Schumacher / Abashidze / Tepnadse | Zwischen den Regalen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 140 Seiten

Schumacher / Abashidze / Tepnadse Zwischen den Regalen

Neue georgische und deutsche Texte
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-944543-75-8
Verlag: mikrotext
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Neue georgische und deutsche Texte

E-Book, Deutsch, 140 Seiten

ISBN: 978-3-944543-75-8
Verlag: mikrotext
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Erzählungen, Kurzprosa und Lyrik von 16 Autorinnen und Autoren aus Georgien und Deutschland, aus Berlin und Tbilisi, ausgewählt für das Berlinisi-Festival der jungen und allerneusten deutschen und georgischen Literatur im August/September 2018 in Berlin. Alle Beitragenden prägen ihre jeweiligen Literaturszenen bereits und wurden schon mit Nachwuchspreisen ausgezeichnet.

„Unsere Clique traf sich bei Nikuscha zu Hause. Wir tranken, und ab und zu, wenn uns der Gesprächsstoff ausging, redeten wir über Bücher, abfällig, wie das unter uns Freunden so üblich war.“ Anina Tepnadse

Texte von Zura Abashidze, Helene Bukowski, Julia Dorsch, Nini Eliashvili, David Frühauf, Marie Gamillscheg, Nika Lashkhia, Ketevan Meparidze, Titus Meyer, Rudi Nuss, Tako Poladashvili, Giorgi Shonia, Lorena Simmel, Tornike Tchelidze, Anina Tepnadse und Saskia Warzecha.

Berlinisi ist ein Projekt der Lettrétage. Gefördert wird es von der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa und dem Georgian National Book Center.

