Schwarzenbach / Perret Bei diesem Regen
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-85787-543-4
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Erzählungen
E-Book, Deutsch, 239 Seiten
Reihe: Lenos Voyage
ISBN: 978-3-85787-543-4
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
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Das gelobte Land
Endlich wurde Billy wach. Sie sah einen Jungen in blauer Stewardjacke unter der Tür ihrer Kabine stehen, und sie erinnerte sich, dass sie »herein« gesagt hatte. Nun stand er da und trug eine Platte mit einem Osterkuchen und bunten Ostereiern in der Hand. »Der Kommissar schickt Ihnen dies«, sagte er, »und wünscht Ihnen fröhliche Ostern.« »Danke«, sagte Billy. Er stellte die Platte auf den Stuhl neben ihrem Bett und ging hinaus. Billy rief ihn noch einmal zurück. »Sag, dass man mir Kaffee bringen soll«, sagte sie. Der Kuchen sah frisch und verlockend aus, und sie hatte Lust, davon zu essen. Es war schon spät, sie hatte sehr lange geschlafen. Während sie ihren Kaffee trank und von dem Kuchen ass, erinnerte sie sich langsam an das, was vor ihrem Schlaf gewesen war. Sie erinnerte sich, dass sie die Kuchen aus frischem, weissem Teig in der Schiffsbäckerei gesehen hatte und dass der Kommissar versprochen hatte, ihr einen Matrosen-Osterkuchen zu schicken. Er hatte sie durch den Maschinenraum geführt, der wie ein riesiges Kulissenhaus aussah, und sie war, schwindlig vor Hitze, auf einer Leiter in den unendlich tiefen Schiffsbauch hinuntergestiegen, bis das Dröhnen der Kolben und die Hitze über ihr zusammenschlugen. Sie war zwischen zwei Kesseln auf öligen Metallplatten gegangen, ohne die glühenden Wände der Kessel zu berühren. Sie war auf die Kommandobrücke gekommen, er hatte ihr die blitzenden Instrumente erklärt, und sie hatte die breite, milchige, vom Mond beschienene und geglättete Wasserstrasse vor ihnen gesehen, durch die der Schiffskiel rauschend schnitt und weiche Wellenkämme zu beiden Seiten aufwarf. Während des Nachtessens hatte ihr Nachbar gesagt, dass er am nächsten Morgen früh aufstehen werde, um seiner kleinen Tochter Jaffa zu zeigen. Er hiess Dr. Levy und war in Freiburg Professor der Chemie gewesen. Er kannte Palästina ganz gut, aber jetzt brachte er seine Tochter hinüber, und sie würden dort bleiben. Sie würde nicht in Deutschland aufwachsen, sondern in Palästina, und was die Nazis ihrem Vater getan hatten, würde sie nicht mehr angehen als die Pogrome in Bessarabien. Sie würde eine glückliche Kindheit in Palästina haben … Billy schob schnell ihr Leintuch zurück und zog sich an. Als sie auf das Deck kam, brannte darauf schon die heisse Mittagssonne, und die meisten Passagiere lagen in ihren Stühlen und hatten ihre Köpfe mit Schirmen, weissen Hüten und Tüchern geschützt. Ein leichter Wind ging darüber hinweg, und sie fuhren der Stadt Tel Aviv entlang. Vor der Stadt lag ein Streifen von weissem und rostbraunem Strand, und die Häuser von Tel Aviv waren weiss, es gab breite, weisse Strassen und neue, hohe, vielstöckige Gebäude, und man sah vom Meer aus in die belebten Strassen hinein. Billy stand an der Reling und sah sich das neue Palästina an. Dann kam Dr. Levy um die Kommandobrücke herum, er hielt das kleine Mädchen an der Hand, und der Wind richtete seine Haare auf. »Guten Morgen«, sagte er, »wir haben Sie schon überall gesucht, um Ihnen Jaffa zu zeigen.