Seethaler | Die weiteren Aussichten | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 318 Seiten, eBook

Seethaler Die weiteren Aussichten


1. Auflage, neue Ausgabe 2012
ISBN: 978-3-0369-9180-1
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 318 Seiten, eBook

ISBN: 978-3-0369-9180-1
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Inmitten der Provinzleere, am Rande einer kaum frequentierten Landstraße, führt Herbert Szevko gemeinsam mit seiner resoluten Mutter und unter Beobachtung des kleinen Zierfisches Georg eine alte Tankstelle. Eines Tages taucht im Hitzeflimmern der Straße eine lebenshungrige junge Frau auf. Sie heißt Hilde, spricht wenig, hat eine Stelle als Putzfrau im dörflichen Hallenbad und lächelt sich in Herberts Herz.

Das Leben auf der Tankstelle und der dörfliche Alltag geraten aus den Fugen. Herbert bricht von zu Hause auf, stürzt sich als Nichtschwimmer vom Fünfmeterbrett und dann hinein in einen verrückten Wirbel aus Stolz, Verzweiflung und etwas ihm bisher völlig Unbekanntem: Liebe.

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BILLIG TANKEN Herbert Szevko steht nackt und gekrümmt da und schaut in ein kleines rundes Aquarium hinein. Grünlich spiegeln sich die Wellen in seinem Gesicht. Schön ist Herbert nicht. Aber lang. Schon damals im Kindergarten hat seine gelbe Pudelhaube bei Ausflügen in den Wald, in den Zoo, ins Heimatkundemuseum oder sonst wohin die anderen gelben Pudelhauben um eine Kopflänge überragt. Wie eine genetisch missratene, überlange gelbe Blume im Beet der Gutgewachsenen hat er ausgesehen. Sozusagen über das Normale hinausgeschossen. Und vielleicht hat ihm deshalb keines von den anderen Kindern die Hand geben wollen beim zweireihigen Marschieren durch den Straßenverkehr. Trotz der ganzen pädagogischen Einwirkungen verschiedener Kindergartentanten. Wo nämlich die Normalität beleidigt ist, kann die Pädagogik einpacken. Und deshalb, und weil in Herberts Kindergartengruppe eine ungerade Anzahl von Kindern war, und vielleicht auch weil Herberts Handflächen meistens glitschig verschwitzt waren vor lauter innerer Unruhe, deshalb also ist der kleine, viel zu große Herbert damals immer alleine hinter der Gruppe hermarschiert. Aber das ist vorbei. An solche Sachen denkt Herbert Szevko jetzt nicht, während er nackt und gekrümmt vor dem kleinen runden Aquarium steht. Dämmerig ist es im Zimmer. So früh morgens schwächelt sich noch wenig Licht durch das einzige Fenster herein. Ein Bett, ein Stuhl, eine Kommode, ein Schrank, ein paar Regale, eine Lampe, das Aquarium, das grünliche Schimmern und Herbert. Siebenundzwanzig Jahre alt ist Herbert jetzt. Und eben wirklich nicht schön. Die Füße groß und schmal, die Beine gazellenhaft lang und dünn, die Knie spitz, das Glied kurz, der Bauch flach, die Brust flach, beide fein kräuselig behaart, die Schultern hoch, schnurschlanke Arme, große, knöchelige Hände. Der Hals fügt sich auch stimmig ins Gesamtbild hinein. Es gibt Vögel, die haben solche Hälse. Die stehen in irgendwelchen Steppen oder salzigen Seen herum und sind der natürlichen Auslese wahrscheinlich auch nur durch einen blöden Zufall entkommen. Herberts Kopf ist ein bisschen ausgebeult. Das Kinn eine Kante, der Mund klein und geschwungen, die Nase schief, Ohren sind noch nie aufgefallen, gibt es aber auch. Die Haare haben sich weit nach hinten verzogen, in den letzten Jahren von der Stirn verdrängt. Das einzig Schöne, das einzig wirklich Schöne an Herbert sind seine Augen. Hellblau sind die, glänzend, glatt und groß. Fast schon zu groß. Aber eben nur fast. Im Aquarium sind weiße Kieselsteine, ein kleines hölzernes Schiffswrack und ein