E-Book, Deutsch, Band 42, 299 Seiten
Seebröker Interpersonelle Gewalt und gesellschaftlicher Wandel
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7398-0635-8
Verlag: UVK Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Lancashire 1728-1830
E-Book, Deutsch, Band 42, 299 Seiten
Reihe: Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven
ISBN: 978-3-7398-0635-8
Verlag: UVK Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Entgegen der weitverbreiteten Forschungsmeinung, die von einem Rückgang der Gewalt in europäischen Gesellschaften im 18. Jahrhundert ausgeht, ist für Lancashire in England während dieser Zeit ein deutlicher Anstieg von Tötungsraten festzustellen. Die Fallstudie untersucht anhand von Tötungsdelikten die Auswirkungen von Frühindustrialisierung, Urbanisierung und Bevölkerungswachstum auf das Auftreten von gewaltsamen Auseinandersetzungen und ordnet gängige Fortschrittsnarrative kritisch ein. Methodisch verbindet das Buch dazu einen sozialgeschichtlich-quantitativen mit einem kulturgeschichtlich-qualitativen Zugriff auf die Akten der Strafjustiz und wirft im Ergebnis ein neues Licht auf das Verhältnis von Gewalt und gesellschaftlichem Wandel in dieser wichtigen Transformationsphase am Übergang zur Moderne.
Benjamin Seebröker ist Frühneuzeithistoriker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Käte Hamburger Kolleg der Universität Münster.
Autoren/Hrsg.
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1Problem- und Fragestellung
Mit der Frage nach dem Einfluss gesellschaftlichen Wandels auf interpersonelle Gewalt ist ein Untersuchungsfeld abgesteckt, das die Geschichts- und Sozialwissenschaften seit langer Zeit beschäftigt. Dass Gewalt ein zentrales Element bei wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit sozioökonomischen Transformationsprozessen darstellt, ist nicht überraschend, nimmt sie doch als „konstitutiver Bestandteil menschlichen Zusammenlebens“, wie sie die neue Gewaltsoziologie beschreibt, eine wichtige Rolle „in der Produktion, Reproduktion und Transformation sozialer Ordnung“ ein.1 Zu den Auswirkungen des Aufbrechens sozialer Ordnungen und traditioneller Normsysteme auf Gewalthandeln existieren zahlreiche Erklärungsansätze, Interpretationen und eine unüberschaubare Menge an Publikationen. Bereits die frühe Soziologie beschäftigte sich mit dem Einfluss sozioökonomischer Transformationsprozesse auf (Gewalt-)Kriminalität, die im Zuge von Industrialisierung und Urbanisierung vor allem in Großstädten, den Kristallisationspunkten des Wandels, zugenommen hätte.2 Mithilfe neuer sozialwissenschaftlicher Methoden und der elektronischen Datenverarbeitung konnten dann ab den 1970er Jahren größere Datenmengen analysiert und damit langfristige Entwicklungen besser untersucht werden. In verschiedenen Studien wurde so festgestellt, dass Urbanisierung und Industrialisierung gerade nicht zwangsläufig zu mehr Gewalt in den Städten geführt hätten, sondern Gewaltkriminalität vielmehr insgesamt zurückging und stattdessen Eigentumsdelikte einen immer größeren Anteil der Kriminalität ausmachten. Die von diesen Ergebnissen abgeleitete und auf modernisierungstheoretischen Ansätzen beruhende violence-au-vol-These geht davon aus, dass die Veränderung der Kriminalitätsmuster auf einen Wertewandel innerhalb der sozialen Systeme schließen lässt. Materielle Güter hätten im Zuge der Entstehung moderner Industriegesellschaften an Bedeutung gewonnen, was wiederum zu einer verstärkten Kriminalisierung und Verfolgung von Eigentumsdelikten führte.3 Diese These wurde aufgrund teils gravierenden Probleme bei der Auswertung der empirischen Daten und ihrer