« »Ich habe geschlafen«, sagte Billy, und zu dem kleinen Mädchen: »Du hättest mich wecken sollen!« »Es macht nichts«, sagte Dr. Levy. »Es tut Ihnen gut zu schlafen«, und er zeigte Billy die kleine Hafenstadt Jaffa, die im Schutz eines Hügels entstanden und dann mit türkischen Häusern und Moscheen den Hügel hinaufgeklettert war. Sie sah wie eine kleine, italienische, mittelalterliche Hafenstadt aus. Dann begann Tel Aviv und folgte dem Strand. »Ganz links sehen Sie ein dunkelrotes Gebäude, das ist das Gewerkschaftshaus«, sagte Dr. Levy. »Es ist ziemlich hässlich, dieses Tel Aviv. Aber es macht nichts.« »Nein«, sagte Billy. Dr. Levy sah auf den Scheitel des kleinen Mädchens hinunter. »Und nun fahren wir den ganzen Tag der Küste Palästinas entlang«, sagte er. Billy hörte aufmerksam zu, als er über die Siedlungen sprach, die man vom Schiff aus auf den hohen Uferfelsen sehen konnte, und über die neuen Orangenpflanzungen, die sich dunkelgrün, dicht und regelmässig von den kargen, ungepflegten Hainen der Araber unterschieden. Dann assen sie zu Mittag, und nach dem Essen gingen sie wieder alle drei auf das Deck hinauf, und das Schiff folgte immer noch der sonnigen, goldbraunen Küste. Nur die Uferfelsen waren höher geworden, und man sah auf den Höhenzügen dahinter weisse Dörfer, die zur Zeit Herzls und Rothschilds gegründet worden waren und nicht mehr dem Ideal der neuen Gemeinschaftssiedlungen entsprachen. Gegen vier Uhr nachmittags näherten sie sich Haifa. Im Salon setzte die Unterhaltungsmusik ein, und die Leute verliessen ihre Liegestühle und gingen hinunter. Als der Kommissar von der Brücke her kam, sagte Dr. Levy, dass er mit Judith den Hafen von Haifa ansehen wolle, und ging mit ihr nach vorne. Billy sah den Kommissar auf sich zukommen, und wieder begann ihre Erinnerung zu arbeiten. Er war klein und hatte hochgezogene Schultern. Fast einen Buckel, stellte Billy fest. Er hatte ein blasses Gesicht mit kränklich entzündeten Augen und einen schmalen, höhnischen, leidenden Mund. Er sah sonderbar müde und angeekelt aus. »Guten Tag«, sagte er zu Billy. Billy sagte: »Es war nett von Ihnen, mir den Osterkuchen zu schicken.« »Gut geschlafen?« fragte er. »Ja, danke.« Er sagte, ohne sie anzusehen: »Du warst so müde gestern nacht. Du bist mir einfach so weggeschlafen.« Billy antwortete nicht. Sie waren schon in der Hafeneinfahrt. »Ich muss gehen«, sagte der Kommissar. »Ist es Ihnen recht um sechs Uhr?« »Gut«, nickte sie. Er ging weg, und sie begann, um das Deck herumzugehen, in die Touristenklasse hinüber, und wieder nach vorn, an den offenen Fenstern des Salons vorbei. Der Salon war leer. Sie ging zurück, aber man hatte die Touristenklasse durch ein Seil abgesperrt, und hinter dem Seil standen die Auswanderer mit ihren Handtaschen und Rucksäcken und warteten, dass man sie an Land gehen liess. Es waren lauter Juden, und die meisten von ihnen waren junge Juden aus Deutschland. Man hatte während der Reise für acht Zwischendeck-Passagiere gesammelt, die ohne Kost und Unterkunft auf dem Schiff mitfuhren, fünf Burschen und drei Mädchen, die jetzt in ihren Windjacken hinter dem Seil standen und warteten, um in Palästina