E-Book, Deutsch, Band 41, 428 Seiten
Siegemund Öffentlichkeit als Waffe
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7398-0613-6
Verlag: UVK Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Schmähschriften als Mittel des Konfliktaustrags in Kursachsen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts
E-Book, Deutsch, Band 41, 428 Seiten
Reihe: Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven
ISBN: 978-3-7398-0613-6
Verlag: UVK Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Einsatz von Schmähschriften galt als weit verbreitetes Phänomen vormoderner Streitkultur. Die vorliegende Publikation trägt dazu bei, ein neues Licht auf die Strukturen und Dynamiken frühneuzeitlicher Öffentlichkeit zu werfen. Auf der Grundlage von Kriminalakten erstellte, mikrohistorische Fallstudien zeigen, wie diese ,libelli famosi' eingesetzt und verbreitet wurden, welche Effekte sie zeitigten und wie Betroffene sich gegen die oft anonymen, öffentlichkeitswirksamen Angriffe zur Wehr setzten. Die Analyse verdeutlicht daürber hinaus den Sonderstatus der Schriften im Repertoire der damaligen Mittel eines ehrbezogenen Konfliktaustrags, der bedingt war durch eine neuartige Öffentlichkeitssensibilität am Beginn der Frühen Neuzeit, und verweist auf die Existenz einer öffentlichen Meinung avant la lettre.
Jan Siegemund wurde mit vorliegender Publikation im Sommer 2022 an der Technischen Universität Dresden promoviert. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Profilbereich Geschichte der Vormoderne der Universität Bielefeld.
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2.3 Zum Verständnis frühneuzeitlicher Öffentlichkeit
„Wir müssen in Zukunft zumindest sagen, von welcher Öffentlichkeit wir sprechen […]!“ Öffentlichkeit kann getrost als einer der problematischsten, da lang und intensiv diskutierten, Begriffe der Geschichtswissenschaft gelten und bedarf daher in besonderem Maß der expliziten Konzeptualisierung. Um einerseits die Bedeutung des Öffentlichkeitsaspekts in den zu untersuchenden Schmähschriftenkonflikten herauszuarbeiten und andererseits auf diese Weise Einsichten in die Herstellung dieser Öffentlichkeit sowie in deren Mechanismen zu gewinnen, sollen zwei Perspektiven auf den Gegenstand eingenommen werden: eine technisch-?deskriptive in Anlehnung an die Kommunikations- und Mediengeschichte sowie eine normative, der ein gesellschaftlich-?funktionales Verständnis von Öffentlichkeit zugrunde liegt. 2.3.1 Öffentlichkeit als Kommunikationsnetz: Öffentliche Orte und Medien
Aus kommunikationshistorischer Sicht lässt sich Öffentlichkeit zunächst als ein durch einzelne Kommunikationsakte gebildetes Netz oder als eine Sphäre beschreiben, wobei letzteres den räumlichen Charakter hervorhebt. ‚Öffentlich‘ ist Kommunikation in diesem Zusammenhang, wenn sie nicht intim, sondern in möglichst hohem Grad frei zugänglich ist. Dieses Netz lässt sich in den Dimensionen Teilnehmende, Medien, Orte bzw. Räume, Zeiten und Inhalte analysieren. Über die Erfassung dieser Dimensionen können Strukturen des Netzes, Mechanismen des Öffentlichmachens und somit auch Strategien derjenigen, die Öffentlichkeit adressierten, sichtbar gemacht werden. Öffentliche Orte Öffentliche Orte fungieren gleichsam als Knotenpunkte dieses Kommunikationsnetzes. Charakteristischerweise sind sie zugänglich für Menschen unterschiedlichster Herkunft, unterschiedlichen Standes und Geschlechts; an ihnen finden komplexe soziale Austauschbeziehungen, Meinungsbildungsprozesse und eben auch Konflikte statt. Auf die öffentlichkeitskonstituierende Bedeutung verweist nicht zuletzt der häufige Quellenbegriff in publico loco, der sich auf Kirchen ebenso beziehen kann wie auf Wirtshäuser, Garküchen, Straßen und Brücken. Ihre Relevanz erhalten diese Orte zum einen durch ihre Symbolkraft, was etwa bei Kirchen, Rathäusern oder herrschaftlichen Residenzen besonders augenfällig wird, zum anderen durch ihre Frequentierung. Letztere hängt stark vom Faktor Zeit ab: Kirchen wurden vor allem zum Hauptgottesdient, Marktplätze zur Marktzeit aufgesucht, was sich entsprechend auch auf die Anzahl von Personen auf Straßen und Brücken auswirkte. Medien der ‚Anwesenheitsgesellschaft‘ Die Betrachtung der Vielfalt kommunikativer Akte und Medien, des gesamten ‚Medienensembles‘, kann als analytischer Standard der Kommunikationsgeschichte gelten. In den Blick geraten somit