Buch, Deutsch, 248 Seiten, Format (B × H): 149 mm x 220 mm, Gewicht: 473 g
Geschichte und Gedächtnis einer Stadt zwischen den Kulturen
Buch, Deutsch, 248 Seiten, Format (B × H): 149 mm x 220 mm, Gewicht: 473 g
ISBN: 978-3-593-39308-7
Verlag: Campus Verlag GmbH
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Inhalt
Einleitung 9
Martin Schulze Wessel, Ekaterina Makhotina
I. Nationalisierte Stadtlandschaften: Das litauische Erbe im heutigen Vilnius 25
Katarina Frankovic, Johannes Kontny, Viola Pokriefke, Ekaterina Makhotina
Von Rittern und 'Goldenen Zeiten' – Inszenierung der nationalen Geschichte 39
Okkupation und Widerstand, Gewalt und Glauben: Visualisierungen der sowjetischen Epoche im Museum für die Opfer des Genozids 50
Das Gedenken an den 13. Januar 1991 als Symbol litauischer Eigenstaatlichkeit 63
II. 'Jerusalem des Nordens': Das jüdische Vilnius in Geschichte und Erinnerung 74
Jan Arend, Bojidar Beremski, Kateryna Katsun, Jörg Möhring, Emanuel Tatu
Das Ghettotheater von Vilnius: Erinnerungen an Leid und Widerstand 87
Paneriai: Eine ehemalige Hinrichtungsstätte im Gedächtnis der Nachwelt 93
Das jüdische Museum von Vilnius: Ort der stolzen und der traumatischen Erinnerung 103
III. Topographie der Sehnsucht: Das polnische Wilno als Projektionsfläche für Patriotismus und Nostalgie 115
Agnieszka Balcerzak, Anke Multrus, Nele Quecke, Magorzata Sidorowicz
Polnische Friedhöfe und der Pisudski-Kult in Vilnius 127
Vilnius als Pilgerziel und Ort religiösen Nationalgedenkens 135
Mickiewicz’ Wilno: Die Stadt als Ort der Erinnerung an den romantischen Dichter und Freiheitskämpfer 142
IV. Spuren und Leerstellen der sowjetischen Ära in Vilnius 155
Nataliya Aleksenko, Carol Marmor
'Disneyland des Stalinismus' – Der kommerzielle Umgang mit der sowjetischen Vergangenheit im Denkmalpark Grut parkas 166
Die Tragödie von Piriupiai 179
V. Vom Europa 'en miniature' zu gegenwärtigen Neuverortungen 191
Karl-Philip Güntert, Petr Heczko, Camilla Pabst, Tetyana Strashevska
Universitäten in Vilnius und ihre Beziehungen zu Europa als Bildungslandschaft 203
Vilnius – Europäische Kulturhauptstadt 2009 212
Der Europa-Park und der geographische Mittelpunkt Europas: Zur symbolischen Aufwertung von (Stadt-)Raum 222
Nachwort 231
Chronologie 232
Literatur 236
Abbildungsnachweise 242
Register 243
I. Nationalisierte Stadtlandschaften: Das litauische Erbe im heutigen Vilnius
Katarina Frankovic, Johannes Kontny, Ekaterina Makhotina, Viola Pokriefke
Der junge Stadtführer Adomas Gricius zeigt ausländischen Gästen in Vilnius gerne das multikulturelle Gesicht seiner Stadt. Er möchte, dass die Touristen vor allem einen Eindruck der Vielfalt und des kulturellen Reichtums von Vilnius mit nach Hause nehmen. Lange Jahre habe Vilnius eine Brückenfunktion zwischen Ost und West erfüllt – und auch heute noch begegneten sich hier Menschen unterschiedlicher Kulturen und Religionen. Die Spuren einer im Laufe von Jahrhunderten gewachsenen Multikulturalität seien auch heute noch lesbar, dies ist die Leitlinie einer engagierten und eloquent in fließendem Englisch gehaltenen Stadtführung für internationale Touristen. Am Ende der Führung streicht der junge Litauer jedoch eine national-litauische Prägung von Vilnius heraus: Ihre 'Sonderrolle' im Baltikum liege darin begründet, dass die Stadt durch die indigene Bevölkerung und nicht durch einen 'Fremdherrscher' gegründet worden sei.