an Land gehen zu dürfen. Zuerst liess man die Passagiere der ersten Klasse vorbei. Sie kamen durch die Salontür heraus, erhielten ihren Pass, und gingen dann an den beiden arabischen Polizisten vorüber das Fallreep hinunter. Dr. Levy kam und führte sein kleines Mädchen an der Hand. Er war aufgeregt, strahlte wie alle anderen, und beeilte sich, das Schiff zu verlassen, aber als er Billy an der Reling stehen sah, kam er zu ihr, um ihr auf Wiedersehen zu sagen. »Viel Glück«, sagte Billy. Sie sah ihm nach, wie er das schwankende Fallreep hinunterging und wie er aufpasste, dass das kleine Mädchen nicht stolperte. Das Schiff schien sehr hoch, wie es so an der Quaimauer lag. Unten sah man eine Menge Leute, die Bekannte auf dem Schiff hatten und nun warteten, dass sie durch die Passkontrolle kamen. Sie winkten zur Reling herauf, die meisten von ihnen lachten vor Freude über das ganze Gesicht und versuchten, etwas heraufzurufen, aber es war zu hoch, und die Passagiere oben konnten nichts verstehen, sie machten Zeichen mit den Armen und winkten und lachten zurück. Andere weinten geradezu. Die acht Mädchen und Jungen aus dem Zwischendeck wurden von ein paar Burschen abgeholt, die ganz ähnlich aussahen wie sie und ebenfalls Windjacken trugen. Billy sah, wie sie aufeinander losrannten und sich umarmten, und sich erst nachher die Hand schüttelten. Dann nahmen die Burschen den Neuangekommenen die Rucksäcke ab, und sie gingen alle miteinander weg, zwischen den arabischen Polizisten und den langen Ketten gebückter Lastträger hindurch. Es war beinahe sieben Uhr, als alle Passagiere ihre Pässe bekommen und das Schiff verlassen hatten. Der Kommissar kam aus der Kajütentür, er war in Zivil und trug einen Regenmantel wie ein Offizierscape zusammengefaltet auf dem Arm. »Wollen wir gehen?« fragte er Billy. Sie nickte und ging voraus, an zwei jungen Schiffsoffizieren vorbei, die die Hand an die Mütze hoben. Billy sah neben der Kajütentür eine schwarze Tafel mit dem Namen des Schiffs, und darunter, mit Kreide geschrieben: »Verlässt Haifa heute um Mitternacht«. Die arabischen Polizisten hielten Billy auf, und der Kommissar zog ihren Pass aus seiner Tasche. Die Polizisten liessen sie vorbei. Billy fühlte, dass die beiden Offiziere ihnen nachsahen, und fühlte ihren Blick auf ihrem Rücken. Sie ging neben dem Kommissar, der kleiner war als sie, am Zollgebäude vorbei durch die Sperre, über ein Bahngeleise, einen breiten, sandigen Weg entlang. Vor ihnen lag Haifa, eine hellerleuchtete Strasse mit Kaffees, einem Kino, einer Taxihaltestelle, dahinter im Dunkeln der Berg Karmel. »Wollen wir ein Auto nehmen?« fragte der Kommissar. Sie stiegen ein, und er rief dem Chauffeur auf deutsch zu, am Lloydbureau zu halten. »Es wird schon geschlossen sein«, sagte der Chauffeur. »Ich kenne mich aus«, sagte der Kommissar, »fahren Sie ruhig erst einmal hin.« Billy wartete im Auto. Die Strasse schwankte ein wenig unter ihr, aber bei weitem nicht mehr so stark wie vorhin, als sie vom Schiff bis in die Stadt hinein gegangen waren. Und niemand schaute ihr nach. »Haben Sie ein Streichholz?« fragte sie den Chauffeur, »rauchen Sie vielleicht?«, und sie reichte ihm ihre lederne Zigarettenschachtel hinüber. »Versuchen Sie eine von unseren palästinensischen«, sagte...