Seidel Maddrax - Folge 313
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8387-1489-9
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Der verlorene Pfad
E-Book, Deutsch, Band 313, 64 Seiten
Reihe: Maddrax
ISBN: 978-3-8387-1489-9
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Autoren/Hrsg.
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Im schottischen Hochland, 31. Dezember 2527 Die Landschaft rings um Canduly Castle bot einen prachtvollen Anblick. Besonders im Winter, wenn der Schnee wie ein feines Tuch über Tälern und Hügeln lag und das Wild aus den Wäldern seine Nahrungssuche auf die burgnahen Wiesen verlegte. Rulfan mochte es, die scheuen Vierbeiner zu beobachten. Einige prächtige Reddeer-Hirsche wurden gerade von Spikkaren belauert, die keine andere Laune zu kennen schienen als Missmut, und sich selbst bei der Jagd gegenseitig ankeiften. Viele ihrer Beutetiere verdankten dieser Wesensart ihr Leben. Spikkare wurden aber auch selbst oft zum Opfer, denn sie hatten ein zartes, ausgesprochen wohlschmeckendes Fleisch, und deshalb hingen auch einige von ihnen zur Stunde in der Burgküche ab. Knusprig gebraten würden sie morgen die Festtafel bereichern. Festtafel. Das Wort lag wie ein Stein in Rulfans Magen. „Hätte ich bloß nicht zugestimmt“, brummte der Albino und trat im Vorbeigehen einen harmlos in der Gegend herumstehenden Holzeimer weg. „Halt! Wer da?“, klang es prompt aus dem Wärterhäuschen an der Ziehbrücke. Hastiges Stühleschieben, Waffenklirren, dann kamen zwei Wachleute ins Freie gerannt. Rulfan hätte sie tadeln können für ihre lasche Pflichtauffassung – immerhin sollten sie Canduly Castle vor unliebsamen Gästen schützen, anstatt sich am Kohleofen den Hintern zu wärmen. Aber er hatte keine Lust dazu. „Ach, Ihr seid es, Herr!“, keuchte einer der Männer. „Darf ich fragen, wo Ihr hinwollt um diese Zeit?“ „Sicher“, sagte Rulfan und ging weiter. Das fehlte gerade noch, dass er seinen Bediensteten Rede und Antwort stand! Die Auffahrt zur Burg war geräumt und mit Asche bestreut. König Stuart und sein Gefolge wurden für morgen früh erwartet, da wollte man nichts riskieren. Der König sollte heil ankommen. Er war immerhin der Zeremonienmeister. „Warum hat er nicht abgesagt?“, klagte Rulfan. „Jed ist doch mein Freund! Er hätte absagen können!“ Er verließ den Weg und begann querfeldein übers Land zu wandern. Es tat gut, bis zu den Knöcheln im Schnee einzusinken und die würzige kalte Winterluft zu atmen, während der Wind von den fernen Hügeln das Heulen wilder Lupas herantrug. Rulfan fühlte sich an alte Zeiten erinnert, als Freundschaft über allem stand und Freiheit noch eine Selbstverständlichkeit war. Sein Herz wurde schwer. Wo waren sie hin, die Jahre mit Matt, Aruula und all den anderen Gefährten – Mr. Black, Aiko Tsuyoshi, Honeybutt Hardy, Pieroo oder Quart’ol? Fremde Länder. Abenteuer. Neue Wege. Nächte am Lagerfeuer und Tage voller Kämpfe und Entbehrungen. Die niemals endende Sehnsucht nach der Ferne … Es gab noch so vieles zu erkunden, und auch viele Orte, die Rulfan gern ein weiteres Mal besucht hätte. Ewigkeiten war er nicht mehr in Waashton gewesen. Doch daraus würde nichts werden. Canduly Castle war seine Endstation. Denn er hatte etwas getan, das er nie hätte tun dürfen. Es war drei Wochen, fünf Tage und ungefähr zwölf Stunden her, dass Myrial ihn aus dem gemeinsamen Schlafzimmer verbannt hatte. Nicht nur, um ihm zu zeigen, was sie von seinen ständigen Eskapaden und Abwesenheiten hielt. Sondern auch, um ihm die Pistole auf die Brust zu setzen. Schon sein Sohn Leonard Pellam war unehelich geboren worden. Einem zweiten Kind wollte sie diesen Makel nicht antun. Dabei wünschten sie es sich doch beide. Myrial hatte sogar schon einen Namen ausgewählt, falls es ein Mädchen werden sollte: Canduly Kay. Rulfan schüttelte den Kopf. Heiraten! Das Wort hatte einen bitteren Beigeschmack. Nach Kerker und Kontrolle. Und, ja, auch nach Verantwortung. Der er sich nicht länger würde entziehen können. „Sie hat ja recht“, murmelte der Albino. „Aber was soll ich machen? Ich bin nun mal so! Mir geht die Freiheit über alles.“ Das hatte er sich zweieinhalb Wochen lang immer wieder eingeredet, und vielleicht stimmte es ja sogar. Aber es hatte ihn letztlich nicht davor bewahren können, zu kapitulieren. Vor einer Woche war Rulfan eingeknickt. Er hatte an die Schlafzimmertür geklopft und geseufzt: „Na schön, also meinetwegen: Lass uns heiraten! Machst du jetzt bitte auf?