Fisch. Der Fisch heißt Georg. Vor ein paar Jahren hat Herbert den so getauft, als die Pubertät in ihm noch herumgewühlt hat. In einem kleinen Anfall von Einsamkeit hat er ihn damals einem Schulkollegen abgebettelt. Offiziell ist Georg ein Zierfisch. Wobei: Wo da eigentlich die Zierde sein soll, müsste man sich einmal von einem inspirierten Zoofachgeschäftverkäufer erklären lassen. Auch Georg ist nämlich nicht schön. Klein und rund und gelb, mit einem blässlichen Streifen an der Seite. Ob er sich etwas denkt, während er da jetzt zu dem nackten und gebückten Herbert über ihm hochschaut, lässt sich schwer sagen. Jedenfalls schauen sich Herbert und Georg eine Weile so an. Und dann, ganz plötzlich, hebt Herbert eine Hand, lässt sie mit spitzen Fingern kreisen und verstreut ein bräunliches Pulver über den grünlichen Wasserspiegel. Wie brauner Schnee sinkt es langsam auf den Grund. Den Fisch Georg interessiert das nicht. Noch nicht. So hat Herbert also seinem Fisch das Frühstück bereitet, hat sich ohne modische Überlegungen, wahrscheinlich ohne überhaupt irgendwas zu überlegen, angezogen, Socken, Schuhe, Hemd und kurze Hose, ist aus seinem Zimmer hinaus und die schmalen Treppen hinunter gelaufen, schnell vorbei an den vielen alten Wandfotos, und ist dann rechts abgebogen, in den Wohnraum hinein. Und da sitzt er jetzt, am kleinen Tisch, und schaut zu, wie sich die Sahne im Kaffee verflöckelt. Und noch jemand sitzt am Tisch. Ihm gegenüber nämlich. Das ist Herberts Mutter. Frau Szevko hat ihre bunten Jahre schon lange hinter sich gelassen. Jetzt ist sie alt. Herbert ist ihr spät noch passiert, praktisch in letzter Sekunde vor Torschluss, ein Unfall, ein Ausrutscher, wie Frau Szevko selbst immer wieder erzählt, an der Kasse vom Supermarkt, im Wartezimmer beim Zahnarzt oder sonst wo. Wein und Schnaps waren damals auch im Spiel. Aber das erzählt sie nicht. Alt ist sie jetzt also und sieht auch so aus. Der Körper klein und ausgemergelt, der Rücken verbogen, die Haut ledrig, die Hände fleckig, die bräunlichen Haare angegraut, das Gesicht vom Leben zerwühlt, alles matt und schattig. Nur die Augen leuchten noch, hellblau, glänzend, glatt und fast ein bisschen zu groß. »Wie geht es dem Fisch heute?«, fragt die Mutter. »Schlechte Laune hat er«, sagt Herbert und klopft vorsichtig am Frühstücksei herum. Damit nichts passiert. »Fische haben keine Launen«, sagt die Mutter. »Wieso willst du dann wissen, wie es ihm geht?«, fragt Herbert. »Gesundheitlich halt«, sagt die Mutter. »Aha«, sagt Herbert. Das Ei ist jetzt oben offen. Gerade groß genug für Herberts kleinen Löffel ist die Öffnung. Zart platzt das Eiweiß. Darunter glänzt es schon orangefarben. Wie künstlich nachgefärbt sieht der Eidotter aus, denkt sich Herbert und schiebt das Löffelchen in den Mund. Der Mutter fällt jetzt auch nichts mehr ein. Ganz langsam lässt sie den Kopf sinken und schaut wieder in ihren Kaffee hinein. Herbert auch. So geht das schon seit Jahren mit den beiden. Reden irgendetwas, ein paar Sätze, ein paar Worte, und dann schauen sie in ihre Kaffeetassen hinein. Früher war da bei Herbert noch Kakao drinnen. So viele Jahre geht das schon. Irgendwann aber haben Frau Szevko und Herbert dann fertig gefrühstückt und sich fertig ausgeschwiegen, sind gleichzeitig und abrupt aufgestanden, in ihre rotgelben Arbeitskittel geschlüpft und durch die hintere Tür aus dem Haus gegangen. Und so marschieren sie jetzt durch den kleinen Garten, die Mutter voran, Herbert hintennach. Ein bisschen heller ist es schon, aber immer noch hat das Tageslicht keine richtige Kraft. Der kleine Garten hat eigentlich alles, was ein Garten so braucht, für den Erholungswert