Schuppert | Verflochtene Staatlichkeit | Buch | 978-3-593-50180-2 | sack.de

Buch, Deutsch, Band 21, 411 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 215 mm, Gewicht: 528 g

Reihe: Staatlichkeit im Wandel

Schuppert

Verflochtene Staatlichkeit

Globalisierung als Governance-Geschichte
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-593-50180-2
Verlag: Campus

Globalisierung als Governance-Geschichte

Buch, Deutsch, Band 21, 411 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 215 mm, Gewicht: 528 g

Reihe: Staatlichkeit im Wandel

ISBN: 978-3-593-50180-2
Verlag: Campus


Die Geschichte der Globalisierung beschäftigt sich besonders mit der weltweiten Intensivierung von Wirtschaftsbeziehungen und der Vernetzung der Finanzmärkte. Dieses Buch lässt die Globalisierung viel früher beginnen: mit der Ausbreitung des Christentums und des Islam in Antike und Mittelalter sowie mit dem Aufbruch der europäischen Handelsnationen nach Ostasien und der weltweiten 'mission civilisatrice et religieuse' in der frühen Neuzeit. So kommen – im Zusammenspiel von Staat, Kommerz und Religion – neue Akteure der Globalisierung in den Blick, etwa die 'Staatlichkeitsunternehmer' des frühen Kolonialismus und die katholischen Missionsgesellschaften. Aus Sicht der Governance-Forschung entsteht so ein vielfältiges, bisher noch nicht präsentiertes Bild der Globalisierung.
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Inhalt

Danksagung 13

Einleitung: Der Staat als Chamäleon 15

1. Globalisierung als Beobachtungsarena 17

2. Zur Governance-Perspektive als Sehhilfe und Analyseinstrument 21

3. Wandel des Staates unter Bedingungen verflochtener Staatlichkeit 27

3.1 Ideengeschichte als Verflechtungsgeschichte 28

3.2 Zum Zentralbegriff der Verflechtungsstrukturen 30

4. Zu Aufbau und Struktur des Bandes 32

Kapitel 1: The Business of Empire oder Staatlichkeitsunternehmer als Globalisierungspioniere 36

1. "The Business of Empire" - Eine Koproduktion miteinander verschränkter Akteure und Institutionen 36

2. Ein besonderer Governance-Akteur betritt die Bühne: Der Staatlichkeitsunternehmer 38

3. The Chartered Companies - Eine institutionelle Innovation der Globalisierungsgeschichte 40

3.1 Was sind Chartered Companies? 40

3.2 Die hybride Institution der privilegierten Handelskompanien als institutionelle Innovation 42

3.3 Die East India Company - Eine in jeder Hinsicht bemerkenswerte Institution 43

4. Kaufleute als Kolonialunternehmer: Das Beispiel der Welser 52

4.1 Kolonisationsunternehmer und Kolonisationsverträge 52

4.2 Privatkolonien oder quasi-private Kolonien 53

4.3 Die Welser als Kolonialunternehmer 55

5. Die Hanse - Ein virtueller Halbstaat 58

5.1 Was war die Hanse? 58

5.2 Hansische Akteure und Strukturen 61

5.3 Die Hanse als Netzwerk 66

6. Städte als Globalisierungsorte 67

6.1 Hafenstädte als Globalisierungsorte 67

6.2 Finanzplätze als Globalisierungsorte 71

7. Von den Chartered Companies zu transnationalen Unternehmen 71

7.1 Going to Know Multinational Enterprises oder was sind transnationale Unternehmen? 71

7.2 Transnationale Unternehmen als Ko-Produzenten von Staatlichkeit 78

Kapitel 2: Globalisierung als "institution buildung" ? Imperien und Netzwerke als gobalisierungstypische Verflechtungsstrukturen 101

1. Einleitung: Imperien und Netzwerke als Erscheinungsformen globaler Ordnungsbildung 101

1.1 Was der Leser von diesem Kapitel nicht erwarten darf 101

1.2 Netzwerke und Imperien - Zwei offenbar schwer zu trennende Phänomene 104

2. Imperien 106

2.1 Was sind eigentlich Imperien? 106

2.2 Die Gewährleistung des Zusammenhalts als zentrales Governance-Problem von Imperien 111

2.3 Imperien als Kommunikationsräume 122

2.4 Virtuelle Imperien oder zum Konstrukt kaiserlicher Weltherrschaft 139

3. Netzwerke 158

3.1 Was sind eigentlich Netzwerke? 158

3.2 Sechs Begegnungen mit der Ubiquität der Netzwerkmetapher: Ein beeindruckendes Erlebnis der Vielfalt disziplinärer Perspektiven 162

