Schwab | Texturen einer Stadt | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 16, 390 Seiten

Reihe: Interdisziplinäre Stadtforschung

Schwab Texturen einer Stadt

Kulturwissenschaftliche Lektüren von Sevilla
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-593-42107-0
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark

Kulturwissenschaftliche Lektüren von Sevilla

E-Book, Deutsch, Band 16, 390 Seiten

Reihe: Interdisziplinäre Stadtforschung

ISBN: 978-3-593-42107-0
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark



Eine Stadt ist wie ein offenes Buch. Als eine zeichenhafte Textur mit eingeschriebenen kulturellen Mustern prägt sie die Lebensformen ihrer Bewohnerinnen und Bewohner und legt bestimmte Arten des Umgangs mit Herausforderungen wie Gentrifizierung oder demografischem Wandel nahe. Auf den Spuren der Mythen Sevillas führt Christiane Schwab durch diese im äußersten Südwesten Europas gelegene Stadt. Die Autorin verknüpft historische Figuren und Ereignisse, ikonische Bauten, urbane Vorstellungswelten und Formen des Freizeit- und Arbeitslebens zu einer facettenreichen Interpretation Sevillas.
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Inhalt

1 Einleitung
Lokale Mythen und Befindlichkeiten Wege zu einer Anthropologie der Stadt Pfade durch die Stadtlandschaft: Denkfiguren und ihre Kritik Angerissen: Die Feria und die Semana Santa als zentrale Relevanzbereiche Von Quellen, Texten und den Fremden: Methodologische Erwägungen

2 Sevilla als Gedächtnislandschaft
2.1 Strukturmomente des Stadtgedächtnisses
Ordnungsmomente und Verstrickungen das Beispiel Mañara Räume des Gedächtnisses Hegemonie, Pluralität und Ideologie Kanon und Identität Riskante Erinnerrungen
2.2 Neu aufgelegt: Sevilla und Amerika
Sevilla, Hauptstadt Amerikas Das amerikanische Sevilla im Gedächtnis
2.3 Das Verharren der Vergangenheit
Motoren des Stadtgedächtnisses: Die Bruderschaften und die Semana Santa Ein Generationenort

3 Sevilla als Identitätsraum
3.1 Symbolische Raumordnungen
Expansion und Segmentierung im 20. Jahrhundert
3.2 Sozialräumliche Verdichtungen
Stoffliche Intensitäten und Atmosphären Funktionale und soziale Dichte Sevilla als soziales Feld Schlüsselorte: Die Bars Reproduktionen des sozialen Feldes
3.3 Verdichtungen des Wissens und lokale Symboliken der Identifikation
Kulturelle Themen der Stadt Kristallisationen lokaler Wissensbestände: Die Semana Santa und die Bruderschaften Lokales Wissen als Identitätswissen Symbiosen: Familien, Bruderschaften und räumliche Ordnungen
3.4 Vom Ort zum Nichtort?

4 Soziale Ordnungen und Muster des Bewahrens
4.1 Feria: Landschaften des Sozialen
4.2 Sozioökonomische Entwicklungen
Das Land, Formen des Wirtschaftens und agrarischer Absentismus Sevilla, eine Landstadt Gegenwärtige Entwicklungen Neue Funktionen und alte Regeln
4.3 Geschmack ohne Klasse? Der señorito als soziales Leitbild
Machtvolle Kontinuitäten Blut, Namen und Strategien der Distinktion Neue Formen der Abgrenzung Die Rolle der Bruderschaften
4.4 Konservatismus als Leitwert
Feste Positionen: Von Olavide bis Monteseirín Kosmopolitinnen und Exilanten Lokalismus und politische Passivität Die Ästhetisierung der Armut als lokale Kategorie Kontinuitäten des casticismo Anthropologinnen und Denkmalschützer Sevillanische und nichtsevillanische Armut
4.5 Externe Relationen und widerstreitende Werteordnungen

