser Alltagsdiskurse? Für viele Soziologen findet die soziale Tatsache des Diskurses über das Glück entweder gar nicht statt; oder sie kommentieren lediglich seine Pathologien; oder sie sind sich ganz sicher, daß es sich um pure Ideologie handelt, um falschen Schein, inszeniert von der großen Weltverschwörung der Absahner. Sie sehen Opfer und Verblendete. Was sie nicht sehen, sind Fragende, Denkende, Ernstzunehmende. Befangen in einer Attitüde soziologischer Arroganz, erklären sie ein Thema für unerheblich, das die Menschen auch in der ökonomisch prekären Gegenwart des Jahres 2005 mit immer noch steigender Intensität beschäftigt.
Unerreicht von den Relevanzvorschriften einer Zunft, die ihrerseits von Irrelevanz bedroht ist, treibt das Thema Glück die Menschen um. Die mit ihm verbundenen geistigen Anforderungen sind jedoch ungleich größer als beim Thema Unglück. Es gibt keine klaren, für alle nachvollziehbaren Kriterien von Erfolg und Mißerfolg, keine einfachen Rezepte, keine in die Augen springenden, mit Händen zu greifenden Tatbestände. Auf den immensen Deutungsbedarf antworten Medien, Werbung, Konsumgüterindustrie, Glücksratgeber, Talk-Show-Gäste, Popstars - und jeder einzelne antwortet für sich, so gut er es vermag.

Aber wer kümmert sich noch um den bedürftigen Nächsten? Die Behauptung, daß es in der "Ego-Gesellschaft" keine Bereitschaft mehr gebe, sich mit Themen der Not zu beschäftigen, widerspricht den Fakten (nie gab es in Deutschland mehr ehrenamtliches Engagement als jetzt ) und hemmt den öffentlichen Diskurs über das Thema des guten, gelingenden Lebens. Nicht wenige finden es obszön, sich mit dem Glück zu beschäftigen, solange es Menschen gibt, die sich keinen Arztbesuch leisten können und denen das Geld für Zahnersatz fehlt. So kommt es, daß eine langfristige Hauptströmung der Gesellschaft aus Sicht der Soziologie weitgehend unbeschrieben und unreflektiert bleibt.
Im Frühjahr 2005 kommentierte Ulrich Wickert in den Tagesthemen der ARD einen kurzen Film mit Friedhofsszenen. Zu sehen waren ein Sarg und eine Handvoll Menschen auf dem Weg zum Grab. Das Besondere dabei: Keiner der Beteiligten kannte den Toten. Es handelte sich um die Hamburger Initiative Letztes Geleit, die sich um Verstorbene ohne Freunde und Angehörige kümmert. Der Tenor des Kommentars war freundlich-resignativ: Nachdem alle nur ihr persönliches Glück im Sinn haben, bedarf es des Engagements von Wildfremden, um einsam Gestorbene würdevoll unter die Erde zu bringen.
In dieser Episode finden wir alles verdichtet: soziale Wirklichkeit, Fehldeutung und Arroganz. Was gezeigt wurde, sind Menschen, die sich anderer selbst dann noch annehmen, wenn schon alles zu spät scheint und nicht einmal mehr Dank zu erwarten ist, sondern allein die Befriedigung, vielleicht das Glück, etwas zu tun, das sie sich selbst ausgedacht haben und sinnvoll finden. Ausgerechnet diese Szene als Zeichen der Ego-Gesellschaft zu interpretieren, läuft buchstäblich auf die hermeneutische Umkehrung des gezeigten Sachverhalts hinaus. Und im Subtext erklärt der Kommentator ein vielen Menschen zentral wichtiges Thema für unerheblich: Was soll alles Gerede über das Glück, so lange es noch so viel Leid auf der Welt gibt?