3.3 Institutionelle Kompetenz und Funktionslogik von Netzwerken 172

3.4 Netzwerke als Paradebeispiel für Governance-Strukturen jenseits des Nationalstaates 180

Kapitel 3: Der Staat in der verflochtenen Finanzwelt ? Zwischen den Rothschilds und dem Internationalen Währungsfonds 187

1. Einleitung: Globalisierte Finanzgeschichte im Spiegel ihrer Verflechtungsakteure und Verflechtungsstrukturen 187

1.1 Eine neue Begriffssprache einer als Krisengeschichte wahrgenommenen Finanzgeschichte: Finanzmarktstabilisierung, Bankenrettung, Euro-Rettungsschirm und Experten-Troika 188

1.2 Zum Doppelfokus dieses Kapitels 190

2. Die Sprache des Geldes 191

2.1 Geld als Kommunikationsmedium 192

2.2 Funktionenvielfalt des Geldes 194

2.3 Die Sprache des Geldes verstehen 198

3. Institutionen und Personen der Finanzglobalisierung: Banken und Bankiers 200

3.1 Banken: Notwendigkeit, Funktionen und Erscheinungsformen 200

3.2 Bankiers: Die Bankhäuser Rothschild und Oppenheim als transnationale Akteure 209

4. Governance-Geschichte als Globalisierungsgeschichte: Zur Karriere internationaler Finanzinstitutionen 229

4.1 Zur zunehmenden Verflochtenheit finanzpolitischer Entscheidungsprozesse 229

4.2 Zum Bedeutungsgewinn internationaler Institutionen 230

4.3 Verselbstständigung und Autoritätszuwachs internationaler Institutionen 234

4.4 Politisierung internationaler Institutionen 235

4.5 Entstehung, Funktionieren und Probleme internationaler Finanzinstitutionen 243

Kapitel 4: Praktizierte Partnerschaft von Staat und Kirche ? Globalisierung als "mission civilisatrice et religieuse" 262

1. Einleitung: Religionen und religiöse Akteure als "Triggering Forces" 262

2. Zu einigen Besonderheiten von Religionsgemeinschaften als Governance-Kollektiven 264

2.1 Religionsgemeinschaften als globale Akteure 264

2.2 Religiöse und religiös-ethnische Governance-Kollektive als Gegenstand imperialer Politik 270

2.3 Zur "Herrschaftsdichte" religiöser Governance-Kollektive: Das Beispiel der Katholischen Kirche 276

2.4 Historische Erscheinungsformen einer innigen Verbindung der Governance-Kollektive Staat und Religion 278

3. Globalisierungsgeschichte als Geschichte religiöser Globalisierung: Das Beispiel Christentum und Islam 284

3.1 Die Ausbreitung des Christentums im Wege einer "robusten" Mission 284

3.2 Die Ausbreitung des Islam als Expansion durch Eroberung 293

4. Globalisierungsgeschichte als Geschichte von Religionskriegen 297

4.1 Von der Wiederkehr der Götter zur Wiederkehr Heiliger Kriege? 297

4.2 Zum Argumentationstopos des gerechtfertigten Krieges 301

4.3 Jenseits des Rechtfertigungsproblems: Was eigentlich sind Religionskriege, heilige Kriege und Kreuzzüge? 304

4.4 Von der normativen Perspektive des gerechten Krieges zurück zur Akteursperspektive: Die "Ritter des Herrn" als Globalisierungsakteure 320