Wie litauisch ist Vilnius, wie national präsentiert es sich dem Besucher? In Werken der Schriftsteller Tomas Venclova und Czesaw Miosz liest man von der kulturellen Vielfalt der Stadt, historische Abhandlungen schreiben die Stadtgeschichte als Verflechtungsgeschichte, doch in der litauischen Hauptstadt anno 2009 werden als genuin litauisch interpretierte Orte und Zeichen besonders prominent in Szene gesetzt. Die so geprägte Stadttopographie zeugt von dem Versuch, die historischen Wurzeln der Nation in der Gegenwart erfahrbar zu machen. Dem als nationale Blütezeit gedeuteten Mittelalter wird dabei besondere Wichtigkeit beigemessen. Kaum ein anderes Ereignis wird in Vilnius feierlicher begangen als die Entstehung der litauischen 'Nation'. Diese wird auf das Jahr 1009 zurückgeführt, als die Bezeichnung Litua zum ersten Mal in den Quedlinburger Annalen erwähnt wurde. Große Plakate sowie Bilder auf Litfaß-Säulen verkündeten im Jahr 2009 das 1.000-jährige Jubiläum und prägten durch ihre Präsenz das Stadtbild. Durch sie kam in besonders augenfälliger Weise das genuin Litauische zur Sprache. In seiner aktuellen Ausführung und geschichtspolitischen Prominenz übertraf es das Feierpathos zum erworbenen Status der Kulturhauptstadt Europas.
Die Bedeutung des mittelalterlichen Erbes für die Gegenwart
Die Vielfalt der kulturellen Traditionen und die politischen und zivilisatorischen Brüche machen es schwer, der litauischen Nation in der gegenwärtigen staatlichen Erinnerungspolitik und der Neugestaltung des öffentlichen Raums nach 1991 ein einheitliches Fundament zu geben. Es überrascht daher nicht, dass die Suche nach nationalen Erinnerungsorten mit einer Auswahl von Motiven verbunden ist, welche die nationalen Sinnbedürfnisse der Gegenwart widerspiegeln. So ist das Großfürstentum Litauen, wie es als unabhängiges Staatsgebilde vor der Union mit Polen existierte, einer der populären Bezugspunkte für die postsozialistische Stadtgestaltung; hier wurde auf den in der Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts und dann in der Zwischenkriegszeit etablierten Fundus an nationaler Kultur, auf die entsprechenden Heldenfiguren, Bilder, Bauwerke und Staatsymboliken zurückgegriffen. Allerdings war auch ein Teil des kulturellen Erbes, etwa die unweit von Vilnius gelegene Burg Trakai, bereits zur Sowjetzeit rekonstruiert worden. Der Wiederaufbau war Teil einer sozialistischen Geschichtskultur, in der nationale Deutungen durchaus ihren Platz hatten. Schulbücher prangerten die frühneuzeitliche Fremdherrschaft der polnischen Magnaten an. Die offizielle Erinnerung an die Schlacht von Tannenberg, in der die Truppen des Großfürstentums im Jahr 1410 dem Deutschen Orden einen entscheidenden Sieg abrangen, hatte in sowjetischer Zeit die Funktion, die Furcht vor dem 'deutschen Drang nach Osten' zu schüren und die Freundschaft mit den Völkern der Sowjetunion zu begründen. Ein Ausdruck dieser sinnstiftenden Bezugnahme auf 1410 war die Benennung des 1950 errichteten Žalgiris-Stadions nach der litauischen Bezeichnung für den Ort Tannenberg.
Heute wird das Großfürstentum anders als zu sowjetischen Zeiten imaginiert: Es gilt als erste Manifestation der unabhängigen litauischen Staatlichkeit, die bereits für die Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts ein wichtiger Bezugspunkt war und nach dem Ersten Weltkrieg in der Republik Litauen politisch realisiert worden ist. Deutlich wird diese gegenwärtig wieder erstarkende Kontinuitätslinie vor allem an den zahlreichen in den neunziger Jahren errichteten Denkmälern, die an die litauischen Ritter und Fürsten erinnern. Diesen Sprung in die ferne Vergangenheit illustriert das auf dem Kathedralenplatz errichtete Denkmal zu Ehren des mittelalterlichen Herrschers Gediminas, der als Staatsgründer gesehen wird. Der bronzene Großfürst strebt mit seinem ganzen Körper vorwärts, sein Pferd scheint er hinter sich herzuziehen. Die Längsseite des Sockels zeigt Reliefs weiterer Herrscher, auf der Frontseite des Denkmals ist in litauischer Sprache die Inschrift 'Litauens Großfürst Gediminas 1316–1341' zu lesen, ein heulender Wolf erhebt sich vom Sockel (Abb. 1).