Die Erlebnisgesellschaft lernt dazu

Oben auf der Brücke: Ist das die sogenannte Spaßgesellschaft? Im Hinblick auf diese zur kleinen Münze gewordenen Diagnose ist das Logo der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland in verquerer Weise aufschlußreich. Es visualisiert perfekt, wie Werbeleute, Eventmanager, Politiker, Programmdirektoren, Kulturkritiker und Soziologen die Kernidee der Erlebnisgesellschaft häufig genug mißdeutet haben: als Hinwendung zur röhrenden Idiotie. Aber wo kämen die Menschen hin, wenn sie sich von der Werbung abschrecken ließen? Der Kartenvorverkauf im Jahr 2005 zeigt nicht nur die Faszinationskraft des Fußballspiels, sondern auch die Dickfelligkeit des Publikums gegenüber den Fehldeutungen seines Geschmacks, mit denen es täglich überflutet wird. Was das WM-Logo zeigt, ist Spaßgesellschaft pur - aber seine kulturgeschichtliche Pointe liegt darin, daß es dem Publikum als Spiegel vorhält, was dieses seit den neunziger Jahren immer entschiedener ablehnt.
Als nach dem 11. September 2001 überall vom "Ende der Spaßgesellschaft" die Rede war, handelte es sich um eine Prognose ohne Risiko, denn die Spaßgesellschaft hatte es nie gegeben. Die Erlebnisgesellschaft dagegen, verstanden als Sozialwelt unter der Regie der Innenorientierung, wurde durch den 11. September keineswegs erschüttert, vielmehr hat sie ihren Pfad fortgesetzt. Daß die Formel "weil es mir Spaß macht" seit den siebziger Jahren zu den häufigsten Begründungsmustern zählt, verweist nicht etwa auf das breite Lachen des WM-Logos, sondern auf das Innenleben als Zielbereich des Handelns. Lachen ist dabei nicht ausgeschlossen, aber keineswegs die Hauptsache. Worum es den Menschen nach wie vor in erster Linie geht, ist Faszination, Konzentration, Sinn, Gefühl, Authentizität.
Gerade in Zeiten gestiegener Arbeitslosigkeit zeigt sich die ernsthafte Seite der Erlebnisgesellschaft. Im Verhältnis zu dem Motiv, Geld zu verdienen, ist das Motiv, sich sinnvoll zu beschäftigen und gebraucht zu werden, immer wichtiger geworden. Erlebnisgesellschaft heißt: Intrinsische Motive siegen über extrinsische, Innenorientierung über Außenorientierung.
So avancierte in den letzten Jahren das Wandern zur beliebtesten Freizeitbeschäftigung der Deutschen - nur aus Geldgründen, so wurde gemunkelt, dem herrschenden Deutungsmuster der "Konsumverweigerung" folgend. Galt zuerst das Kaufen als Zeichen materialistischer Verflachung, so gilt nun das Nichtkaufen und der Rückzug auf sich selbst als Zeichen von ökonomischer Unsicherheit und Zukunftsangst. Neben diesen beiden entgegengesetzten Deutungen gibt es aber noch eine dritte: Viele Menschen sind zu der Ansicht gelangt, ein Spaziergang im Wald bringe ihnen mehr als der Ausflug in einen Freizeitpark.
Als die Verwaltung der Stadt Erlangen im Jahr 2004 das kommunale Bad in ein "Spaßbad" umwandeln wollte, erzwangen die Bürger eine Abstimmung, bei der sich über 85 Prozent der Bevölkerung dagegen aussprachen. "Spaß", "Fun", "Kick" und "Event" sind Beispiele für Begriffe, die im Lauf der neunziger Jahre eine immer negativere Bedeutung angenommen haben: als Distanzierungszeichen einer populären Kulturkritik, die gerade nicht vom Ende der Erlebnisgesellschaft künden, sondern von ihrer Weiterentwicklung.
Sichtbar wird eine allmähliche Emanzipation von den Fahrgeschäften des Vergnügungsparks: von entlastenden Erlebnisangeboten, die den Spielraum des Einzelnen mit Konstruktionen besetzen. Das Massenpublikum ist weiter als
jene, die es professionell umsorgen. Am Fall des FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle läßt sich studieren, wie die Diagnose "Spaßgesellschaft" auf diejenigen zurückfällt, die in ihren Anbiederungsstrategien auf das Idiotische setzen. Seit er den Bundestagswahlkampf 2002 im Guidomobil führte und in Big Brother auftrat, hat er seine liebe Not, das Image des Spaßpolitikers wieder loszuwerden.
Die Diagnose der verarmenden Gesellschaft übertreibt in der einen Richtung, die der Spaßgesellschaft in der anderen. Zu besichtigen ist im Jahr 2005 der Zug von der Außenorientierung zur Innenorientierung, der schon Ende der sechziger Jahren begonnen hat. Wir sehen einen kollektiven Lernprozeß, der unvermindert anhält. Der gegenwärtige Krisenkonsens mit seiner Bildsprache - "Absturz", "Globalisierungsverlierer", "Nachmittag des Wohlfahrtsstaats", "Entsolidarisierung", "Raubtierkapitalismus" und so fort - verdeckt den Tatbestand, daß die Leitvorstellung des schönen Lebens ungebrochen ist und nach wie vor die Lebensentwürfe und Beziehungen der Mehrheit prägt. Wandel gibt es gewiß, aber er hat eher den Charakter der Verfeinerung, des Dazulernens, der Mentalitätsentfaltung, und nicht den einer Abkehr. Die späten sechziger und die siebziger Jahre der Bundesrepublik waren ein point of no return auf dem Pfad zur alltäglichen, normalen Lebensphilosophie des schönen Lebens.
Wie bitte? Sind da nicht Untertöne von Vertrauen in die Lernfähigkeit der Menschen zu vernehmen? Wird hier am Ende gar etwas
Ähnliches wie Reifung, wie Fortschritt unterstellt? In der Kulturgeschichte der Bundesrepublik war Kulturkritik zunächst eine Offenbarung, dann wurde sie zur Routine, und schließlich zur Folklore des Kunstbetriebs und zum Apriori der Zeitdeutung. Ihre Formensprache erinnert an die Liturgie, ihre gesellschaftliche Bedeutung an die Fischpredigt des heiligen Antonius - die Fische hören die Moralpauke und schwimmen danach so munter wieder davon, wie das Theaterpublikum nach dem Besuch einer im Desaster schwelgenden Abendvorstellung heiter in die Restaurants strömt.
Sichtbar werden Menschen, die ihr Leben als Gestaltungsaufgabe begreifen, die dieses und jenes probieren, miteinander darüber reden, sich ihre Gedanken machen und Schlüsse ziehen. Was schon im Vorstadium der Erlebnisgesellschaft begonnen hatte, lebensphilosophische Reflexion als Teil des Alltagslebens, war keine Modeerscheinung, sondern der Beginn einer neuen Epoche, die eher am Anfang als am Ende scheint. In einem neueren Buch habe ich zu beschreiben versucht, was in diesen Jahrzehnten geschieht: Übergang von einer langen Phase der Naturaneignung zu einer noch ganz am Anfang stehenden Phase der Kulturaneignung.
Die Erlebnisgesellschaft der achtziger Jahre war ein Schritt in diese Richtung. Vieles, was sich damals ausgeprägt hat, ist heute noch vorhanden oder hat sich sogar noch verstärkt: Entstehung sozialer Milieus nicht durch Beziehungsvorgabe, sondern durch Beziehungswahl; Orientierung an der psychophysischen Semantik als Vermittlung von Subjekt und Gesellschaft; Alter, Bildung und Alltagsästhetik als evidente und signifikante Zeichen in der sozialen Interaktion. Geblieben ist das Projekt des schönen Lebens als wichtigstes Ziel und das Erleben als dominante Form, Sinn zu definieren. Geblieben ist die Tendenz zur Entregionalisierung und Entökonomisierung sozialer Beziehungen.