5. Globalisierungsgeschichte als Missionsgeschichte 329

5.1 Zum Dreiklang von Kommerz, zivilisatorischer Expansion und christlicher Mission 329

5.2 Das Beispiel David Livingstones 331

5.3 Missionsgesellschaften - Ein besonders interessanter Typus von Akteuren der religiösen Globalisierung 334

5.4 Missionen als Globalisierungsakteure 339

5.5 Christliche Missionsversuche in China: Das Beispiel der Jesuiten am Kaiserhof 347

Schluss: Überlegungen zu einer Typologie verflochtener Staatlichkeit 354

1. Noch einmal zurück zum Topos verflochtener Staatlichkeit: Globalgeschichte als Verflechtungsgeschichte 354

2. Zu einer Typologie globalisierungstypischer Verflechtungsstrukturen 356

2.1 Verflechtungstyp I: Verflechtungsstrukturen zwischen Staat und Kommerz 356

2.2 Verflechtungstyp II: Verflechtungsstrukturen zwischen Staat und Religion (Religionsgemeinschaften) 362

2.3 Verflechtungstyp III: Verflechtungsstrukturen jenseits der Nationalstaatlichkeit 366

2.4 Verflechtungstyp IV: Imperiale Verflechtungsstrukturen 369

3. Globalisierungstypische Governance-Strukturen als hybride institutionelle Arrangements 372

3.1 Rechtliche Hybridisierung 374

3.2 Organisatorisch-institutionelle Hybridisierung 377

3.3 Funktionale Hybridisierung 381

Literatur 385

Abbildungen, Grafiken und Tabellen 409


Danksagung
Für vielfältige Hilfe beim Entstehen des Buches habe ich mehrfach zu danken. Meine studentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Lisa Brahms, Max Breitling, Jenny Dorn, Max Ellner, Aline Hirseland und Sonja Kaufmann haben mit großem Engagement die zum Teil mühsamen Arbeiten der Literaturbeschaffung und des Korrekturlesens bewältigt; Anna Schulze hat mich darüber hinaus bei der Durchsicht und Straffung des Textes mit sicherem Gespür für seine Schwächen beraten. Cornelia Vetter hat wie immer meine Bleistift-Vorlage in einen verlagstauglichen Text verwandelt. Ihnen allen danke ich von Herzen.
Ein herzlicher Dank gebührt auch Stephan Leibfried als Sprecher des Sonderforschungsbereiches "Staatlichkeit im Wandel", der Teile des Bu-ches hilfreich-kritisch kommentiert hat und insbesondere Dieter Wolf als für die Sfb-Schriftenreihe Verantwortlichem: Seine Anregungen haben mir sehr geholfen.
Stephan Leibfried danke ich zudem für die Unterstützung bei der Auswahl und dem Finden des Umschlagbildes. Es handelt sich um das Frontispiz einer frühen Neuauflage des Traktats Mare Liberum von Hugo Grotius (1583-1645) - zuerst 1609 anonym und ohne Frontispiz veröffentlicht. Diese Dissertation war ein ausgekoppeltes Kapitel aus dem Gutachten, das Grotius 1604/05 über das Prisenrecht (De jure praedae) für die Ostindische-Kompanie erstattet hatte. Eine Ausgabe mit Bild finden wir 1633. Die teilweise durch den jetzigen Buchtitel verdeckte Inschrift auf den Segeln lautete nun: Hugo Grotius, (De) Mari Libero. Et P. Merula de Maribus, Lugd. Batavorum: Ex officina Elzeviriana, anno 1633.
Gutachten und Buch zielten gegen die monopolistischen Handelsan-sprüche der Portugiesen in Ostasien. Der Untertitel der Dissertation lau-tete entsprechend Sive De jure, quod Batavis competit ad Indicana commercia. Abgebildet findet sich ein mit sieben Kanonen back- und steuerbords be-wehrtes Handelsschiff in Fahrt und mit Personal an Bord. Allerdings wur-den damals Handelsschiffe im Bedarfsfalle auch als Kriegsschiffe einge-setzt und manchen von ihnen kam dann funktionell die symbolische Be-deutung eines National- und Staatsschiffs zu, so in den Niederlanden dem Schiff Die Sieben Provinzen nach der Schlacht im Medway 1667 angeführt von Michiel de Ruyter. Bei dem Dreimaster - mit unsichtbarem Hecksegel, vorn mit abenteuerlichem Bugspriet mit gerefftem Vorsegel versehen und darüber unter einem dort undenkbaren Mastkorb eine Art "Ober-Reff" - dürfte es sich um ein Phantasieschiff handeln. Diese Streit-schrift für die Offenheit, die Internationalität der Meere findet 1635 ihren Widerpart im Mare Clausum des Engländers John Selden (1584-1654). Ihm zu Folge konnte See wie Land von den Nationen angeeignet werden. Das spiegelte den Interessengegensatz des Inselreiches England mit der aufstrebenden, über die Nordsee angrenzenden Händler- und Küstennation der Niederlande wieder. Der Zeichner des Frontispiz ist unbekannt (eventuell Cornelis Claeszoon). Das Bild steht für eine frühe Epoche im Streit um die Verfassung der Globalisierung, also der Wirt-schafts- und Politikbeziehungen im 17. Jahrhundert, und um die hegemo-nische Stellung mancher Nationen in dieser Ordnung. Es wurde mir - vermittelt über den Bremer Sonderforschungsbereich - von der Rare Books Division der Lilian Goldman Law Library der Yale University zur Verfügung gestellt, wofür ich zu danken habe.
Gewidmet ist das Buch Michael Zürn, von dem ich viel über Govern-ance und Globalisierung gelernt habe. Geschrieben wurde es - wie sollte es anders sein - im trentinischen Pranzo.

