E-Book, Deutsch, 234 Seiten
Reihe: zur Einführung
Schwenken Globale Migration zur Einführung
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-96060-111-1
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 234 Seiten
Reihe: zur Einführung
ISBN: 978-3-96060-111-1
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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1. Einleitung
Diese Einführung beginnt mit der Infragestellung ihres Gegenstands: Denn viele der Konzepte, die in der Migrationsforschung lange zentral waren oder es weiterhin sind – Migrant_innen, Kultur, Identität, Integration, Grenze – werden von einer reflexiven oder kritischen Migrationsforschung inzwischen grundlegend kritisiert, weil sie auf dichotomischen Festschreibungen beruhen, deren stete Wiederholung Ein- und Ausschlüsse fixiert. Die Migrationsforschung ist immer schon aktiv an der Herstellung ihrer eigenen Kategorien und Themen beteiligt. Das bedeutet zwar nicht, dass es Migration, Grenzen oder Identitäten nicht gäbe. Aber sich dieser Produktions- und Konstruktionsprozesse bewusst zu werden sollte heute ein wesentliches Element der Migrationsforschung sein. Dazu will diese Einführung beitragen. Nach einer klassischen Bestimmung wird Migration definiert als längerfristige, zumindest ein Jahr andauernde räumliche Verlagerung des Lebensmittelpunkts von Individuen oder Gruppen. In räumlicher Hinsicht gilt die Überschreitung einer Grenze als internationale Migration, die durch dieses Kriterium von der Binnenmigration unterschieden wird. Soziologische Definitionen benennen drei Dimensionen der Migration: den Ortswechsel, die damit einhergehende Veränderung des sozialen Beziehungsgeflechts sowie »Grenzerfahrungen« (Oswald 2007, 13). Bestimmendes Merkmal ist also die Verlagerung des Lebensmittelpunkts (Familie, Wohnung, Arbeit, soziales Netz, Kultur). Die Bewegung einer Person ist somit das entscheidende Kriterium. Ein anderer Zugang, der neben den Individuen und Gruppen auch die betroffenen Gesellschaften auf zentrale Weise einbezieht, betrachtet »Migration als Perspektive«. Das bedeutet, dass mit dieser Perspektive »soziale Phänomene und Kontexte erfasst werden, für die die Überschreitung politischer und symbolischer Grenzen natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit durch Menschen, Artefakte und Praxisformen konstitutiv oder zumindest kennzeichnend ist: Übersetzung oder Vermischung als Folge von Wanderungen, Entstehung von Zwischenwelten und hybriden Identitäten, Phänomene der Zuschreibung von Fremdheit, Strukturen und Prozesse des Rassismus oder auch die Erschaffung neuer Formen von Ethnizität und vieles andere mehr – all dies gehört zur migrationsgesellschaftlichen Realität, ist adressiert und sollte in den Blick genommen werden, wenn wir von Migration sprechen.« (Mecheril 2014, 111) Deutlich wird an dieser Beschreibung, dass es einen signifikanten Unterschied macht, ob Migrationsforschung auf die räumlich mobilen Subjekte blickt oder in einem umfassenderen Verständnis auch die Folgen von Wanderungsprozessen und Gesellschaften als Migrationsgesellschaften umfasst. Und deutlich wird auch, dass solchen Beschreibungen und Definitionen jeweils Annahmen zugrunde liegen, die wenigstens umstritten sind. Dennoch soll im Folgenden nicht ganz auf Begriffsklärungen verzichtet werden, da sie Verständigung erlauben und an ihnen auch das Ringen um Begriffe und die ihnen zugrunde liegenden Einschätzungen verdeutlicht werden kann. Wie aber kann Migrationsforschung betrieben werden, ohne Migration und Migrant_innen als etwas von der Norm Abweichendes, als ›das Andere‹ zu denken? Einige programmatische Formulierungen lauten: »Entmigrantisierung der Migrationsforschung« (Dahinden 2016), »Migrantisierung der Gesellschaftsforschung« (Bojadžijev/Römhild 2014) oder »Migrationsforschung als Nicht-Ausländerforschung« (Mecheril et al. 2013, 16). Was ist damit gemeint? Zunächst einmal verfolgen diese Programme das Ziel, die Migrationsforschung wieder enger an die Sozialtheorie anzubinden, dichotomisierende Kategorien zu hinterfragen und nicht allein ›die Migrant_innen‹ zum Gegenstand zu machen, sondern Migrationsgesellschaften bzw. Segmente der allgemeinen Bevölkerung. Eine als »Ausländerforschung« verstandene Migrationsforschung richtet ihr Augenmerk »einseitig auf die Bedingungen gelingender Eingliederung von MigrantInnen in bestehende, direkt oder indirekt als gegeben geltende Ordnungen« (ebd., 14). Dazu zähl(t)en Assimilations- und Integrationsforschung, eine an Migration im Dienste des Humankapitals ausgerichtete Forschung sowie die historische Gastarbeiterforschung. Solche Perspektiven unterstützen die oft implizit wirksame Annahme, dass ›das Allgemeine‹ oder ›die Normalität‹ ein Zustand ohne Migrationsprozesse sei. Ausgangspunkt ihrer