Die größte Veränderung der Erlebnisgesellschaft betrifft ihren handlungslogischen Kern: Erlebnisrationalität. Sie bestand zunächst in dem Versuch, das instrumentelle Denken, wie man es für die Naturaneignung braucht, auf den Kontext des Subjektiven zu übertragen. Warum sollte bei Erlebnissen nicht funktionieren, was sich in der Geschichte der Moderne tausendfach bewährt hatte: hier der wohldefinierte Nutzen, da die Mittel, und auf der Meta-Ebene darüber der reflektierende Mensch auf dem ewigen Pfad der Steigerung? Natürlich: weil das Subjekt keine Naturtatsache ist. Dies zu begreifen und damit umzugehen steht gewissermaßen im kollektiven Curriculum. Daß der Alltagsmensch dafür zu blöd wäre, ist trotz Super-RTL keineswegs ausgemacht. Er war auch nicht zu blöd dafür, den Aberglauben des magischen Zeitalters gegen das naturwissenschaftliche Weltbild auszutauschen, Demokratie für sich einzufordern und von seinem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch zu machen.
Allmählich lernt die Moderne, daß sich eine lebenswerte Alltagskultur mit naturwissenschaftlich-technischem Denken und rein
ökonomischer Rationalität nicht erschließen läßt. Denkmuster jenseits der bisher in der Moderne eingeübten Routinen breiten sich aus: Warten statt Beschleunigung; weniger statt mehr; Einzigartigkeit statt Standardisierung; situationsgebundene Variabilität statt naturgesetzlicher Unveränderlichkeit; Produkte, die freie Subjektivität herausfordern, statt sie zu kanalisieren; Konzentration statt Zerstreuung; Projekt statt Kick; Machen statt Konsum; Ankunft statt Steigerung.
Diese Stichworte markieren eine Tendenz, die seit 15 Jahren ungebrochen am Werk ist. Sie schlägt sich etwa nieder im Wandel des Konsums: mehr Geld für Reisen, weniger Geld für Fernseher, HiFi-Geräte und Autos; mehr Geld für Billigprodukte aus dem Discounter, doch auch Ökoläden, Feinschmeckergeschäfte und Spezialversandhäuser sind fest am Markt etabliert. Bezeichnend für die Entwicklung ist auch die Präsentation des Warenangebots: weg vom großen, hin zum übersichtlichen Sortiment, weg vom Bombastischen, hin zum Schlichten, weg vom Sammelsurium, hin zur Fokussierung. Auch die zunehmende Beliebtheit subjektzentrierter Sportarten wie Inline-Skating, Joggen, Walken ist ein Hinweis auf das Weiterbestehen der Erlebnisgesellschaft und ihre Verfeinerung; ebenso die zunehmende Wertschätzung der Zeit, die man für sich selbst hat; der Run auf Museen und Festivals; der alltäglich gewordene Glücksdiskurs.
Keineswegs fällt die Aneignung von Subjektivität und Kultur den Menschen in den Schoß; sie setzt, wie schon die Aneignung der Natur, Reflexion, Lernen, Versuch und Irrtum voraus und ist von Pathologien bedroht: Unzufriedenheit, Enttäuschung, vertane Zeit, versäumte Chancen. Zu sehen ist die Absurdität einer Flucht zurück in die altgewohnte Denkwelt der Erweiterung des Möglichkeitsraums, während es primär darum geht, sich in ihm aufzuhalten.

Das Schweigen des Gelingens

Der Beitrag der Soziologie zur Beschreibung und Bearbeitung von Pathologien dieser Art liegt allerdings bei Null. Sie konzentriert sich auf Probleme, die etwas mit Mangel, Not, Leid, kurz mit Einschränkungen des Möglichkeitsraums zu tun haben. Menschen, denen es gut geht, werden schon zurechtkommen. Der normative Horizont der Soziologie endet im Haben und Können; das Sein ist ihr egal. Es liegt jedoch ein Widerspruch darin, zwar gegen das Leid zu kämpfen, aber die menschliche Existenz jenseits des Leids für nicht der Rede wert, gar für anstößig zu halten.
Sind solche Überlegungen nicht pure Traumtänzerei? Ist das Gelingende nicht längst vom Sturm beunruhigender oder zumindest
umwälzender Großereignisse hinweggefegt worden? Läßt man vorbeiziehen, was in den letzten 15 Jahren geschehen ist, kann man sich diesem Eindruck kaum entziehen: Regierungswechsel, deutsche Vereinigung, Euroeinführung, Osterweiterung der EU; Kriege auf dem Balkan, in Afghanistan, im Irak, der 11. September 2001, der 11. März 2003; Krise des Arbeitsmarktes und der Sozialsysteme; Abnahme der Wachstumsraten, Machteinbußen von Gewerkschaften und Arbeitnehmern, Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich.
Bei der Aufzählung dieser Ereignisse bleiben jedoch die mindestens ebenso wichtigen Nicht-Ereignisse ausgeblendet: die unauffällige, allgegenwärtige Szenerie der Möglichkeiten, die Annehmlichkeiten und praktischen Erleichterungen; die Wohnungen, Autos, Straßen und Geschäfte; die relative Sicherheit vor Gewalt und Willkür; die totale Versorgung mit Unterhaltungsangeboten, Informationen und Spielen; die funktionierenden Institutionen, die intakten Beziehungen, die verläßlichen Abläufe und die gut durchdachten Regeln.
Normalerweise funktioniert ein PC zu 99 Prozent seiner Lebenszeit bestens. Das ist fast schon die ganze Wirklichkeit, es interessiert aber nicht im Geringsten. Funktionieren ist kein Ereignis, nur der Absturz. Der unspürbare Strom der Nicht-Ereignisse, auf die niemand neugierig ist und die keine Meldung wert sind, hatte in den vergangenen 15 Jahren weitaus größere Macht, als sie den punktuellen, medientauglichen Großereignissen zukam.
Daß es anders werden könnte, daß die wunderbaren Nicht-Ereignisse in Mitleidenschaft gezogen werden könnten: Genau dies ist der Kern der Angst, die gegenwärtig umgeht. So vernünftig diese Angst sein kann, so absurd wird sie, wenn viele so tun, als wäre das zu Bewahrende bereits verloren.
Ob man es zur Kenntnis nehmen will oder nicht, ob man sich über die explizite Feststellung des Sachverhalts entrüstet oder nicht: Es
gehört auch zur deutschen Wirklichkeit des Jahres 2005, daß es noch nie so vielen Menschen so gut gegangen ist. Sie haben aufs Ganze gesehen mehr Zeit, ein höheres Realeinkommen, mehr Wohnraum, höhere Mobilität, mehr Kontaktmöglichkeiten, weniger private Verpflichtungen, geringere staatlich regulierte Einschränkungen ihrer persönlichen Freiheiten, geringere Umweltbelastungen, schönere Siedlungen und eine höhere Lebenserwartung denn je. Auch in den letzten 15 Jahren, nach dem angeblichen Ende des goldenen Zeitalters, gab es nicht etwa einen Einbruch, ja nicht einmal eine Stagnation auf hohem Niveau. Es gab nur eine Verlangsamung der Steigerung.
Überfluß und Verarmungspanik gehen gegenwärtig Hand in Hand. Einerseits ist der in den siebziger Jahren begonnene Diskurs über das
Glück immer noch aktuell; das Projekt des schönen Lebens wurde zur selbstverständlichen, weithin geteilten Leitvorstellung. Andererseits wird die Gesellschaft so beschrieben, als stünde sie am Abgrund. Als Konsequenz ergibt sich, daß die Frage nach dem Glück, mit der sich die viele intensiv beschäftigen, als unwichtiges Luxusproblem abgetan wird.

Noch nie war die Chance besser, aus dem Leben das zu machen, was man ganz persönlich sinnvoll findet; aber der Diskurs über das schöne Leben bleibt nach wie vor der Werbung, den Soaps und den Glücksratgebern vorbehalten - intellektuelles Prestige ist mit der "spießigen", "harmoniesüchtigen", "illusionären" Reflexion des schönen Lebens nicht zu holen. Die zögernde Gesellschaft zeigt sich nicht auf der Höhe ihrer Möglichkeiten, sie ist in das Projekt des schönen Leben geistig und institutionell noch nicht hineingewachsen.