Implikation einer linearen Entwicklung kritisiert, aber auch mit neu erhobenen Daten versucht zu widerlegen.4 Die daraus hervorgegangenen empirischen Daten bildeten die Basis für eine Neuinterpretation, die Gewaltkriminalität nun isoliert betrachtete und die mit der Zivilisierungstheorie nach Elias5 eine neue theoretische Grundlage erhielt.6 Aufbauend auf der Beobachtung von sinkenden Tötungsraten, die man als Indikator für das Gewaltniveau von Gesellschaften in die Debatte einführte, wurde die These des Rückgangs von interpersoneller Gewalt auf die Zeit seit dem späten Mittelalter und auf weite Teile Europas ausgeweitet.7 Der Rückgang sei eingebettet gewesen in einen weitreichenderen Zivilisierungsprozess, der – ausgehend von den gesellschaftlichen Eliten – auch einen kulturellen Wandel umfasste und dazu führte, dass Gewalt immer stärker problematisiert, abgelehnt und als nicht länger akzeptierte Handlungsoption aus sozialen Interaktionen verdrängt wurde. Diese These erhielt sehr viel Aufmerksamkeit und Zuspruch, gerade auch in der nicht-akademischen Öffentlichkeit.8 In unterschiedlich starken Ausprägungen wird dabei das Bild eines ‚dunklen Mittelalters‘ bemüht, das als Hintergrundfolie dient, vor der die Moderne als friedliches Zeitalter erscheint. Dieses Narrativ lässt sich schon bei dem US-amerikanischen Politikwissenschaftler Ted Robert Gurr erkennen.9 Sein 1981 publizierter Text stellte einen wichtigen Startpunkt der Forschungsdebatte zu sinkenden Tötungsraten in England und darüber hinaus dar. Der Ausgangspunkt seines Textes war die Beobachtung eines Anstiegs schwerer Gewalt- und Eigentumskriminalität in den USA und vielen westeuropäischen Gesellschaften in den 1960/70er Jahren. Dieser Anstieg erschien durch einen Vergleich mit den vermeintlich um ein Vielfaches höher liegenden Tötungsraten in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften plötzlich deutlich weniger besorgniserregend. Daran zeigten sich, so Gurr, die Errungenschaften des Zivilisierungsprozesses gegenüber einer brutalen und von alltäglicher Gewalt geprägten Vormoderne: „Medieval Europeans were easily angered to the point of violence and enmeshed in a culture which accepted, even glorified, many forms of brutality and aggressive behavior.“10 Ein solch verkürzte Darstellung vormoderner Gesellschaften war nicht neu und findet sich etwa schon Anfang des 20. Jahrhunderts in den Werken Huizingas.11 Das Wiederaufkommen dieses Bildes, allen geschichtswissenschaftlichen Erkenntnissen zum Trotz, sei kein Zufall, so Carroll, und habe auch politische Gründe.12 Für ihn stellt das Narrativ des langfristigen Rückgangs der Gewalt eine Form von „comfort history“ dar, die – weitgehend losgelöst von gewissenhafter historischer Kontextualisierung – in erster Linie das Werk von Evolutionspsycholog:innen13 und Politikwissenschaftler:innen sei, die mit veralteten Vorstellungen von historischem Wandel operierten, um die Leser:innen in der Gewissheit zu wiegen, in der friedlichsten aller Zeiten zu leben.14 Ungeachtet der problematischen Quellenbasis, die die These vom langfristigen Rückgang der Gewalt nicht ausreichend zu stützen vermag sowie weiterer grundlegender Einwände,15 vermittelt diese „comfort history“ nicht nur ein falsches Bild früherer Gesellschaften, sondern sie hat auch schwerwiegende Folgen für die historische Gewaltforschung. Denn sie verstellt den Blick auf kleinteiligere Entwicklungen innerhalb konkreter historischer Kontexte, die jedoch essenziell für das Verständnis der Geschichte der Gewalt sind. Kürzere Zeitabschnitte gehen in der Großerzählung unter, werden zusammen mit ihren historischen Eigenheiten unsichtbar