Problematisierung ist, dass sich die Migrationsforschung in zwei Kontexten institutionalisiert hat, zum einen im Rahmen der Herausbildung von Nationalstaaten und in den letzten Jahrzehnten im Zusammenhang einer engen Kopplung von Auftrags- und Migrationsforschung. Die Nationalstaatengründung bedeutete, ein Innen und ein Außen klar zu definieren, sowohl territorial mittels der Institution von Grenzen wie auch das Staatsvolk betreffend anhand der Unterscheidung von In- und Ausländer_innen. Nur wenn nationalstaatliche ›Container‹ die Analyseeinheit sind, macht der Begriff der internationalen Migration Sinn. Im akademischen Feld war bzw. ist die Migrationsforschung randständig. Nicht zuletzt deshalb hat sie häufig in Form von Auftragsforschung stattgefunden oder wurde von politiknahen Stiftungen initiiert. Angefordert wurden Studien, die mit spezifischen Kategorien (Türkinnen, Muslime, Migrationshintergrund, Integration etc.) hantierten und konkrete Problemlösungen erwarteten. Ihre Kategorien sind einem Alltagsverständnis entlehnt, werden durch die permanente Wiederholung immer weniger hinterfragt und auf diese Weise zum Inventar einer Wissenschaft, wodurch sie sich wiederum ›normalisieren‹. Durch die Problemlösungsorientierung sehen sich die Wissenschaftler_innen aufgefordert, auf einer konkreten Ebene anzusetzen, wobei aber die oft tief verankerten und nur schwierig zu verändernden gesellschaftlichen Umstände von Migrationen (z.B. internationale Arbeitsteilung, rassistische und antiziganistische Kontinuitäten, der »monolinguale Habitus« [Gogolin 2008] des Schulsystems) außer Acht bleiben. Beide Tendenzen haben dazu geführt, dass die Institutionalisierung der Migrationsforschung mit der Reproduktion von Kategorien einhergeht und auf einem »Paradigma der normalisierten Differenz« (Dahinden 2016, 2210) aufbaut, das eine reflektierende sowie eine breiter gesellschaftstheoretisch orientierte Migrationsforschung an sich infrage zu stellen beabsichtigt. Dass sie hinterfragt werden, soll nicht bedeuten, dass es Migrant_innen oder Migration nicht gäbe. Auch sind Ergebnisse von Arbeiten, die dem klassischen Containermodell folgen und Muster von Wanderungen oder gesellschaftlicher Inkorporation identifizieren, nicht pauschal von der Hand zu weisen. Jedoch muss auch die entsprechend verfahrende Forschung selbstreflexiv konstatieren, dass Migrationsforschung selbst Teil des Problemkomplexes geworden ist, den sie zu beschreiben und erklären beabsichtigte (Bommes/Thränhardt 2010, 9). Einen einfachen Weg aus dieser grundsätzlichen Problematik der Migrationsforschung gibt es nicht, jedoch können einige über Migration und Migrant_innen hinausgehende Forschungsperspektiven ihr entgegenwirken: Migrationsprozesse sind in allen Dimensionen soziologischer Betrachtung relevant: bezogen auf das Individuum sowie die Gesellschaft und in ihren vielfältigen Verflechtungsformen; Migration ist relevant für das soziale Handeln, die soziale Ordnung sowie den sozialen Wandel. Diese Dimensionen sind, gekoppelt und korrespondierend mit der Analyse entsprechender Prozesse mithilfe von Gesellschaftstheorien, zu berücksichtigen. Insofern ist die Gesellschaftsforschung zu »migrantisieren« (Bojadžijev/Römhild 2014). Migrationsforschung sollte zudem nicht nur eine Spezialdisziplin (eine sogenannte spezielle Soziologie) sein. Migrant_innen treten »in allen relevanten sozialen Kontexten, der Ökonomie, der Politik, dem Recht, der Erziehung, der Gesundheit, dem Sport, den Massenmedien oder der Religion individuell oder als Familien sozial in Erscheinung […]. Migrationssoziologen müssen damit zugleich immer auch Familien-, Erziehungs-, Jugend- oder Rechtssoziologen, Arbeitsmarktforscher, Betriebs, Industrie- oder Organisationssoziologen, Ungleichheitsforscher, Konfliktsoziologen, Politikwissenschaftler oder Staatstheoretiker usw. sein« (Bommes 2011, 36). Es mag also zwar disziplinäre Spezialisierungen geben, aber eine gute Migrationsforscherin ist immer auch Generalistin und greift auf Befunde aus anderen Disziplinen und Kontexten zurück. Als Antwort auf die Reproduktion von als problematisch empfundenen Kategorien durch die Wissenschaft reicht das Spektrum der migrationstheoretischen Positionen ähnlich wie in der feministischen Wissenschaft vom »strategischen Essentialismus« (Phillips 2010) über intersektionale Ansätze bis zur Dekonstruktion. Eine strategisch-essentialistische Perspektive etwa nutzt die Kategorien, erläutert aber ihre Entstehung und reflektiert ihren Kontext. In einigen Forschungsdesigns wird die Kritik auch dahingehend übersetzt, dass die gleiche Gruppe in verschiedenen (oftmals Länder-)Kontexten untersucht wird, um so der Zuweisung von bestimmten Eigenschaften an eine Gruppe (›die zweite Generation‹) entgegenzuwirken und diese Zuschreibung...