Vom eindimensionalen zum zweidimensionalen Denken

Nicht, daß es nicht aller Anstrengungen wert wäre, das Niveau zu halten; nicht, daß man sich keinerlei Sorgen machen müßte. In der Metapher des "Ausstiegs", die im Gefolge der Achtundsechziger populär wurde, steckt derselbe Denkfehler wie in der gegenwärtig grassierenden Angst vor der Rückkehr des Existenzkampfs: daß sich Menschen entweder um das Haben und Können kümmern müssen, oder sich dem Sein widmen dürfen - beides aber gehe nicht. Die einmal geschaffenen Bedingungen guten Lebens zu erhalten, verlangt richtig Arbeit und Intelligenz, und besser man übertreibt seine Sorge, als man ist zu sorglos. An Besorgtheit ist im Jahr 2005 freilich kein Mangel. Andererseits: Um neue Chancen und um den in langer Arbeit aufgebauten Bestand zu kämpfen lohnt sich nur dann, wenn man als erlebendes Subjekt etwas mit guten Bedingungen anzufangen weiß.
Was sich als mögliches Lebensmodell abzeichnet, ist die Integration von könnensgerichtetem und seinsgerichtetem Handeln. In der bundesdeutschen Diskurswirklichkeit des Jahres 2005 gewinnt man jedoch eher den Eindruck der Schizophrenie als den der Integration. Erstaunlich ist dies nicht, wurden doch Können und Sein in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte immer als Gegensätze begriffen. Zunächst triumphierte die Arbeit, dann das Spiel, und immer schien das eine das andere auszuschließen. Wenn es nun heißt, das Spiel sei aus und die Arbeit kehre zurück, so bleibt eines doch gleich: die eindimensionale Sichtweise, das Entweder-Oder.
In den fünfziger Jahren mag die eindimensionale Sichtweise am Platz gewesen sein, heute ist sie obsolet. Genau an dieser Stelle zeigt sich die zweite historisch aktuelle Herausforderung der Erlebnisgesellschaft (neben der schon in Angriff genommenen ersten, das Denkmuster der Erlebnisrationalität an den Umstand anzupassen, daß ein Mensch keine Maschine ist). Diese zweite Herausforderung liegt im Übergang vom Entweder-Oder zum Sowohl-Als-Auch, im Übergang von der eindimensionalen zur zweidimensionalen Sichtweise.

Mehr ist weniger

Am auffälligsten zeigt sich die Beschränktheit eindimensionalen Denkens im gegenwärtigen deutschen Wachstumsjammer. Verminderte Steigerung ist etwas anderes als Wohlstandsverlust. Doch die unhaltbare Deutung von Verlangsamung als Rückgang ist in der bundesdeutschen Öffentlichkeit unbestritten. Wie sich die gegenwärtig grassierende Fehlinterpretation der ökonomischen Situation
überhaupt entwickeln konnte, läßt sich nur vor dem Hintergrund eines wissenssoziologischen Rückblicks verstehen.
Der Steigerungsschub der ersten Nachkriegsjahrzehnte brachte eine enorme Vermehrung der Möglichkeiten mit sich, und die Erlebnisgesellschaft war die Antwort darauf. Es war die Generation der Achtundsechziger, die den Umschwung von der Außenorientierung zur Innenorientierung vorantrug. Sie provozierten mit einer Lebensauffassung, die nach und nach alle erfaßte. Es kommt, so die Botschaft, darauf an, das Leben zu genießen; die Mittel dazu beschafft man sich schon irgendwie.
Schon in den siebziger Jahren wurden allerdings die Ressourcen der Steigerung knapp, die historisch einmalige Schubkraft der
Nachkriegsära war verbraucht. Zunächst wurde dies nicht als Katastrophe empfunden. Zum einen waren die Menschen noch damit
beschäftigt, sich die neue Mentalität anzueignen. Fasziniert vom erreichten Niveau der Möglichkeiten, bildeten sie neue persönliche und soziale Muster heraus: Erlebnisrationalität, Erlebnismarkt und Erlebnismilieus. Zum anderen waren sie der Auffassung, daß die Verlangsamung des Wachstums bald vorübergehen werde. Der Begriff "Konjunktur" tröstet; er läßt schwaches Wachstum als
vorübergehende "Delle" erscheinen, denn am Horizont winkt immer schon der nächste Aufschwung.
Als Heinz Kluncker im Jahr 1974 mit sagenhaften 11 Prozent die höchste Lohnsteigerung in der Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik erzielte, war der Zenit des deutschen Wachstumspotentials bereits überschritten. Heute wirkt dieser Tarifabschluß wie ein letztes Auflodern am Ende einer heißen Phase, die etwa 1950 eingesetzt hatte. Kein ernstzunehmender Nationalökonom hält eine Wiederholung dieses Steigerungsschubs für möglich, weil er auf Bedingungen beruhte, die nicht wiederkehren können: "Ein riesiger,
ungesättigter Bedarf an Gütern und Dienstleistungen, eine junge, gut qualifizierte und motivierte Erwerbsbevölkerung, die Wiedereröffnung kriegsbedingt verschlossener Märkte, eine Reihe wichtiger Innovationen, verbesserte Voraussetzungen der Kapitalbildung und des Kapitalflusses, vor allem aber eine außergewöhnliche Aufbruchstimmung."
Wie lebendig die Hoffnung auf eine Wiederkehr des Gründungsbooms der Bundesrepublik immer noch ist, wie umstandslos und ohne
Gespür für ökonomische Entwicklung sich Maßstäbe und Erwartungen nach wie vor an einer unwiederholbaren Glanzzeit ausrichten, zeigt sich in Politikerreden, in Wirtschaftsgutachten, in internationalen Statistiken mit ihren Vergleichen des Unvergleichbaren, aber auch im bevölkerungsweiten Krisenkonsens. Eine Stimmung hat sich breit gemacht, in der sich ein spezifisch deutscher, von auswärtigen Beobachtern immer wieder mit Verwunderung konstatierter Pessimismus mit der Neigung von Menschen verbindet, das Urteil über die eigene Situation im Vergleich zu bilden.
Jemand hat sein Auskommen und ist zufrieden; sobald aber ein
r auftaucht, dem es besser geht, ist es mit der Zufriedenheit vorbei. Unzufriedenheit als Ergebnis von Vergleichen (und nicht etwa auf der Grundlage von Entbehrungen) äußert sich im Deutschland des Jahres 2005 in zwei Formen: zum einen als ganz normaler Neid, der seine Bezugsgrößen in der Gegenwart findet, und zum anderen als Wachstumsnostalgie, geboren aus dem Vergleich von Jetzt und Früher.
Diese Wachstumsnostalgie beruht auf einer hochabstrakten gedanklichen Konstruktion: weg von den tatsächlichen, greifbaren
Möglichkeiten, hin zum Unterschied der Möglichkeiten zwischen zwei Zeitpunkten. Nur in diesem Referenzrahmen erscheint geringeres Wachstum als Rückschritt. Wenn sich das Wachstum beispielsweise von vier auf zwei Prozent halbiert, hat eine Volkswirtschaft zwar immer noch mehr zur Verfügung, aber der Zuwachs des Verfügbaren ist geringer geworden. Nach Jahrzehnten hypnotisierten Starrens auf Wachstumszahlen dominiert nun der Eindruck der Schrumpfung; daß es sich lediglich um eine Schrumpfung der Steigerung handelt, findet kaum noch Beachtung. Mehr gilt als weniger.
Betrachtet man nur die Steigerung des Wirtschaftswachstums, so hat man eine Perspektive garantierter Enttäuschung gewählt. Keiner einzigen früh industrialisierten Volkswirtschaft bleibt die Erfahrung langfristig sinkender Wachstumsraten erspart. Gewöhnt an zunächst hohe Wachstumsraten, müssen sie alle einen Lernprozeß der Anpassung ihrer Erwartungen an wirtschaftshistorisch schrumpfende Wachstumsspielräume durchlaufen.