“ Doch Myrial dachte gar nicht daran, ihn gleich wieder in ihr Bett zu lassen. Sie wollte zuerst Gewissheit haben, dass er es auch wirklich ernst meinte. Um das zu beweisen, brachte Rulfan Einladungen auf den Weg – was Tage dauerte, weil er berittene Boten einsetzen musste. Zwar hatte der Erfinder Meinhart Steintrieb ein neuartiges Funkgerät konstruiert, das die restliche CF-Strahlung in der Luft nutzte, um über weite Strecken zu senden – aber noch verfügte keiner der befreundeten Stammesfürsten über einen entsprechenden Empfänger. Außerdem war Steintrieb nicht hier; er war mit Matthew Drax zum Südpol gereist. Natürlich bestand Myrial auch darauf, Jed Stuart einzuladen; und mehr noch: Der König sollte die Trauung selbst vornehmen. Rulfan hatte einen Boten nach Stuart Castle gesandt, um die Bitte vorzutragen, und Jed hatte sie mit Freuden akzeptiert. Mit Freuden! Verräter! Myrial war überglücklich – und ließ den Vater ihres Sohnes noch immer nicht an sich heran. „Nach der Hochzeit, mein Lieber“, gurrte sie mit unschuldigem Augenaufschlag. „So hast du etwas, worauf du dich noch mehr freuen kannst als auf die Zeremonie.“ „Ich bin’s ja selbst schuld“, sagte Rulfan in einem Moment der Einsicht zu sich selbst. „Was lasse ich sie auch dauernd allein und treibe mich in der Weltgeschichte herum? Ich kann froh sein, dass sie mich nicht längst verlassen hat.“ Denn das war die andere Seite der Medaille: Er liebte Myrial. Aus vollem Herzen und ohne Wenn und Aber. Auch wenn er sich das in solchen Momenten kaum eingestehen wollte. „Das war’s also!“, seufzte er. „Unfassbar! Da habe ich so vielen Gefahren getrotzt und ein Leben als einsamer Lupa gelebt, und dann kommt diese kleine, bezaubernde Frau, knallt eine Tür zu – und ich werde zum Weichei!“ Er seufzte noch einmal. Dann straffte er sich. „Na los, Mann. Geh heiraten … blöder Idiot!“, fügte er noch hinzu, als er den Rückweg antrat. Es hatte wieder zu schneien begonnen. Das Abendrot war erloschen, die Dämmerung fiel übers Land. Nicht mehr lange, dann wurde es Nacht in den Highlands. Es war die letzte des Jahres. Die letzte in Freiheit … Bei Kalskroona, etwa zwei Wochen zuvor Über den Dreizehn Inseln zog eine Wolkendecke dahin, ohne Eile, schwer von Schnee, und nur selten gelang es der kraftlosen Dezembersonne, sie zu durchbrechen. Wenn sie es tat, dann versiegte das wispernde Flockengestöber für kurze Zeit. Und alles wurde still. In solchen Momenten erwartete Aruula den Schrei des Totenvogels. Krahac würde kommen und sie holen, davon ging sie aus in ihrem Gefängnis unter der Erde, das mit jedem weiteren Tag, der keine Rettung brachte, ein bisschen mehr zur Gruft wurde. Zu ihrer Gruft. Aruula fürchtete sich nicht vor dem Tod – ihr Leben als Kriegerin war eine endlose Aneinanderreihung gefährlicher Situationen gewesen. Allerdings hatte sie gehofft, ehrenvoll zu sterben. Vielleicht durch das Schwert eines gleichwertigen Gegners, oder bei einem ihrer vielen Balanceakte auf dem schmalen Grat entlang der Grenze zu Wudans Reich. Aber bestimmt nicht an Kälte und Auszehrung in einem lausigen Erdloch, das ein noch lausigerer Daa’mure zur tödlichen Falle umfunktioniert hatte! Verflucht sollst du sein, Grao’sil’aana!, dachte Aruula bitter, den Blick nach oben gerichtet. Über ihr verengte sich die Höhlendecke zu einem kurzen Felsenkamin und führte an dessen Ende in die verschneite Außenwelt. Aber der Ausstieg war unmöglich zu erreichen, dazu hätte sie eine Leiter oder ein Seil haben müssen. Etliche gerissene Wurzelstränge am Boden, sofern sie nicht verfeuert worden waren, kündeten von dem vergeblichen Versuch, selbst ein Tau zu knüpfen. Wochenlang hatte sich die Öffnung ins Freie regelmäßig verdunkelt, wenn der Daa’mure erschien, um Aruula und den mit hier gefangenen Orlaando mit Proviant und Brennholz zu versorgen. Im Gegenzug verlangte Grao Informationen. Keine Staatsgeheimnisse, sondern meist alltägliche Dinge, die er wissen musste, um unauffällig beim Volk der Dreizehn Inseln leben zu können. Allerdings nicht als gewöhnlicher Mitbürger. Er hat meine Gestalt angenommen! Aruula presste die Lippen zusammen. Alles, was er da draußen macht, geschieht in meiner Gestalt! Als Königin Aruula! Mein Name … mein Andenken … sie werden für immer beschmutzt sein durch Taten, die ich nie begangen habe! O Wudan, ich flehe dich an: Gib mir noch eine Chance, diese heimtückische Kreatur zu vernichten! Nur eine Chance! Die Barbarin hielt inne. Lauschte auf eine Reaktion. Ein Zeichen. Aber Wudan antwortete nicht. Der Gott, dem sie von Kindesbeinen an vertraute, hatte sie verlassen. Aruulas Widerstand erlosch so schnell, wie er aufgeflammt war, und erneut sank die erschöpfte Frau zurück in jenen Zustand zwischen Tag und Traum, der sie immer öfter umfing, seit der Totenvogel unterwegs zu ihr war. Entbehrungen konnte sie ertragen, das hatte die Barbarin gelernt auf dem steinigen Pfad ihres Lebens. Hunger und Kälte hätten ihr nie den Mut geraubt. Was sie resignieren...