und gliedern sich in eine Jahrhunderte überspannende, wenn auch nicht lineare, so doch zumindest auf ein klares Ziel ausgerichtete Entwicklung ein. Gegenläufige Trends werden nicht als eigenständige Phänomene untersucht, sondern zu kurzfristigen Anomalien degradiert.16 Die kritische Auseinandersetzung mit diesen Entwicklungen der jüngeren historischen Gewaltforschung ist einer der Ausgangspunkte der vorliegenden Arbeit. Sie schließt dabei an bereits vorgebrachte Kritiken an17 und setzt sich zum Ziel, die Argumente anhand einer Fallstudie mit einem soliden empirischen Fundament zu untermauern. Gleichzeitig soll sie aufzeigen, dass es entscheidend ist, den spezifischen historischen Kontexten wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Dazu wird das 18. und frühe 19. Jahrhundert in den Blick genommen – eine Zeitspanne, die als wichtige Transformationsphase in der Entwicklung interpersoneller Gewalt hin zu ihrem Platz in modernen (westlichen) Gesellschaften angesehen wird. Als Untersuchungsgebiet wurde die im Nordwesten Englands liegende Grafschaft Lancashire ausgewählt, die in mehrfacher Hinsicht besonders gut geeignet ist. Für Lancashire ist mit den Akten des königlichen Gerichts in Lancaster (assizes) nicht nur ein außergewöhnlich guter Quellenbestand überliefert, sondern die Region nahm auch eine Vorreiterrolle in der Industrialisierung ein, sodass hier Transformationsprozesse frühzeitig und vehement einsetzten, die auf eine noch stark frühneuzeitlich organisierte Gesellschaft trafen. Eine Fallstudie Lancashires schafft außerdem ein Gegengewicht zur vornehmlich auf London und den Südwesten konzentrierten Gewaltforschung zu England. Untersucht werden Tötungsdelikte, zu denen eine gute Basis aus seriell und dicht überlieferten Kriminalakten existiert. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich von 1728 bis 1830. Der Anfangspunkt wird durch die erst dann in ausreichendem Maße einsetzende Quellenüberlieferung markiert, der Endpunkt befindet sich vor den Reformen in Strafrecht und Strafverfolgung in den 1830er Jahren. Insbesondere die schrittweise erfolgende Einführung moderner Polizeikräfte ab den 1830er Jahren hatte dann einen großen Einfluss auf die Strafverfolgung und das Aktenwesen.18 Vor allem für den quantifizierenden Teil der Arbeit ist aber entscheidend, dass Strafrecht und Strafverfolgung in Bezug auf Tötungsdelikte weitgehend konstant blieben. Trotz der guten Quellenlage ist Lancashires Kriminalitätsgeschichte für das 18. und frühe 19. Jahrhundert bisher wenig erforscht.19 Besser sieht es für das spätere 19. Jahrhundert aus, insbesondere für Manchester und Liverpool.20 Weitere Referenzpunkte liefern Studien zum benachbarten Cheshire.21 Es kann aber an die lange Tradition der englischen Kriminalitätsgeschichte und die in den letzten Jahrzehnten sehr produktive historische Gewaltforschung zu England angeknüpft werden.22 Hervorzuheben sind die Langzeitstudie von Cockburn zu Kent, die Untersuchung zu Surrey und Sussex von Beattie sowie der umfassende Überblick zur Geschichte der Gewalt in England von Sharpe.23 Lancashire entwickelte sich im 18. und 19. Jahrhundert von einem hauptsächlich agrarisch geprägten Gebiet in der Peripherie Englands zum nach London wichtigsten wirtschaftlichen Zentrum. Diese Veränderungen stellten die Menschen vor große Herausforderungen, wirkten sich unmittelbar auf ihre Lebensweisen aus und führten schließlich dazu, dass mit der Industriegesellschaft eine neue soziale Ordnung entstand. Innerhalb dieses historischen Rahmens lassen sich die Fragestellungen konkretisieren: Welche Veränderungen – und welche Kontinuitäten – lassen...