E-Book, Deutsch, 227 Seiten
Reihe: Dialoge
Schwarz-Friesel Toxische Sprache und geistige Gewalt
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-89308-018-2
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie judenfeindliche Denk- und Gefühlsmuster seit Jahrhunderten unsere Kommunikation prägen
E-Book, Deutsch, 227 Seiten
Reihe: Dialoge
ISBN: 978-3-89308-018-2
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jüdinnen und Juden sind nicht nur mit physischer, sondern auch mit geistiger Gewalt konfrontiert: Diese äußert sich durch explizite Hassrede ebenso wie durch harmlos anmutende Muster der Alltagssprache. Judenfeindschaft und Sprache stehen seit zweitausend Jahren in einer untrennbaren Symbiose. Das Gift judenfeindlichen Denkens und Fühlens ist Teil unserer Kultur, und antisemitische Sprachgebrauchsmuster sind tief in unser kommunikatives Gedächtnis eingeschrieben. Auf diese Weise sorgen sprachliche Antisemitismen dafür, dass judenfeindliche Stereotype von Generation zu Generation weitergegeben werden. Der Band macht diesen Zusammenhang anhand authentischer Beispiele anschaulich und verständlich. Er deckt die toxischen Sprachstrukturen mit ihrer Wirkung auf das kollektive Bewusstsein auf und weist auf die dringende Notwendigkeit eines sensiblen und geschichtsbewussten Sprachgebrauchs hin.
Monika Schwarz-Friesel ist eine international führende Expertin auf dem Gebiet Antisemitismus und Sprache. Seit 2010 hat sie den Lehrstuhl für Linguistik am Institut für Sprache und Kommunikation der TU Berlin inne. Zu ihren Buchpublikationen gehören mehrere Standardwerke, u.a. Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert (mit Jehuda Reinharz, 2013, engl. Ausgabe 2017), Sprache und Emotion, Semantik (6. Auflage) und Judenhass im Internet. Sie ist Kuratoriumsvorsitzende der Leo-Trepp-Stiftung und Mitglied der Simon-Wiesenthal-Preis-Jury sowie des wissenschaftlichen Beirats der Antisemitism Studies (USA) und des Journal of Contemporary Antisemitism (UK).
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
2 Sprache als Weltenerschafferin und Menschenzerstörerin
Warum es ohne das verbale Symbolsystem kein Gerücht über die Juden geben würde
„Der Glaube, es gebe nur eine Wirklichkeit, ist die gefährlichste Selbsttäuschung.“ (Paul Watzlawick) Um das langlebige und im Wesentlichen gleichbleibende Phänomen des Judenhasses verstehen zu können, müssen zwei besondere Funktionen der Sprache beachtet werden: Zum einen ihre Rolle als kognitive Weltenerschafferin, also die Möglichkeit, mittels verbaler Symbole eigenständige Realitäten entstehen zu lassen. Zum anderen ihre soziale Rolle als Kommunikations- und Machtinstrument, in der zwischenmenschlichen Interaktion weitreichenden Einfluss auf Gedanken und Gefühle nehmen zu können. In Konsequenz kann die geistige Gewaltanwendung auch die physische Existenz von Menschen tangieren – in diesem Sinne wirkt Sprache also als Menschenzerstörerin. Wir Menschen sind Menschen, weil wir denken und fühlen, weil wir ein Bewusstsein haben, weil wir über Sprache verfügen. Sprache ermöglicht, über das Hier und Jetzt hinaus zu reflektieren, gibt Kategorien, mit denen wir sonst nicht Fassbares denkbar machen. Wie kommen abstrakte Einheiten und Sachverhalte in die Welt? Indem sie mittels Symbolen greifbar und an andere vermittelbar werden. Konzepte wie Güte, Gemeinschaft, Demokratie wären ohne sprachliche Zeichen nicht denkbar. Die realitäts- und weltenkonstituierende Rolle der Sprache wird treffend in dem berühmten Zitat des wichtigsten Sprachphilosophen im 20. Jahrhundert, Ludwig Wittgenstein, zusammengefasst: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ Man muss keinen Sprachdeterminismus oder eine sprachliche Relativitätstheorie