5 Die Mythen von Sevilla
5.1 Mythomanie
Emotionale Kräfte Stolze Identifikationen und spirituelle Isolierung Der befremdende Blick Intermedialität
5.2 Zu einer Mythographie der Stadt
Romantische Entdeckungen Auf der Suche nach einer sevillanischen Renaissance 1936-1975: Sevillanisch-andalusische Motive als national-konservativer Kitt Kulturelle Ökonomien und Prozesse der Relokalisierung: Die Post-Franco-Mythomanie
5.3 Auf der Suche nach Authentizität: Die Puristinnen und Puristen
Der fremde Blick und der Folklorismus in den eigenen Reihen Der Club der Puristinnen und Puristen Motive des "Authentischen"

6 Sevilla ? ein Generationenort in Bewegung

Interviews

Glossar

Literatur


1 Einleitung
Sevilla ist eine Stadt, aber auch ein Mythos, und dies ist Sevilla vor allem für seine Bewohnerinnen und Bewohner selbst. Ihren mythenhaften Gehalt verdankt die Stadt ihrer einstigen Größe als Ausgangspunkt der Entdeckung und Kolonisierung Amerikas, ihrer Funktion als exotisches Reiseziel in der europäischen Romantik und nicht zuletzt ihrem Status als Hauptstadt Andalusiens und als internationale Tourismusdestination. Diese und weitere Eigenschaften haben nicht nur die politischen, sozialen, räumlichen, demographischen und wirtschaftlichen Entwicklungen der Stadt geprägt, sondern auch die Prozesse der Fremd- und Selbstbebilderung, die den Mythos Sevilla und eine Stadtlandschaft geformt haben, in welcher materiale und soziale Bedingungen mit ihren symbolischen Repräsentationen eine einzigartige Synthese bilden.
Sevilla ist eine südeuropäische Stadt. Während auf ihren Straßen und Plätzen das Leben tobt, ruhen in den tieferen Schichten Ruinen aus weit entrückten Zeiten. Der Südwesten Spaniens ist eine der Regionen mit dem ältesten Städtesystem Europas, und dementsprechend vielfältig gestalten sich die historischen Funktionen, die Sevilla innerhalb dieses Systems ausgefüllt hat und die in seinen Sedimentierungen ihre Spuren hinterlassen haben. Der Legende nach durch den sagenumwobenen Herkules gegründet, war Sevilla bereits in der Antike unter den Phöniziern und als römische Kolonie ein regionales Landwirtschaftszentrum und eine der bedeutendsten Hafen- und Handelsstädte des westlichen Mittelmeerraumes (vgl. dazu Mayet/Sillières 1992). Diese Funktion verdankt sich der geschützten und verkehrsgünstigen Lage der Stadt etwa 100 Kilometer von der Atlantikküste entfernt, mit der sie der Fluss Guadalquivir verbindet. Seine Bedeutung als Handelsstadt büßte Sevilla auch nicht in seiner maurischen Zeit ein. 1248 wurde die Stadt durch das Königreich Kastilien erobert, bis sie im 16. Jahrhundert auf dem Höhepunkt ihrer Biographie angelangt war. Als Sevilla das Monopol auf den Handel mit den amerikanischen Kolonien zugesprochen bekam, wurde es zum Mekka für Händler, Bankiers, Missionare und Abenteurer und eine der größten und prächtigsten Metropolen Europas. Die Literaten, Maler und Bildhauer, die Sevilla in seiner Glanzzeit anlockte, machten es im 17. Jahrhundert zu einem Zentrum des Kunstschaffens und hinterließen eine barocke Ästhetik, die bis heute den stilistischen