Geld und Chancen

Ein weiterer Knick in der Optik kommt hinzu: die Gleichsetzung der Sphäre des Geldes mit der Sphäre der Chancen. Wenn etwa bestimmte Apparate gleichzeitig mehr können und billiger werden, geht eine Verbesserung der Lebensumstände (Sphäre der Chancen) bei sonst gleichen Bedingungen Hand in Hand mit einer Verminderung des Wachstums (Sphäre des Geldes): Die Menschen haben mehr Handlungsmöglichkeiten, aber die Wirtschaft setzt weniger um.
In der monetären Betrachtungsweise der Ökonometrie waren die neunziger Jahre eine Zeit geringen Wachstums, handlungslogisch gesehen waren sie dagegen eine Zeit ungeahnter Durchbrüche. Vor allem die digitale Revolution erweiterte die Optionen enorm, die dem Einzelnen offen stehen; ihre Bedeutung läßt sich durchaus mit der Steigerung der räumlichen Mobilität durch Eisenbahn und Automobil im 19. und 20. Jahrhundert vergleichen, mit der Ausweitung des durchschnittlich verfügbaren Wohnraums in den Nachkriegsjahrzehnten, mit dem Einzug der Küchentechnik in den Alltag, mit der explosionsartigen Vermehrung erschwinglicher Konsumgüter.
Die letzten 15 Jahre waren die Zeit, in der PC, Handy, Digitalkamera, Navigationssysteme, Internet, Musiktauschbörsen, Computerspiele, Email, SMS und neue Unterhaltungselektronik alltäglich wurden. Zwar ist die Digitalisierung des Alltagslebens noch nicht am Ende, aber die Situation der Menschen hat sich bereits wesentlich verändert: Kontakte, Wahlmöglichkeiten, Informationszugänge und Kommunikationsräume haben sich in kurzer Frist radikal entgrenzt, und die Anforderung, all dies sinnvoll zu gestalten, ist enorm gestiegen. Vor dieser Anforderung kann man davonlaufen, oder man kann an ihr wachsen.

Die deutsche Schmach

Nirgendwo wird die Verlangsamung des Wachstums schmerzhafter, ja beschämender erlebt als in Deutschland. Die Fallhöhe hierzulande
überschreitet das durchaus auch von anderen Nationen zu verkraftende Maß aus zwei Gründen: Das Ausgangsniveau der heißen Jahre lag
höher, und die Verminderung des Wachstums ging weiter nach unten, zu etwa zwei Dritteln bedingt durch die mit der Wiedervereinigung verbundenen ökonomischen Belastungen. International vergleichende Wachstumsstatistiken und Standortrankings ignorieren dies einfach, und so gesellt sich zur normalen Frustration ökonomischer Desillusionierung auch noch das Gefühl der Schande. Das Stigma des Mißerfolgs haftet nun an dem einzigen Aspekt (vom Fußball abgesehen) der jüngsten deutschen Geschichte, auf den die Deutschen früher einmal stolz waren: ihre Wirtschaftskraft.
Was an der Weisheit des ökonomischen Diskurses der Gegenwart zweifeln läßt, ist die Verwechslung von Wohlstand und Wachstum. Die Diskursteilnehmer meinen, über die Chancen der Menschen zu reden - über den Spielraum, den ihnen die Situation gewährt. In Wahrheit reden sie über etwas ganz anderes, nämlich über die relative Differenz zwischen altem und neuem Spielraum im Zeitvergleich. Wirtschaftskommentatoren halten in gedrückter Stimmung ein Prozent Wachstum in der Bundesrepublik gegen sechs Prozent Wachstum in Polen und vergessen dabei gleich zwei Rechenoperationen auf Grundschulniveau: Erstens kommt das polnische Wachstum zu einem Sockel hinzu, der wesentlich niedriger als in Deutschland ist, so daß auch bei sechs Prozent polnischen Wachstums eine große Wohlstandsdifferenz bestehen bleibt, die aber irgendwann verschwindet (warum auch nicht?). Zweitens gilt für eine Reihe von Jahren, daß eine von unten kommende, aufholende Nationalökonomie oft nur relativ gesehen stärker wächst, absolut gesehen dagegen schwächer - sechs Prozent von Hundert sind absolut gesehen weniger als ein Prozent von Tausend.
Deutschland als kranker Mann Europas: Was auch immer daran übertrieben, ungenau, einseitig sein mag - entscheidend ist in unserem Zusammenhang, daß sich diese Diagnose in großer Breite durchgesetzt hat; sie wurde zur Selbstverständlichkeit. Das Strohfeuer des Vereinigungsbooms Mitte der neunziger Jahre und die Börsenblase um die Jahrtausendwende führten vor Augen, wie groß die Sehnsucht nach Mehr (definiert im abstrakt-symbolischen Denkrahmen des proportionalen Vergleichs) nach wie vor ist, und wie leicht sich die
ökonomischen Erlösungshoffnungen der eigentlich gar nicht Verdammten hierzulande beflügeln lassen. Inzwischen reicht das nostalgische Fluidum des Begriffs "Wirtschaftswunder" an die Aura von "gloire" bei den Franzosen oder "Empire" bei den Engländern heran. Mit der Gegenwart haben all diese Sehnsuchtsfloskeln nichts zu tun.
An die Stelle übersteigerter Erwartungen ist nicht etwa ein differenzierter Blick für die tatsächlichen Verhältnisse getreten, sondern die Befürchtung des Schlimmsten. Aufs Ganze gesehen, stimmt auch im Jahr 2005 noch, was mit leichten Schwankungen seit Kriegsende gegolten hat: Daß Deutschland ein historisch beispielloses Wohlstandsniveau erreicht hat. Was sich bei einer objektiven Betrachtung als bloße Verlangsamung der Verbesserung darstellt, wird jedoch als Verschlechterung gefühlt.
Wachstumsnostalgische Desillusionierung und nationales Minderwertigkeitsgefühl verbinden sich zur vorherrschenden Grundstimmung. Daß es vielen immer noch gut geht, setzt sich gegen die Verwechslung proportionaler Zuwächse mit Lebenschancen nicht durch. Daß das durchschnittliche Realeinkommen auch in den neunziger Jahren stieg, wenn auch "nur" um fünfzehn Prozent, wird nicht zur Kenntnis genommen. Wenn man alle Kommentare zur deutschen Wirtschaftsentwicklung zusammennimmt, denkt man an Staatsbankrott und argentinische Verhältnisse. Das kursierende ökonomische Selbstbild ist gegen Fakten immun.
Längst hat sich das Gefühl deutscher Schwäche verselbständigt. Sogar die führende Stellung der deutschen Exportwirtschaft wird mit Bedenken kommentiert. Und wenn nicht: Wer weiß, wann auch in der Exportwirtschaft der Absturz kommt? Ein anderes Beispiel ist die Rezeption einer überraschenden Meldung im Jahr 2005: Deutschland war eine der führenden Nationen im internationalen Ranking der Patentanmeldungen. Die Medien gingen darauf nur beiläufig ein; gegen das landläufige Bild von der Schwäche Deutschlands in Forschung und Entwicklung konnte sich der objektive Nachweis des Gegenteils nicht durchsetzen. Was nicht zum Stigma der Schwäche paßt, zählt nicht. Am Ende der Winterolympiade 2002 hatte Deutschland alle anderen Nationen außer Norwegen in der Medaillenwertung hinter sich gelassen, doch die Öffentlichkeit ging verschämt zur Tagesordnung über, während Norwegen aus dem Häuschen war. Als Bundespräsident Köhler in einer Rede im Jahr 2005 Deutschland für seinen Nachkriegsweg verhalten lobte, erntete er massive Kritik: Die Rede sei "zu stolz" gewesen. Die Nation wirkt wie eine Frau, die sich ihrer Größe schämt und in gekrümmter Haltung geht.