vertreten, der zufolge unsere gesamte Wahrnehmung von der jeweiligen Sprache bestimmt wird, um zu dieser Ansicht zu gelangen. Menschen sind zwar im Denken keine Sklaven ihrer Sprache und können durch Umschreibungen sowie kritische Reflexionen ihren Sprachgebrauch erweitern, umgestalten und überdenken, doch die bewertende Perspektive auf die Welt ist immer sprachlich geprägt. Diese den Geist lenkende Rolle der Sprache sah auch der Philosoph Bacon vor über 400 Jahren sehr deutlich: „Die Menschen glauben nämlich, ihre Vernunft führe die Herrschaft über die Worte; allein nicht selten beherrschen gegentheils die Worte den Sinn …“ (Francis Bacon 1620). Dann denkt es, dann spricht es geradezu im Bewusstsein von Menschen. Ein feindseliger Sprachgebrauch setzt feindselige Gedanken und Gefühle frei, verführt das Denken zu gewalttätigen Überlegungen. Da die Sprache durch ihre grammatischen und lexikalischen Kategorien vorgibt, was wir bewusst denken können, setzt sie tatsächlich das formale Gerüst für unseren Geist. Sie trägt und prägt nicht nur alle komplexen mentalen Prozesse, sondern begrenzt oder erweitert die Möglichkeiten des bewussten und reflektierenden Verstandes. Und im Bereich der nicht sinnlich und konkret erfahrbaren Dinge und Sachverhalte sind wir auf die Kategorien und Strukturen des Kenntnissystems der Sprache angewiesen: Den Inhalt des Satzes „Ohne die Sprache gäbe es keinen Judenhass“ könnten wir ohne die Symbolkraft und das formale System der Sprache weder denken noch anderen mittteilen. Warum? Weil erst das Symbolsystem Sprache die judenfeindlichen Konzepte und Gefühle formulier- und übertragbar macht. Und weil wir keine Gedankenübertragung bei der menschlichen Informationsvermittlung benutzen, sondern wahrnehmbare Einheiten. Um etwas für andere auszudrücken, bedarf es immer eines spezifischen Modus operandi, der geistige Inhalte durch Formen ausdrückt. Der spezifische Satzinhalt konstituiert sich aus der Verbindung der abstrakten Kategorienkonzepte ‚die Sprache‘ und ‚Judenhass‘ mittels der grammatischen Elemente und Verknüpfungen. Konditionalität (gäbe) und Negation (ohne, keine) sind sprachabhängige Kategorien. Es gibt in der außersprachlichen Realität nichts Äquivalentes. Sie stellen geistige Beziehungen zwischen Sachverhalten dar, die sonst gar nicht in dieser Verbindung existieren würden. Die Negation ist prinzipiell ein Konzept, dass wir uns nicht vorstellen, sondern nur abstrakt denken können. Kein Bild, keine Skulptur, keine Musik, hätte je die Komplexität, Abstraktheit und zugleich die informationelle Eindeutigkeit, einen solchen Satzinhalt darstellen und übermitteln zu können. Dass Sprache nicht nur Realität abbildet, sondern auch Realitäten erschafft, wussten schon die antiken Philosophen. Und die von Platon skizzierte Hypothese, dass wir „die Welt“ (oder „das Ding an sich“, wie Kant es Jahrhunderte später formulierte) nie direkt, sondern stets vermittelt über Ideen wahrnehmen, sieht sich heute durch die moderne Gehirnforschung empirisch bestätigt. Der Neurowissenschaftler Stephen Macknik brachte es in einem Interview auf den Punkt: „Doch, es gibt die Welt da draußen. Aber Sie sind nie dort gewesen, nicht mal zu Besuch. Der einzige Ort, an dem Sie je waren, ist in Ihrem Kopf.