Der litauische Künstler Vytautas Kašuba versinnbildlicht mit diesem Denkmal den Gründungsmythos der Stadt, nach dem Gediminas, erschöpft von der Jagd, am Fuße des heutigen Gediminas-Bergs genächtigt haben soll. Der Sage nach erschien dem Großfürsten im Traum ein Wolf, der laut heulte und von keinem Pfeil verwundet werden konnte. Ein Priester deutete den Traum und riet Gediminas, auf dem Berg eine Burg zu errichten. Die Söhne der neugegründeten Stadt am Fluss Vilnia würden ihren Ruhm weit über die Landesgrenzen hinweg mehren. Diese klassische Sage zur Stadtentstehung mit Motiven des Traums, des Wolfs und der Burg liegt dem Hauptstadtmythos zugrunde. Der Gediminas-Burgturm hat bis heute eine herausragende Bedeutung für litauische Stadtbewohner in Bezug auf den Hauptstadtstatus. Ehemals ein beliebtes Angriffsziel, präsentiert sich die Burg heute als ein nationales Symbol (Abb. 2).
Direkt hinter dem Gediminas-Denkmal befindet sich das wichtigste und zugleich wegen seiner hohen Kosten umstrittenste Projekt der Feierlichkeiten des 'Millenniums' Litauens. Dabei wird der einstige Fürstliche Palast rekonstruiert, der Teil einer umfangreichen Burganlage war, deren Geschichte bis in die Entstehungsphase des Großfürstentums im Mittelalter zurückreicht. Der Palast, welcher im 16. und 17. Jahrhundert von Renaissancearchitekten gestaltet wurde, besteht bereits seit mehr als zwei Jahrhunderten nicht mehr. Für die im Jahr 2003 begonnene Rekonstruktion spielt nicht nur der Rückbezug auf die Ursprünge des Großfürstentums eine Rolle, sondern auch die historische Bedeutung der Anlage als kulturelles Zentrum in der Frühen Neuzeit.
Auch das Denkmal auf dem Platz vor dem Nationalmuseum, welches den vom Papst gekrönten litauischen König Mindaugas zeigt, der zwischen 1238 und 1263 herrschte, ist jüngeren Datums. Es wurde 2003, zum 750. Jahrestag der Krönung des Königs, vom litauischen Bildhauer Regimantas Midvikis geschaffen. Auf einem Thron sitzend, hält Mindaugas in seiner rechten Hand das Zepter, in der linken einen Reichsapfel. Sein gekröntes Haupt ist leicht nach links gewandt. Der Fuß des Denkmals ist von einem Sonnenkalender umgeben, welcher die bedeutendsten Feiertage markiert. Das Wirken des Königs Mindaugas stellte ein wichtiges Thema der von der Nationalbewegung inspirierten Historiographie dar, ihm wurde vor allem die Zusammenführung des Großfürstentums zu einem einheitlichen Staatsgebilde und die daraus folgende Wahrnehmung Litauens im römisch-katholischen Europa zugeschrieben (Abb. 3).
Im Großfürstentum sah die litauische Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts den frühen Vorläufer eines noch zu gründenden litauischen Nationalstaates. Die Bedeutung der stark mythologisierten Erinnerungsfigur Mindaugas reicht bis in die Gegenwart: Der 6. Juli, Tag seiner Krönung im Jahr 1253, ist ein offizieller Staatsfeiertag. Das litauische Parlament bestimmt durch neue Gedenktaginitiativen, was erinnerungswert ist. Eine bemerkenswerte Menge an neuen Staatsfeiertagen erinnert an 'historische' Ereignisse aus dem Mittelalter. Offenbar wurde das starke identitätsstiftende Potenzial dieser Epoche erkannt. Ebenso sind die Eigennamen aus der Epoche in der öffentlichen und privaten Sphäre präsent: Der Name Mindaugas lag bis vor wenigen Jahren sogar auf dem ersten Platz bei der Wahl der Kindernamen.