Ton in der Stadt angibt. Die künstlerische Blütezeit allerdings ging mit dem Niedergang Sevillas einher, das seine überragende Stellung nie wieder zurückgewinnen sollte. Wirtschaftliche Krisen, Seuchen und schließlich der Verlust des Handelsmonopols im Jahr 1717 verursachten eine lange Phase des ökonomischen und sozialen Stillstandes, der sich auch auf städtebaulicher Ebene auswirkte. Erst im 20. Jahrhundert wuchs das agrarisch geprägte Sevilla signifikant über seinen maurisch-mittelalterlichen Ummauerungsring hinaus, und zwei Großereignisse brachten neue Impulse für die Stadtentwicklung: die Iberoamerikanische Ausstellung von 1929 und die Expo im Jahr 1992.
Auch wenn Sevilla in diesen Momenten etwas von seinem alten Glanz zurückgewinnen konnte, hatte sich die Bedeutung der Stadt auf ihre kulturellen und handelsbezogenen Funktionen im Hinblick auf den Südwesten Spaniens reduziert. Diese Position konnte Sevilla nach seiner Ernennung zur Hauptstadt der autonomen Region Andalusien im Jahr 1981 politisch und ideologisch ausbauen. Die regionale Zentralität, die Sevilla mit Ausnahme des amerikanischen Abenteuers über viele Jahrhunderte innehatte, bedingte auch eine enge Verknüpfung zwischen "sevillanischen" und "(west-)andalusisch" genannten Merkmalen, und in vielerlei Hinsicht zeigt sich Sevilla als eine spezifische Verdichtung von Strukturmerkmalen, welche den gesamten Südwesten des Landes auszeichnen (vgl. Kapitel 4.2).
Nach einer langen Zeit der regionalen Isolation wurden für die Entwicklung Sevillas mit der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Öffnung Spaniens nach 1975 auch wieder nationale und internationale Makrokontexte relevant, in deren Rahmen die Stadt mit neuen kulturellen Einflüssen konfrontiert wurde und die interstädtischen Relationen sich zunehmend wettbewerbs- und kapitalorientiert gestalteten. Angesichts des rasanten Wandels nicht nur der Stadt, sondern auch der lebensweltlichen Bezugssysteme ihrer Bevölkerung drängt sich die Frage auf, inwieweit sich die bewegte Biographie Sevillas und seine sedimentierten kulturellen Orientierungen unter diesen neuen Ordnungen bemerkbar machen. Wie erleben die Stadt und ihre rund 705.000 Bewohnerinnen und Bewohner die gewandelten Verflechtungen, und wie gestalten sich die lokalen Muster angesichts spätmoderner Transformationen? Dass Städte entsprechend ihren kulturellen Dispositionen, die sie im Verlauf ihrer Geschichte und ihrer Interdependenzbeziehungen zu den signifikanten anderen Städten ausgebildet haben, auf veränderte Bedingungen reagieren, ist nicht nur eine Beobachtung der sozial- und kulturwissenschaftlichen Stadtforschung (vgl. Abu-Lughod 1999; Lindner/Moser 2006; Berking/Löw 2008; Zimmermann 2008), sondern entspricht auch den Grundthesen der ethnologischen Globalisierungsforschung (vgl. etwa Hannerz 1987; Inda/Rosaldo 2002). Wie sich nun die spezifischen wirtschaftlichen, räumlichen, sozialen und mentalen Muster Sevillas und ihre Symbolisierungen im Detail gestalten und die Entwicklung der Stadt sowie das Leben in ihr bestimmen, ist das Thema dieses Buchs.