Neue Distinktion

"Deutsche wollen müssen", formulierte Peter Sloterdijk in einem Interview. Was 2005 in Deutschland gewollt und gemußt ist, zeigte sich etwa in der vom SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering angestoßenen sogenannten Kapitalismusdebatte, die an die Gefühle aller
anständigen Menschen appellierte. Hier ging es um die Opfer der Cleveren und Gierigen, hier stand jemand für die ein, die wegen ihrer Ehrlichkeit für dumm verkauft werden. Viele nickten, weil endlich mal in aller Deutlichkeit gesagt wurde, was gesagt werden mußte.
Aufrichtige Empörung, Solidarität und Mitgefühl, all dies gehört zum Alltag der Moral. Die Kehrseite davon ist die Diskussion über das "Unterschichtenfernsehen". Bezeichnenderweise etablierte sich dieser Begriff erst dann in der Öffentlichkeit, als Harald Schmidt ihn in einem Interview verwendete (aufgetaucht war er schon vorher, etwa in Texten von Winterhof-Spurk oder Paul Nolte, ohne Aufsehen zu erregen ). Nur bei Harald Schmidt hatte der Begriff den Beiklang, für den das Publikum empfänglich war. Bei ihm amüsiert man sich gerne nach dem Feierabend des Gutseins. Wenn Harald Schmidt "Unterschichtenfernsehen" sagt, so ist Herablassung statt Brüderlichkeit gestattet, Distinktion statt Betroffenheit, Sarkasmus statt politischer Korrektheit. Zwar ist Herablassung in Deutschland verpönt, aber genau deshalb eignet sie sich als kabarettistischer Trumpf.

Was kein Soziologe je wagt, ist genau das, was das gebildete Publikum bei Harald Schmidt braucht, um sich von sich selbst zu erholen: die Ironisierung des normativen Konsenses. Er sagt "Unterschichtenfernsehen", und man hört "Proll-TV": Für Idioten gemacht, aber gottlob nicht für einen selbst. Vom moralisch Gebotenen erlöst, mit dem Erlaubnisschein des Kabaretts in den Händen, gestattet sich das Publikum die Wonne der Verachtung. Lange hält dies allerdings nicht vor; am nächsten Morgen schwenkt der Diskurs wieder auf die politisch korrekte Betroffenheit ein.

Was bedeutet diese Rückkehr zur altehrwürdigen Semantik hierarchisch übereinander gelagerter sozialer Großgruppen, die so tut, als ob die Gesellschaft der fünziger Jahre zurückgekommen wäre? Wer je in einer geschichteten Gesellschaft gelebt hat, wie sie in den fünfziger und sechziger Jahren gegeben war, wird Deutschland im Jahr 2005 nicht als klar gegliederte Oben-Unten-Gesellschaft beschreiben. Wo sind die klassischen Schichten, wo die erfahrbaren und im Bewußtsein repräsentierten Großgruppen in ähnlicher materieller Lebenslage mit
ähnlichem Lebensstil? Die materiell Gleichgestellten sind kulturell zu heterogen und die kulturell Ähnlichen materiell zu ungleich, als daß das Modell der geschichteten Gesellschaft noch passen würde; seine Zeit ist um.
"Unterschichtenfernsehen" als provozierende Floskel von Harald Schmidt war eine Erlaubnis zu neuer Distinktion im Gehäuse eines veralteten Sprachmusters. Der wahre Kern der Ironie zielte jedoch nicht etwa, der Wortwahl zum Trotz, auf Menschen, die ökonomisch "unten" stehen. Er zielte auf solche, die aus der Sicht der Nicht-Prolls für das Projekt des schönen Lebens zu blöd sind, auf die Oberdeppen der Lebenskunst: Sie haben nicht zu wenig Geld, sondern zu viel (für Unterhaltungselektronik, Bier, Schokolade und Kartoffelchips); und sie haben nicht zu wenig Zeit, sondern zu viel (für täglich sechs Stunden TV-Trash). Dies ist die neue Linie der Distinktion. In den sechziger und siebziger Jahren wurden die Diskurse über die Unterschicht noch von Fürsorge geprägt; eingeschlossen war dabei die Ablehnung kultureller Arroganz. Der neue Diskurs macht sich diese Arroganz zu eigen, doch das Objekt der Herablassung ist nun ein anderes: nicht die Unterschicht im hergebrachten sozioökonomischen Sinn, sondern die Glücksversager: Alle, denen es an Stil und Verstand fehlt, etwas Sinnvolles aus ihrem Leben zu machen.