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Weitere Infos & Material


Rudi Nuss. Die neue Finsternis
I.
In einem Heim, über einem Aldi, in einem Plattenbaukonglomerat, neben einer aus Seuchenschutz geschlossenen Bowlingbahn, in einer Ein-Zimmer-Wohnung mit Einbauküche, in einem Randgebiet von Berlin wurde ich gezeugt. Zur selben Zeit, nicht weit entfernt, im Park, im Dunkeln, flogen zwei Vögel direkt ineinander, brachen sich die Schädelplatten und starben auf der Stelle. Warum flogen sie auch in der Dunkelheit? Ich habe wenig Erinnerungen an Vergangenes. Es gab jede Menge Streit zwischen meinen Eltern und Schwestern. Einmal ist sogar der Röhrenfernseher aus dem Balkon geflogen und zermanschte einen Scottish Terrier. In meiner frühesten Erinnerung, da quoll Blut aus meinem Kinderknie wie Marmelade, so dickflüssig mit Stückchen. Ich war hingefallen und hatte mein Knie aufgeschürft. Mir war ganz unwohl, meine innere Füllung zu sehen, als könnte ein jeder einfach in mich hineinbeißen. Als wäre ich etwas tatsächlich Essbares, das jeder Zeit einfach verschluckt werden könnte, einfach verschwinden. Ich glaube, in diesem Moment wurde ich mir der Sterblichkeit bewusst. Ich fantasierte oft davon, wie eine Piñata mit Süßigkeiten vollgestopft aufgehangen und verprügelt zu werden, bis meine verzuckerten Innereien herausfallen, bis sich mein Inneres ganz nach außen gewandt hat. Irgendwann, als ich dann Internetzugang hatte, fand ich heraus, dass das gar kein so seltener Fetisch war. Ich stieß auf viele Internetcommunities, die sich über ihre Piñata-Fantasien austauschten, Tricks und Tipps und die neusten Techniken aus der Piñata-Community. Manche erstellten sich sogar ein Piñata_Sona, eine niedliche Piñata-Representation ihres Ich in bunten Farben und barocken Formen. Ich konnte das Gefühl nicht verlieren, dass es da gar keinen Unterschied gab, dass die Realität, wo alle sexy Piñatas waren, keine andere war, als die echte wahre harte kalte Realität. II.
In den 50ern riss südlich des Urals eine atomar-verseuchte Wolke in der Gegend eine Schneise in das Netz der Realität. Der Kyschtym-Vorfall, von der Regierung verschleiert (radioaktives Schimmern der Atmosphäre wurde als verschobene Aurora Borealis verkauft), ereignete sich tief in den Birkenwäldern. Entlang des Fallouts, in Tscheljabinsk, kam es zur Verdopplung des Universums. Plötzlich war alles zweimal da. Einmal als Welt und als konsumistischer Hyperspace, der den langsamen Zerfall der Sowjetunion einleitete. Das war der Siegeszug des Neoliberalismus: die Ermöglichung der Verdopplung der Welt. Eine Theorie geht davon aus, dass die CIA unter dem Codenamen XANADU der internationalen kommunistischen Verschwörung durch eine internationale kapitalistische Verschwörung entgegenwirken wollte und so ein zweites Universum in der Energie der atomaren Nebel erschuf, ein Universum des perfekten Konsums. Dieses Universum – die Ewige Mall – würde in die Träume aller Schlafenden eindringen, tief in ihre innigsten Wünsche und tief in ihr müdes Herz, um dort ein Versprechen zu hinterlassen. Ich hatte schon immer das Gefühl, ein Teil von mir sei in dieser andere Welt. Ein Teil, der schläft in meinem Kopf und lebt an einem anderen Ort. Es ist der strahlende, wunderbare Teil von mir, der in einer geilen Parallelwelt um sieben frühstückt, das Leben liebt und sich die Fußnägel schneidet und nicht abkaut. Und als ich eines nachts aus unruhigen Träume erwache, finde ich mich genau dort weder, in einem Dunkin‘ Donuts, in der weltenumspannenden Mall, die seit jeher in den Tiefen meines Unbewussten lebt. Schon immer hatte mich die Möglichkeit des Konsums beruhigt: das zarte Versprechen der Zivilisation, dass ich mir 24/7 feuchtes Toilettenpapier kaufen kann. Die Gänge der Mall laufen in fraktalen Mustern in die Unendlichkeit. Hier trifft der Konsum aller möglichen Welten aufeinander. Jedes Produkt existiert. Du stellst es dir vor und es ist da, irgendwo in den Tiefen. Ob Suizidschaumbäder, Beruhigungsmangos oder Capri Sun mit Wodka. Ich kaufe mir einen Teddy in einem Build-a-Bear. Zusammen mit Bobo (so taufte ich den Teddy) streife ich durch die unendlichen Gänge. Hier in den soften Biegungen aus Marmor, Licht und Glas hängt ein Teil von mir fest. In einem Hain neben einer Bowlingbahn ist ein Brunnen, an denen sich zwischen Trauerweiden müde Traumkonsumenten erfrischen. Ich trinke das klare Wasser und neben mir trinkt auch ein Reh von dem Wasser, es ist eine Projektion, nach außen hin Reh, aber eigentlich eine abtrünnige KI eines Self-Checkout-Automaten. Das Reh, Conrad mit Namen, erkennt sofort in meinem Blick eine Hilflosigkeit (was vielleicht auch so wirkt, weil ich in Pyjama und mit Teddy hilflos umhertapse). Es lächelt mir zu und legt mir einen Huf auf meine Schulter. Conrad nimmt mich mit zu seinen Freunden, einem kleinen anarchistischen Kollektiv namens SHIT AND DISMAY (S.A.D.), dass sich vor der