Gunnar Folke Schuppert
Pranzo/Trentino im Frühjahr 2014

Einleitung: Der Staat als Chamäleon
Beim Nachsinnen über den Staat an die Reptilienart des Chamäleons zu denken, ist aus mehreren Gründen naheliegend: einmal natürlich wegen der Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit des Chamäleons, das zur Tar-nung die Strategie der Mimese einsetzt, worunter man nach dem zu Rate gezogenen Fremdwörterlexikon (Wahrig 2002) die "äußere (schützende) Ähnlichkeit von Tieren in Gestalt oder Farbe mit leblosen Gegenständen der Umgebung" zu verstehen hat. Sprichwörtlich ist das Chamäleon daher zum Inbegriff von Personen geworden, die es verstehen, sich jeder Umgebung anzupassen. Dieses Anpassungskunststück ist bisher offenbar auch dem Staat gelungen, hat er sich doch durch die Jahrhunderte hindurch stets neuen Bedingungen und Zielen erstaunlich erfolgreich angepasst und ist er - wie gerade jetzt zu beobachten ist - von ungebrochener Aktivität. Dennoch - und dies ist die zweite Gemeinsamkeit mit dem Chamäleon - scheint es sich beim Staat um eine Organisationsform politischer Herrschaft zu handeln, die - glaubt man den vielen staatverabschiedenden Buchtiteln - vom Absterben bedroht ist. Zum Chamäleon lesen wir mit Interesse, dass - wie im entsprechenden Artikel des Internetlexikons Wikipedia zu lesen ist - nahezu alle 160 Chamäleonarten in ihrem natürlichen Lebensraum gefährdet sind, "weshalb sie unter das Washingtoner Artenschutz-Übereinkommen fallen und ihre Haltung somit meldepflichtig ist".
Mit diesem Buch vertreten wir einen anderen Ansatz: Für uns sind Wandel und Rollenwechsel des Staates der historische Normalfall. Unser Anliegen ist es, diese Wandlungsfähigkeit des Staates zu untersuchen, die in seiner Fähigkeit zum Ausdruck kommt, verschiedene Rollen wahrzunehmen und verschiedene Gewänder zu tragen, je nachdem, wie es die Umwelt verlangt, der es sich anzupassen gilt. Dabei wollen wir nicht über den Wandel von Staatlichkeit "an sich" schreiben und auch kein Kolossalgemälde abliefern, das Aufstieg und Fall des Staates in 17 Farbtafeln beschreibt; was wir tun wollen, ist dem anpassungsfähigen Staat bei seinem chamäleonhaften Treiben zuzusehen und zu beobachten, welche Rollen er in bestimmten Kontexten einnimmt.
Aus einer solchen Beobachtungsperspektive muss sich ein statisches Staatsbild als unzulänglich erweisen. Es kann also nicht darum gehen - wie Wolfgang Reinhard es in seiner Geschichte des modernen Staates (2007) getan hat - einen bestimmten Staatstyp - den rundum souveränen "Westphalian State" - zu fixieren, um dann zu konstatieren, dass er bereits aufgehört habe zu existieren. Stattdessen gilt es - was wir als Formulierung vorgeschlagen haben - Staat als Prozess zu begreifen (Schuppert 2010; ebenso der Sache nach Genschel/Zangl 2008): Wandel von Staatlichkeit ist dann kein Krisensymptom, sondern der Normalfall, ein Befund, der von Helmuth Schulze-Fielitz in seinem Beitrag mit dem schönen Titel "Der Leviathan auf dem Weg zum nützlichen Haustier?" wie folgt formuliert worden ist:

"Unbestreitbar befindet sich der Staat im Wandel; unbestreitbar stößt er an Gren-zen seiner Möglichkeiten. Das Modell des souveränen Staates ist einer formalen Zweck-Mittel-Rationalität verhaftet, die unter den Bedingungen heutiger Staat-lichkeit auf immanente Schranken trifft. Schon der objektive Zwang zur Staatsentlastung etwa durch Privatisierung, Deregulierung oder Delegation führt zu Prozessen, die man als (partiellen) ›Abschied vom Staat‹ interpretieren kann. Diese Entwicklung ist aber nicht einlinig, sondern sie wird ergänzt um zusätzliche, neue Aufgaben für den Staat, die ihm - ebenfalls weithin unbestritten - neu zuwachsen, neuestens etwa die Kontrolle der Gen-Technik. Alle diese Prozesse werden überformt und kompliziert durch Kompetenzverluste des Nationalstaates zugunsten der europäischen Institutionen oder von internationalen Organisationen, die das Problem der pluralistischen Vielfalt in der (über)staatlichen Einheit ganz neu stellen. Der strukturelle Funktions- und Formenwandel der Staatlichkeit wird ein dauerhafter Prozeß bleiben, der weder mit einem Absterben des Staates zu verwechseln ist noch durch Beschwörung eines starken Staates zu bewältigen ist. Der Abschied von der je historisch gewachsenen konkreten Staatlichkeit ist im Verfassungsstaat als einem Entwicklungsprozeß eine alltäglich immer wieder neu gestellte Aufgabe." (Schulze-Fielitz 1998, S. 119f.)
Diesen Wandel von Staatlichkeit kann man Metamorphosen nennen - so Phillip Genschel und Bernhard Zangl (2008) -, varieties of statehood, Rollen-pluralismus oder wie auch immer, wenn nur als gemeinsamer Nenner klar ist, dass es nicht um die Fixierung auf nur einen allein als Maßstab dienen-den Staatstyp geht.
Wenn wir aber mit der Beobachtung des wandlungsfähigen Staates er-folgreich fortfahren wollen, so müssen zwei Dinge hinzutreten, die zu-gleich eine Präzisierung unseres Projektes mit sich bringen. Wir brauchen einmal eine Arena, in welcher sich das Chamäleon Staat in seiner ganzen Wandlungsfähigkeit präsentiert, und wir brauchen zweitens eine geeignete Brille, durch welche sich die Rollenvielfalt des Staates mit der nötigen Sehschärfe beobachten lässt, also einen analytischen Rahmen.
1. Globalisierung als Beobachtungsarena
Will man den Staat in seiner Wandlungsfähigkeit beobachten, so bieten sich als Schauplatz diejenigen Prozesse und Konstellationen an, die ge-meinhin unter dem Begriff der Globalisierung zusammengefasst werden. Charakteristisch für das Phänomen der Globalisierung ist die grundlegende Veränderung der Kategorien von Raum und Zeit: Die große Leichtigkeit, mit der heutzutage Menschen, Waren und vor allem Informationen große Distanzen überwinden, ist mit dem weithin rezipierten Begriff der "space-time-compression" einzufangen versucht worden (Harvey 1990), ein Begriff, zu dem es bei Jürgen Osterhammel und Nils P. Petersson heißt:
"›Space-time compression‹, wie sie bereits mit einer radikalen Verbilligung des Te-lefonierens und der Verbreitung elektronischer Post beginnt, schafft gemeinsame Gegenwart und ein ›virtuelles‹ Miteinander und bildet damit die Voraussetzung für weltweit soziale Beziehungen, Netze und Systeme, innerhalb derer die effektive Distanz wesentlich geringer ist als die geographische. Die wichtigste Ursache dafür ist die erhöhte Geschwindigkeit von Kommunikation." (Osterhammel/Petersson 2007, S. 12)
Was die Kategorie des Raumes angeht (grundlegend Löw 2001), so scheint die Verdichtung von Zeit und Raum zu einem auf den ersten Blick widersprüchlichen Befund zu führen: Einerseits haben wir es bei den verschiedenen Typen des "Aufbaus und der Verfestigung weltweiter Verbindungen" (Osterhammel/Petersson 2007, S. 27ff.) mit dem Typus von Großreichen (Imperien) zu tun, also mit Gebilden, die - wie etwa die gewaltige Landmasse des Zarenreichs - sozusagen "Räumlichkeit pur" darstellen, andererseits mit einem Prozess der Enträumlichung politischer Herrschaft (Schuppert 2010, S. 79ff.), der allenthalben als globalisierungstypisch angesehen wird:

"Für zahlreiche soziale Beziehungen spielen Orte, Entfernungen und Grenzen keine Rolle mehr. Globalisierung wird […] nicht als die verdichtete Interaktion zwischen national verfaßten Gesellschaften verstanden, sondern als eine Tendenz zur Auflösung von Territorialität und räumlich gebundener Staatlichkeit überhaupt - das geographische Pendant zur These vom Funktionsverlust des Staates zugunsten sich selbst regulierender Marktkräfte." (Osterhammel/Petersson 2007, S. 12f.)
Unserer Auffassung nach ist der Doppelbefund von imperialer Räumlich-keit auf der einen und Entterritorialisierung von politischer und religiöser Herrschaft auf der anderen Seite nicht als Widerspruch zu begreifen; beide Erscheinungsformen von Interaktionsräumen - Imperien wie Netzwerke - sind von Anfang an in den verschiedenen Varianten von Globalisierung angelegt.
Je geringer der Grad der Verdichtung von Raum und Zeit ist, den man zur Bestimmung des Phänomens Globalisierung zugrunde legt, desto früher in der Geschichte wird man ihren Beginn datieren. Ina Kerner hat in ihrem Überblicksbeitrag "Globalisierung" die in der Literatur gehandelten Periodisierungsvorschläge für uns wie folgt zusammengefasst:

"Verbreitet ist die These, die Globalisierung habe in den letzten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts eingesetzt, vorbereitet durch die Liberalisierung der Weltwirtschaft, angeschoben von sinkenden Transportkosten und neuen Kommunikationsmöglichkeiten durch Satellitentechnologie und Internet, dynamisiert schließlich durch das Ende der Blockkonfrontation […]. Allerdings gibt es auch Einwände gegen diese Terminierung. Der Weltsystemtheoretiker Immanuel Wallerstein beispielsweise betont, dass der Kapitalismus von Anbeginn transkontinental organisiert war; von einer globalisierten Marktwirtschaft könne man daher schon im Blick auf das 16. Jahrhundert sprechen. Eine deutliche Zunahme des internationalen Handels durch innovative Kommunikationstechnologien war auch schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach der Verlegung des transatlantischen Telegrafenkabels feststellbar […]. Historiker schließlich belegen bereits für das 8. Jahrhundert (Islamisierung des Mittelmeerraums), das 13. (Mongolenherrschaft in Eurasien), sowie für das mittlere 18. Jahrhundert (Staatsbildungen und vorindustrieller Kolonialismus) nennenswerte Schübe großräumiger Integration." (Kerner 2004, S. 191)
Der Beobachtungszeitraum für den Rollenwandel von Staatlichkeit in der Globalisierung ist daher nicht auf die jüngere Geschichte und Gegenwart beschränkt, sondern erstreckt sich wesentlich weiter zurück. Wie der Leser bemerken wird, sind wir in der Tat, was unser Thema anbelangt, auch in längst vergangenen Epochen fündig geworden: So geht es im ersten Kapitel um eine besondere Spezies von Globalisierungspionieren des vorindustriellen Kolonialismus, die von uns sogenannten Staatlichkeitsunternehmer, also die Chartered Companies und die Kolonialunternehmer des 17. Jahrhunderts, sowie als jetztzeitige Variante die Transnational Corporations (TNCs), Global Player par excellence. Die im zweiten Kapitel behandelten Governance-Strukturen der Imperien und Netzwerke entziehen sich gänzlich einer epochenmäßigen Zuordnung: Was die Imperien angeht, so lässt die einschlägige Literatur ihre Karriere mit der Perserherrschaft und dem Alexanderreich beginnen und - vorläufig - mit dem Niedergang der Super-Weltmacht USA enden; netzwerkartige Strukturen politischer und religiöser Herrschaft finden sich bereits in der Ausbreitung des Islam, kennzeichnen die Herrschaftsarchitektur des Mittelalters und gelten vielen als "institutional backbones" einer neuen Weltordnung. Auch eine als Kommunikati-onsgeschichte zu schreibende Geschichte der Globalisierung, die Gegen-stand des zweiten Bandes sein wird, hätte sich - epochenübergreifend - mit den durch innovative Kommunikationstechnologien ausgelösten Glo-balisierungsschüben zu beschäftigen, beginnend mit der Erfindung des Buchdrucks bis zum Beginn der digitalen Kommunikation, die die Welt durch eine kontinuierliche Schrumpfung von Zeit und Raum zu einem "global village" hat werden lassen. Und besonders weit zurück erstreckt sich die noch nicht abgeschlossene Globalisierung des Religiösen, von welcher im vierten und letzten Kapitel dieses Bandes die Rede sein wird.
Für die Globalisierung als Beobachtungsarena spricht, dass die Globalisierungsperspektive - und dies hat sie mit der Governance-Perspektive (siehe unten) gemein - keine staatszentrierte Perspektive ist. Denn wenn es - so Osterhammel und Petersson (2007) - ein allgemeines Einverständnis unter den Globalisierungsautoren gibt, "dann liegt es in der Annahme, Globalisierung stelle die Bedeutung des Nationalstaates infrage und verschiebe das Machtverhältnis zwischen Staaten und Märkten zugunsten Letzterer" (Osterhammel/Petersson 2007, S. 11). Aber nicht nur die Märkte rücken mehr ins Blickfeld, sondern die ganze Pluralität der Globalisierungsakteure, zu denen sich der Akteur "Staat" ins Verhältnis setzen muss. Dabei beweist er einen beeindruckenden Erfindungsreichtum. So können wir beobachten, wie das Chamäleon Staat je nach Art der zu meisternden Herausforderungen als verhandelnder, delegierender oder mit nicht-staatlichen Akteuren sich symbiotisch verbindender Staat auftritt. Rollen und Gewänder des Staates erweisen sich bei unseren Entdeckungsreisen durch die bunte Welt der Globalisierung als äußerst vielfältig: So mandatiert der Staat etwa - wovon das erste Kapitel handelt - Handelskompanien mit Hoheitsbefug-nissen, sei es im Wege einer Beleihung - "Chartered Companies" -, sei es durch Verträge mit Kolonialunternehmen; im vierten Kapitel werden wir - um noch ein weiteres Beispiel zu nennen - Zeugen einer nahezu perfekten Arbeitsteilung von Staat und Religionsgemeinschaften im Prozess der kulturellen Globalisierung durch "transfer and diffusion". Von dieser und anderen Arten der Arbeitsteilung wird noch einmal ausführlicher im Schlusskapitel über "verflochtene Staatlichkeit" die Rede sein; an dieser Stelle sei aber auf eine Querverbindung von der Globalisierungsdiskussion zur nicht enden wollenden Diskussion über Staatsbilder hingewiesen, die sich zum Teil ausführlich mit dem eben nicht nur anordnenden, sondern sich in verschiedene institutionelle Arrangements einordnenden Staat beschäftigen, Arrangements, in dem ihm andere Akteure auf Augenhöhe begegnen. Dies gilt etwa für das empiriegesättigte Staatsbild des kooperativen Staates wie für das Leitbild des Gewährleistungsstaates, in dem Arbeitsteilung als Verantwortungsteilung ausbuchstabiert wird.


Gunnar Folke Schuppert lehrte als Professor Staats- und Verwaltungswissenschaft an den Universitäten Hamburg, Augsburg und Berlin (HU). 2003 bis 2011 war er Inhaber der Forschungsprofessur für 'Neue Formen von Governance' am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).



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