Ungleichheit. Was anständige Soziologen müssen

"Aber es gibt doch soziale Ungleichheit"! Seit dem Erscheinen der Erlebnisgesellschaft im Jahr 1992 bekam ich diesen Satz immer wieder von Kritikern entgegengehalten. Man könnte den Eindruck gewinnen, ich behaupte das Ende der Ungleichheit, aber wer das Buch liest, wird nichts dergleichen finden. Auf zitierbare Aussagen kann sich der Tadel nicht beziehen, also muß er meine Voreinstellungen betreffen: meine Fragen, mein Menschenbild, meine impliziten Werte und Problemdefinitionen. Daß der Hund in der Tat hier begraben liegt, im Grundsätzlichen, wurde mir schon bald nach dem Erscheinen des Buchs in einer Rundfunkdiskussion deutlich. Wie in aller Welt könne man eine Soziologie des schönen Lebens versuchen, statt sich den Problemen des Mangels zu widmen? Wie könne man bloß ein Luxusthema aufgreifen, wenn die Not zurückkomme? Speziell Kritiker aus den Reihen der Soziologie zeigten sich entrüstet. Mit dem Deutschland der neunziger Jahre, schrieb etwa Peter Alheit, würden allenfalls "notorische Zyniker die Assoziation der Erlebnisgesellschaft verbinden".
Im Lauf der Rezeptionsgeschichte der Erlebnisgesellschaft bin ich dieser moralisierenden Rhetorik häufig begegnet, wenn auch fast nur innerhalb der Soziologie. Anständige Soziologen beschäftigen sich mit dem Elend der Welt; sie stehen auf der Seite der Schwachen, der Benachteiligten, der Opfer. Sie lassen sich vom schönen Schein der Glücksindustrie nicht blenden; klar sehen sie die permanente reale Verschlimmerung. Und sie träumen nicht vom autonomen und frei wählenden Subjekt; sie entlarven die Gesten der Freiheit als autosuggestive Tröstungen im ehernen Gehäuse struktureller Zwänge.
Soziale Ungleichheit und sonst nichts! Im Jahr 2005 hallt das Echo dieses kategorischen Imperativs aus nahezu allen soziologischen Beiträgen zum Thema wider. Daß der selektive Blick für das Leid der Welt als die moralisch bessere Sichtweise etabliert ist, muß den mißtrauisch stimmen, der sich für die ganze Wirklichkeit interessiert. So aufgeklärt sich die Diskursteilnehmer geben, so sehr lassen sie den Nachweis einer entscheidend wichtigen Teilnahmevoraussetzung vermissen, die Robert Merton organisierten Skeptizismus genannt hat. Überall stattdessen der Stallgeruch des Krisenparadigmas. Die fetten Jahre sind vorbei - daß dieser Film aus dem Jahr 2004 soviel Beifall fand und Preise abräumte, lag nicht an seiner analytischen oder dokumentarischen Kraft, sondern genau im Gegenteil an seiner Schablonenhaftigkeit.
Die politisch korrekte Sichtweise ist immer auf Verteidigung, nicht auf Selbstkritik eingestellt. Im Inneren des Stalls vertraut man einander, nach außen schießt man mit Worten wie "Traumtänzer", "Ideologe", "Spießer", "Neoliberaler", "Populist". Im Deutschland des Jahres 2005 hat dies dazu geführt, daß es ein Außen, eine Abweichung vom Krisenkonsens so gut wie nicht mehr gibt.
Wenn man sich vom Bourdieu-Altar entfernt, bietet sich die rare Gelegenheit zur Beobachtung wirklicher Emotionen selbst bei sonst eher spröden Kollegen. Der Tonfall wird scharf, das Auge blitzt, und jeder spürt: Jetzt geht es ans Eingemachte. Ausrufe wie "Haben Sie eigentlich keine Ahnung vom letzten Armutsbericht?" oder "Sie verwechseln die Werbung wohl mit der Wirklichkeit!" signalisieren jedem, der für eine historische Relativierung von Theorien sozialer Ungleichheit eintritt, das Betreten einer Verbotszone. Die Mindeststrafe dafür besteht im Ausschluß aus der professionellen Bruderschaft der Pflichtanwälte für die Unterprivilegierten. Immer mischen sich an dieser Stelle moralische Untertöne in die Debatte. Und es gerät in Vergessenheit, daß die einzige in wissenschaftlichen Debatten zulässige Moral das Verbot von Denkverboten ist. Im Kern geht es um die Frage, inwieweit Stile und Milieus durch soziale Ungleichheit bestimmt werden oder
auch nicht.