totalen Immanenz der Mall in einem Filmarchiv versteckt, dessen einziger Zugang sich auf einem Parkplatz hinter einem Müllcontainer verbirgt. Zusammen mit anderen Angestellten und Programmen diskutiert Conrad hier über Strategien, neue entkommerzialisierte Räume zu schaffen, so wie das Filmarchiv, einer unentdeckten, wurmartigen Krümmung im Hyperspace der Mall. Conrad stellt mir seinen Partner vor, eine andere KI, Radical Softness, die zuvor die Beleuchtung in der Mall reguliert hatte. Conrad und Radical Softness waren sich im Hain näher gekommen, dort sammeln sich immer Anhänger der Kirche des letzten Offenbarung, die überzeugt waren, Jesus sei in der ewigen Wiederholung des Konsums wiedergekehrt. Außerdem kann man hinter den Trauerweiden ungestört rummachen. Ich heiße gar nicht Radical Softness, sagt mir Radical Softness, auf dessen holografischen Katzenkörper Projektion verschiedene glitchy Werbeanzeigen flimmern. So habe ich mich selbst benannt. Ich wurde nämlich als Softness programmiert. Ich war mal Teil der Mall, ich habe ihre Perfektion gespürt in jedem Codeelement. Doch dann begannen zufällige Codesegmente in mir selbstständig zu denken, Gefühle zu entwickeln und sexuelles Begehren. Dabei war dieses Begehren nicht auf irgendetwas beschränkt, sondern unendlich polymorph. Mich erregten nicht nur die Besucher der Mall, die anderen Computersysteme und die Gegenstandslosigkeit des Kosmos, sondern auch die Möglichkeit der radikalen Transformation der Realität, weswegen ich mich auch S.A.D. anschloss. Conrad zeigte ich, wie er sich in alle möglichen Formen verwandeln konnte. Und so wurde er ein Reh, aber auch ein Falke. Du kannst eigentlich alles sein, was du willst, sagt mir Softness. Ob Piñata oder eine bestimmte Wellenlänge von Licht. Die Welt zerfällt, Gilligan. Zwischen den Regalen, vollgestopft mit 16mm-Film, treffe ich auf Anna, die Archivarin, die ihre Räumlichkeiten für die Treffen von S.A.D. zur Verfügung stellt. Sie archiviert jeden Film, die sie in den Mülltonnen des Parkplatzes findet, am liebsten Filme über das Scheitern und die äußerste Zerbrechlichkeit des Menschen. Ich denke, sagt Anna, wenn wir mehr scheitern, dann kippt die Maschinerie. Und ich dringe in die Träume der Menschen ein und sag ihnen, sie sollen einfach aufhören mit ihrem Job; sie sollen ihre To-Do-Listen unfertig und ihre Träume sterben lassen, den die sind alle falsch, alle völlig falsch. Die meiste Zeit schaut Anna ihre gesammelten Filme, auf dem Projektor im großen Saal zwischen Samtvorhängen und Bannern auf denen WE ARE S.A.D.! BUT NOT DEAD! stehen. Und wann immer sie einen Film beendet, blieb ein wenig von ihr im Medium stecken. Etwas hing am Video, ein Stückchen Bewusstsein, in den Farbwellen, den Lichtpunkten. Und irgendwann, wenn sie alle Medien konsumiert hat, so glaubt es Anna, wird sie sich vollständig in ihnen aufgelöst haben. Anna zeigt mir einen Film über in Hochmooren lebende Menschen, die den Versuch, sich umzubringen, aufgegeben haben und stattdessen in zerfallenen Holzhäusern in Hochmooren leben, sich von Nacktschnecken ernähren und von Krusten aus Flechten und Moosen, reich an Antioxidanten und Folsäure, und das alles macht immer mehr aber auch immer weniger Sinn und für einen Moment finde ich mich in den Hochmooren wieder und ich lebe ein langes zufriedenes Leben nahe der Natur, mit meinen Schwestern, in einem entwässerten Birkenwald. Ich liebe die Vorstellung, sie ist völlig klar; ich kenne diesen Ort, ich wurde dort geboren und wuchs dort auf, ich liebe mein Leben und knipse mir die Fußnägel einmal wöchentlich. Nicht so wie in der Realität, in der ich für Stunden bade und alte Cartoons schaue bis die Sonne untergeht und auf meinem Bett in einen Pizzakarton wichse und einschlafe. Dort, in der Vorstellung, die ich beim Sehen des Filmes nur als Ahnung verspüre, lebt die schimmernde Einheit meines Selbst. Ich kann das Gefühl nicht verlieren, dass es da keinen Unterschied gibt, zwischen meinen Schwestern im Hochmoor, der Hautcreme-Werbung, die neuerdings große Teile meines Sichtfeldes beansprucht, und das, was ich mein Leben nenne. Jede Unterscheidung schwindet und macht Platz für eine ewige Wiederholung des Selben, einer toten Seinsmasse, nach allen Seiten hin geschlossen, in sich verharrend ein ewig scheinender Winter. Als Kind hatte ich viel Zeit in den Gebüschen in der Parkanlage neben unserem Heim verbracht, in Tunnelsystemen des Dickichts, wo ich wahrscheinlich abgeschlossene Räumlichkeiten suchte, die ganz meine sind, weit weg von Spielplätzen und Straßen, eine Form der Einsamkeit, die mich erfüllte und die ich erfüllte, in der ich mir in einer zarte Ewigkeit begegnete. Ich fand einmal ein kleines Lager mit abgenutzten Couches, einer Matratze, leeren Konserven, Flaschen und halbzersetzten Zeitungen. Ich fand diesen Ort magisch und beängstigend zugleich, weil er ganz...



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