und die Nahversorgung. Ein bisschen Platz, zwei Campingliegen, einen Zaun, ein paar Hecken, ein paar Beete, Gemüse, Geranien, einen winzigen kreisrunden Teich mit zwei Seerosen und einer Plastikwassermühle. Durch ein niedriges Gartentürchen hindurch gehen Herbert und die Mutter, einmal um die Ecke, den Zaun entlang, an der Mauer entlang, am Haus entlang, über die große rissige Betonfläche. Die Mutter steigt über eine ölige Pfütze, Herbert steigt hinein. Und weiter gehen sie, an den beiden Müllcontainern, am Saugautomat und an der kleinen Werkstatt vorbei. Vor der Waschanlage bleiben sie stehen. Die Mutter hat die Schlüssel. Sperrt auf. Legt den Hebel um. Drückt die Knöpfe, den roten, den schwarzen, den grünen. So. Betriebsbereit. Herbert steht dahinter und schaut zu. Ob denn heute, am Montag, jemand kommen wird zur Autowäsche, ob denn in der ganzen Woche jemand kommen wird, denkt sich Herbert, jetzt im Frühling sind die Autos ja nicht mehr so anfällig für den Dreck, und außerdem gibt es ja anderswo, hat man schon gehört, viel größere, buntere, leistungsfähigere und insgesamt sowieso beeindruckendere Waschanlagen, ganze Waschstraßen, vielleicht mittlerweile sogar schon ganze Waschstädte oder Waschlandschaften, weil eines ist klar: Autos sind den Menschen wichtig. Wichtiger als vieles andere im Leben, wichtiger zum Beispiel als gesunde Ernährung. Oder soziale Verantwortlichkeiten. Oder die eigenen Kinder. Früher haben die Autos einen Kratzer gehabt, heutzutage haben sie Wunden. So ungefähr denkt sich Herbert allerhand zusammen, während er da an der Waschanlagen-eingangstür steht. Die Mutter ist pragmatischer veranlagt. Die ist inzwischen schon hinübergegangen, unter dem Tankstellenvordach hindurch, an den drei Zapfsäulen vorbei, hat den Verkaufsraum aufgesperrt und ist drinnen verschwunden. Gleich darauf ist dann das Licht angegangen überall an der Tankstelle. Das Licht an der Verkaufsraumdecke, das unter dem Tankstellenvordach, das an den Zapfsäulen und vor allem das Licht an den Benzinpreistafeln, die hoch oben und weit sichtbar an dem langen Tankstellenmast hängen, Diesel, Super, Normal, Bleifrei. Noch ein Stück weiter oben, auf der Mastspitze, ist ein Schild befestigt. Bei dem hat es nicht mehr für eine ordentliche Beleuchtung gereicht. Eine einzelne Glühbirne hängt am unteren Schilderrand und glimmert zart die Buchstaben an. Billig tanken bei Szevkos steht da. Das hintere »s« von den Szevkos ist ein bisschen schief und sieht überhaupt ganz anders als die anderen aus. Das muss irgendwann irgendjemand im Nachhinein da oben dazuplatziert haben. Und so ist also die kleine Tankstelle mit dem...


Seethaler, Robert
Robert Seethaler, 1966 in Wien geboren, wurde 2007 für seinen Roman »Die Biene und der Kurt« mit dem Debütpreis des Buddenbrookhauses ausgezeichnet. Er erhielt zahlreiche Stipendien, darunter das Alfred-Döblin Stipendium der Akademie der Künste. Der Film nach seinem Drehbuch »Die zweite Frau« wurde mehrfach ausgezeichnet und lief auf verschiedenen internationalen Filmfestivals. 2008 erschien sein zweiter Roman »Die weiteren Aussichten«. »Jetzt wirds ernst« wurde 2010 veröffentlicht, darauf folgte 2012 der Bestseller »Der Trafikant«. Robert Seethaler lebt und schreibt in Wien und Berlin.

Robert Seethaler, 1966 in Wien geboren, ist Autor von zahlreichen Romanen. Bei Kein & Aber erschienen Die Biene und der Kurt (2006), Die weiteren Aussichten (2008), Jetzt wirds ernst (2010) und 2012 der Bestseller Der Trafikant, der 2018 mit Bruno Ganz in der Hauptrolle verfilmt wurde. Robert Seethaler lebt und schreibt in Wien und Berlin.



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