Jenseits von Bourdieu

Dem vertikalen Paradigma zufolge kommt es zentral auf eine Klasse von Unterschieden an: solche, die über den Zugang zu allgemein erstrebten Werten entscheiden. Ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital determiniert dann Stil und Milieuzugehörigkeit. Damit verbindet sich eine umfassende Vertikalisierung der sozialen Wahrnehmung, und als Konsequenz auch eine Vertikalisierung sozialer Netzwerke.
Es gibt mehrere Argumente, die für dieses Modell sprechen. Erstens ist es tief in der soziologischen Tradition seit Beginn des 20. Jahrhunderts verankert: Es können sich doch nicht alle geirrt haben! Zweitens weist das Modell auf einfache, intuitiv leicht zugängliche Mechanismen hin, die sich für die Konstruktion der Gesellschaft geradezu anbieten, sozusagen als kognitive Opportunitätsfalle. Drittens ist das vertikale Modell plausibel: Das Ausmaß der Teilhabe am Möglichkeitsraum ist für alle Menschen existenziell bedeutsam; in der sich daraus ergebenden Differenzierung haben die "oberen" Milieus genügend Mittel zur Verfügung, um sich nach "unten" hin abzuschließen, und letztere haben keine Wahl, als unter sich zu bleiben. In diesem Zusammenhang ist häufig von der "strukturellen Determiniertheit der Milieuzugehörigkeit" die Rede.
Andererseits: So überzeugend das vertikale Modell auch sein mag, so selbstverständlich ist doch die Annahme, daß es nicht immer und unter allen Umständen gelten muß. Für Soziologen, die es gewohnt sind, mit ständig aktualisierten gegenwartsdiagnostischen
Theorieentwürfen den Anschluß an den davon eilenden Gegenstandsbereich zu wahren, ist dieser Vorbehalt eine Banalität. Gleichwohl kommt man um die Feststellung nicht herum, daß das vertikale Paradigma zum blinden Fleck für die soziologische Wahrnehmung geworden ist. Die Kultur des Westens ist bevölkert von Stiltypen und Milieus, die sich deutlich voneinander abheben, ohne daß sich dies mit einem vertikalen Modell erklären ließe. Die immer wieder empirisch bestätigte starke Stil- und Milieurelevanz des Lebensalters etwa oder die Unterschiedlichkeit der Interessen, die Menschen im Lauf ihres Lebens entwickeln und pflegen, müßte auch den Verfechtern des vertikalen Paradigmas zu denken geben.
In den etwa drei Jahrzehnten der Rezeptionsgeschichte von Bourdieus Arbeiten wird die Gefahr immer größer, daß sich Begeisterung in Verehrung verwandelt. Eine Neigung macht sich breit, seine Theorie als Apriori und Schlußstein zugleich aufzufassen. Vielen erscheint die Frage, ob es auch ein Jenseits von Bourdieu geben könnte, als Anmaßung, die sie selbst nicht wagen und deshalb auch anderen verbieten wollen. Was der Kodex dieser Art von Heiligenverehrung allenfalls erlaubt, ist die Verbreitung der Botschaft aus der Perspektive von Zwergen, die auf den Schultern eines Riesen stehen. Der Abschied von solcher intellektuellen Trittbrettfahrerei beginnt damit, daß man sich selbst die Erlaubnis gibt, so frei nachzudenken, wie dies die Klassiker getan haben, und daß man die dabei unvermeidlichen Gefühle der Kleinheit und Unsicherheit als notwendigen Tribut an den Job begreift, dem man sich als Wissenschaftler nun einmal verschrieben hat.
Eine Theorie der Entstehung sozialer Milieus durch differenzielle Assoziation (Wahlen und Abgrenzungen) ist bei Bourdieu nicht systematisch ausgearbeitet. Eine solche Theorie wird um so wichtiger, je mehr Menschen tatsächlich die Wahl haben. Desto weniger sind Milieus etwas "strukturell Gegebenes".
Zusätzlich fehlt bei Bourdieu der Blick auf die historisch einmalige Erweiterung des Möglichkeitsraums - eine für die soziale Konstruktion von Gesellschaft entscheidende Bedingung. Eine historisch flexible Theorie muß die Frage reflektieren, in welchem Umfang sich Menschen ihren Stil aussuchen können und inwieweit sie darüber bestimmen, mit wem sie Umgang haben und mit wem nicht.
Damit im Zusammenhang steht eine weitere Restriktion Bourdieus: Die Fixierung auf die Distinktionsbedeutung von Stilen, als ginge es den Menschen immer nur darum, auf andere herabzuschauen, und als gehörte es nicht zu unserer Alltagserfahrung, daß Menschen uns auf eine Weise fremd sein können, bei der wir nicht zu sagen wissen, ob sie "über" oder "unter" uns zu lokalisieren sind.

Der Mensch als Opfer. Ein innerer Widerspruch

Indessen prägt die Erlebnisgesellschaft allmählich ein ganz anderes Bewußtsein von Vertikalität und Hierarchie aus. Was bei der Diskussion um das Unterschichtenfernsehen besonders aufhorchen läßt, ist die klammheimliche Verabschiedung der Sozialfigur des Opfers. In den Angehörigen der früheren Unterschicht konnte man Ausgebeutete, Ausgetrickste, Machtlose sehen, Menschen, denen man zu ihrem Recht verhelfen mußte. Die neue Distinktion sieht Subjekte, wo früher von Objekten die Rede war, sie sieht Täter anstelle von Opfern. Pietätlos verweigert sie denen den Respekt, die ihren Tag mit Schwachsinn vergeuden und sich dabei dick und krank essen.
Was die neue Distinktion nur hinter vorgehaltener Hand und getarnt durch Ironie wagt, den Einzelnen als selbstverantwortliches Wesen anzusehen, verstößt erst recht gegen den Moralkodex der anteilnehmenden, fürsorglichen Soziologie. Sie braucht die Figur des Opfers geradezu für ihre Existenzberechtigung, wie etwa Thomas Meyer in seiner Kritik der Lebensstilforschung ausführt. Er skizziert ein Menschenbild, das nicht selbst Bestandteil der soziologischen Analyse ist, sondern als Bedingung soziologischer Analyse vorab konstruiert wird. Sichtbar wird der sozial determinierte Mensch, die Marionette der objektiven Bedingungen, der arme Irre in der geschlossenen Anstalt der Gesellschaft, Abteilung "Autonomiephantasten".
Auf den ersten Blick scheint dieses Apriori überzeugend. Es könnte sich doch wirklich so verhalten, nicht zuletzt, weil es auch empirische Hinweise gibt. Außerdem weist dieses Apriori der Soziologie eine starke Stellung zu. Es hat einen verführerischen Reiz: Wenigstens der Soziologe sieht den Dingen auf den Grund, wenigstens er ist nicht verblendet, wenigstens er scheint die Ausnahme vom Normalfall des Menschen als Opfer der Umstände zu sein. Wo sich alle täuschen lassen, sieht er klar, entschleiert, enttarnt, reißt Mauern in den Köpfen ein.
Doch das Argument ist selbstwidersprüchlich. Entweder ist auch der Soziologe selbst den Mechanismen unterworfen, die er analysiert; dann sollte er wie alle anderen über etwas schweigen, worüber er grundsätzlich nicht reden kann. Oder er ist es nicht, dann ist es aber niemand. Dieser Gedanke gewinnt noch an Schärfe, wenn man sich vor Augen hält, daß Soziologen mit einem aufklärerischem Anspruch auf die
Bühne treten. Sie machen dadurch die Menschen außerhalb der Soziologie zu ihren Mit-Denkern. Jedem ist dieselbe Autonomie zuzutrauen, die Meyer für die Soziologie in Anspruch nimmt, wenn er ihr "Ideologiekritik" auf die Fahne schreibt. Das Apriori des ewigen Opfers schließt aus, wofür es angeblich einstehen soll: Aufklärung, Befreiung, Selbstbestimmung.

Gerhard Schulze


Gerhard Schulze ist Professor für Methoden der empirischen Sozialforschung an der Universität Bamberg.



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