Lokale Mythen und Befindlichkeiten
Mit größter Selbstverständlichkeit sprechen wir von der "bezaubernden Atmosphäre", die bestimmte Städte haben, von ihrem pulsierenden Leben oder der Langeweile, die sie ausstrahlen, von ihrem abweisenden Antlitz oder ihrer einnehmenden Eleganz. Inwieweit können wir aber - von solchen intuitiven Wahrnehmungen abgesehen - von "Mustern" oder "kulturellen Orientierungen" einer Stadt ausgehen, und in welcher Beziehung stehen diese zu den jeweiligen Symbolisierungen und Mythen, die über sie erzählt werden? Durch gemeinsame Seinserfahrungen in einer Stadt teilen wir bestimmte Dinge des alltäglichen Lebens und ein besonderes Wissen, das die Stadt in sich aufbewahrt. Dies gilt nicht für alle Bewohnerinnen und Bewohner in gleichem Maße, denn einerseits finden wir überall Ex-pertinnen und Experten, die ihre Freizeit oder auch ihr Lebenswerk einer Stadt widmen, und auf der anderen Seite gibt es vor allem in international stark vernetzten Städten immer auch Bevölkerungsgruppen, die ihr Leben überwiegend in translokalen Bezügen verorten. In der Regel aber leben die Bewohnerinnen und Bewohner einer Stadt als eine imaginierte Gemein-schaft innerhalb spezifischer lokaler Sinnstrukturen, die über symbolische Objektivationen geteilt und zugänglich werden (vgl. Blumer 1973: 81). Angesichts dieses geteilten Alltagshorizonts kann eine Stadt also als eine Art "Diskursgemeinschaft" mit einer spezifischen Topik begriffen werden, die die "habituell geteilten, sozial reproduzierten und historisch tradierten thematischen Relevanzen [umfasst], die ihre Wirklichkeitskonstruktionen steuern und die Gewichtungen für ihre Handlungen festlegen" (Knoblauch 2011: 241). Das in der Topik einer Stadt und in ihren physischen Strukturen abgelagerte Wissen bildet das, was wir mit Martina Löw und Helmuth Berking auch die Doxa oder die "präreflexive[n] Prozesse der Sinnkonstitution" (Löw 2008a: 42; vgl. a. Berking 2008) einer Stadt nennen können. Diese unreflektierten Konventionen kristallisieren sich in den lokalen kulturellen Objektivationen, wie Festen und Ritualen, Architekturen, Dialektformen und Nahrungsgewohnheiten, in städtischen Freizeitaktivitäten, Infrastrukturen, Formen der Raumaneignung und vielem mehr. In der Regel werden sie dann reflexiv und zu lokalen Orthodoxien transformiert, wenn sie im Rahmen historischer Wandlungsprozesse oder veränderter interstädtischer Bezugssysteme in Frage gestellt und konturiert werden (vgl. Meuser/Sackmann 1992: 20). Dann, wenn Traditionen und geteilte Gewissheiten bewusst werden, entstehen wirkmächtige Bilder oder Mythen, die eine städtische Identität fixieren. Die Kulturanthropologen Thomas Blom Hansen und Oskar Verkaaik, die sich dem "Charisma" von Städten anzunähern versuchten, haben diesbezüglich zwischen dem Charisma in einer Stadt, das spezielle Wissensformen oder Netzwerke umfasst, und dem Charisma von einer Stadt, also ihren offiziellen Feiern, Mythen und Symbolen, unterschieden (Blom Hansen/Verkaaik 2009: 9).
Es liegt auf der Hand, dass beide Formen des Wissens interagieren, dass sie sich aber hinsichtlich des Grads ihres Bewusstseins unterscheiden. Das Charisma von einer Stadt ermöglicht angesichts seiner medialen Kapazitäten eine effiziente Perpetuierung lokaler Gewissheiten, insofern es diese expliziert und in Symbolen emotional und kognitiv für die Bewohnerinnen und Bewohner einer Stadt zugänglich macht. Dies gilt auch für die kultur-analytische Annäherung an Städte, die auf derlei geronnene Orthodoxien angewiesen ist, um von ihnen ausgehend das Geflecht des unbebilderten Doxischen, Transzendentalen zu ergründen. Wenn wir also über Städte sprechen, über ihre Geschichte, ihren Charakter, ihre Atmosphäre oder ihre Dispositionen, dann haben wir es immer mit beidem zu tun. Die Dif-ferenzierung zwischen unreflektierten Mustern und ihren orthodoxen Bebilderungen ist in diesem Zusammenhang genauso irreführend wie der Hinweis auf die Konstruktivität von lokalen Mythen, denn es handelt sich dabei nicht um qualitative Unterschiede, sondern allein um graduelle Abstufungen. Die stilisierten Repräsentationen einer Stadt werden stets unter spezifischen soziokulturellen Umständen entworfen und verfügen wie konstruierte Identitäten über eine "eigene Schwerkraft in der realen Welt" (Emcke 2010: 229), indem sie den kognitiv-emotionalen Filter bilden, durch den die Stadt erfahren und "gemacht" wird.


Christiane Schwab, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin und am Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie Humboldt-Postdoc-Fellow der Humboldt-Universität zu Berlin.



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