“ Die Dinge, die wir sehen, hören und als unabhängige Tatsachen bewerten, sind Konstrukte unserer neuronalen Aktivitäten. Es ist das menschliche Gehirn, das durch die ausgetüftelte Koordination von chemischen und elektrophysischen Prozessen bei gleichzeitiger Aktivierung verschiedener Areale in Cortex (den Bereichen, die vor allem die kognitive Verarbeitung bewältigen) und limbischem System (die Gehirnstrukturen, die für emotionale Aktivierung verantwortlich sind), letztendlich „die Welt“ für uns konstruiert. In den letzten Jahrzehnten wurde diese Erkenntnis in umfangreichen neuro- und kognitionswissenschaftlichen Studien belegt und gilt heute weitgehend unumstritten. Auch Sprachgebilde formen eigene Welten, geistige Welten, die jedoch von denjenigen, die an sie glauben, für wahr gehalten werden. Antisemiten glauben an das, was sie denken, fühlen und sagen. Judenfeindschaft kann man nicht ohne die Macht der Sprachgewalt erklären und bekämpfen. Sie wird jedoch oft als Nebenrolle gesehen, obgleich sie der Kern des Phänomens ist. Mit der Verschriftlichung der urchristlichen Ideen und seiner Rhetorik schuf die Sprache die neue Religion des Christentums und legte zugleich mit ihrer anti-judaistischen Verdammnis das Fundament für die Zerstörung einer gleichberechtigten und würdevollen Existenz des Judentums. Das „Gerücht über die Juden“, wie Adorno das Phänomen des Antisemitismus nannte, hielt so Einzug in der Welt und wurde von Generation zu Generation weitergetragen, angereichert, wurde fantastischer und virulenter, verfestigte sich, hatte weitreichende physische, soziale und politische Auswirkungen. Dass die Einheiten dieses Gerüchts lediglich geistige Stellvertreter und Konstrukte einer völlig subjektiven Erlebniswelt waren, wurde am Ende nicht mehr reflektiert. Sie wurden zur antisemitischen Realität. Wir Menschen leben allgemein in und agieren mit verschiedenen Welten: Dabei ist aus kognitionswissenschaftlicher Sicht ein Drei-Ebenen-Modell besonders plausibel. Die reale Welt der Sinne, der konkreten Perzeption, die für uns rechtsverbindlich ist, deren physische Objekte, Personen und Sachverhalte wir mit Kriterien wie Existenz, Wahrheit, Objektivität und Faktizität messen und beurteilen. In Karl Poppers Weltmodell entspräche diese Realität der Welt 1. Wir erleben uns und andere aber auch in einer subjektiven Erlebenswelt, ähnlich Poppers Welt 2, in der jeder Mensch individuell Geschehnisse verarbeitet und je nach persönlicher Weltsicht und Einstellung geistig als mentale Modelle speichert. Diese Welt entspricht zum Teil dem episodischen Gedächtnis, so genannt, weil es subjektive Erlebnisepisoden eines Individuums sind, die repräsentiert werden; zu diesen kommen aber auch ausgedachte Wunsch-, Fantasie- und Glaubensinhalte. Schließlich werden wir maßgeblich von den abstrakten Konstrukten des Denkens beeinflusst. Dieses abstrakte Kenntnissystem, maßgeblich vom enzyklopädischen Gedächtnis mit seinen abstrakten Kenntniskategorien geprägt, enthält Theorien, Mythen, Fiktionen und entspricht zum Teil der Welt 3 in Poppers Ontologie. Demgemäß sieht der Semiotiker Umberto Eco Zeichen als grundlegende Bausteine der Kultur an. Hier spielt auch eine Rolle, was wir kollektives Bewusstsein, als die gemeinsame und geteilte Summe an Ideen einer Gesellschaft, nennen und kulturelles Gedächtnis, wie Maurice Halbwachs das gemeinsame Wissen, auf das Menschengruppen zugreifen, nannte. Sprache und Kommunikation sind Teile der Kultur und angesichts der Relevanz unserer Schriftkultur ist aus gedächtnispsychologischer Sicht eine Trennung von mündlichen und schriftlichen Ereignissen wenig plausibel. Vielmehr werden diese in Netzen gemeinsam abgespeichert. Das kommunikative Gedächtnis beinhaltet also mündlich und schriftlich tradierte Sprachgebrauchsmuster sowie bekannte und oft reproduzierte Zitate, Floskeln, Sprichwörter, Phrasen und Ausdrücke, repräsentiert enzyklopädische wie auch episodische Gedächtnisinformationen. Sprache ist dabei nicht nur wichtigster Träger kulturell-kognitiver Kategorisierungen, sondern auch ein Erzeuger von ihnen. Mittels der Kommunikation treten Menschen aus der Ich-Existenz in eine Wir-Existenzform. „Der Mensch ist nur Mensch durch...