mündliche, hand- und druckschriftliche, bildliche, gestische sowie – im Folgenden weniger relevant – akustische wie olfaktorische Medien. Hinsichtlich der schriftlichen Kommunikation ist für die Frühe Neuzeit, an deren Beginn der Eintritt in die ‚Gutenberg-?Galaxie‘ (MCLUHAN) vollzogen wurde, eine starke Fokussierung der Forschung auf Druckschriften und tendenziell eine Vernachlässigung der Manuskriptmedien zu konstatieren. Die in dieser Arbeit behandelten Schmähschriften wurden hingegen allesamt handschriftlich verfasst. Somit ergibt sich die Möglichkeit, die Potentiale der Handschrift, die für weite Teile der Frühen Neuzeit das für den Alltag der Menschen entscheidende Medium blieb, hinsichtlich der Herstellung und Adressierung von Öffentlichkeit auszuloten. Besondere Bedeutung für die frühneuzeitliche Öffentlichkeit kam der Kommunikation unter Anwesenden in Form direkter Interaktion zu. Rudolf SCHLÖGL spricht diesbezüglich gar von einer ‚Anwesenheitsgesellschaft‘. Als Kennzeichen dieser Kommunikation unter Anwesenden erscheint die Tatsache, dass Sender und Inhalt nicht voneinander zu trennen waren und ersterer sich somit der unmittelbaren Reaktion der Anwesenden und damit einem erhöhten Konsensdruck ausgesetzt sah. Hieraus erklärt sich für SCHLÖGL zugleich der augenscheinlich „agonal[e], polemogen[e] Grundzug“ der frühneuzeitlichen Öffentlichkeit, in der die Positionen der Kommunikationsteilnehmenden – artikuliert durch Praktiken der Ehre – unmittelbar aufeinanderprallten und über Inklusion und Exklusion verhandelt wurden. Dabei hatten diejenigen Akteur:innen das größte Potential zur Durchsetzung ihrer eigenen Anliegen beziehungsweise zur Unterdrückung der öffentlichen Kommunikation ihres Gegenübers, die situativ die größeren Machtmittel einsetzen konnten. Schriftlichkeit kam besonders dann, wenn anonym publiziert wurde, eine Sonderrolle in der Anwesenheitsgesellschaft zu, da sie die Entkopplung von Sender und Nachricht ermöglichte: Der Sender konnte sich potentiell der direkten Reaktion seines Gegenübers entziehen. Schriftliche Kommunikation ließ sich somit gegen althergebrachte Machtmittel einsetzen, sie entzog sich der Kontrolle darüber, ob gelesen wurde und wer las. Gerücht und Gerede Die große Bedeutung der face to face-Kommunikation in der frühneuzeitlichen Öffentlichkeit führt bereits zu der Erwartung, dass auch die Schmähschriftenpraxis ihre Wirkung zu nicht unwesentlichen Teilen im „mündlichen Kommunikationsgefüge“ entfaltete. Im Gegensatz zum Umgang mit Printmedien werden die Erscheinungsformen mündlicher Kommunikation selten konkret benannt und konzeptuell unterfüttert. Die Forschung grenzt die verschiedenen Bestandteile des angesprochenen Kommunikationsgefüges (zumeist bezeichnet mit Gerede, Geschwätz, Gerücht, Klatsch und Tratsch, Geschrei, Gemeine Rede oder Sag u. ä.) unterschiedlich scharf voneinander ab und profiliert sie entsprechend ihrer Erscheinungsform und Dynamik, ihrer Teilnehmerkreise und Funktionen und nicht zuletzt ihres Öffentlichkeitsbezugs. Dabei ist der Wortgebrauch zum einen uneinheitlich, zum anderen werden die verwendeten Begriffe und die zugehörigen Konzepte häufig nicht klar definiert. So unterstreicht die häufige gemeinsame Nennung von ‚Gerücht und Gerede‘ die herausragende Bedeutung beider Kommunikationsformen bei der Konstituierung von Öffentlichkeit. Unter Gerede werden entweder die unterschiedlichsten Arten mündlicher Kommunikation subsumiert, oder es erfolgt eine Einordung in einen dynamischen Prozess von aufeinanderfolgenden und sich zuspitzenden Phänomenen, nämlich Gerede – Gerücht – Geschrei, wobei es sich vor allem um die Verdichtung von Kommunikation und Verschiebung vom privaten in den semi-öffentlichen und schließlich öffentlichen Bereich handelt. Zudem werden Gerede, Geschrei, Gerücht und andere Begriffe teils synonym gebraucht, was zum einen Spiegel der Quellensprache ist, zum anderen jedoch – hier vor allem an der undifferenzierten Verwendung der Begriffe Klatsch, Geschwätz und Gerücht zu erkennen – Ausdruck vielfältiger, uneinheitlicher und sich vermischender Bedeutungsaufladungen in der Alltagssprache. Es gilt insgesamt, was der Soziologe Jean-?Noël KAPFERER über das Gerücht sagt: Jeder meint, er könne ein Gerücht erkennen, wenn er [es] mit einem zu tun bekomme, keiner vermag indes, dafür eine zufriedenstellende Definition zu geben. Kurz gesagt, jeder glaubt zwar felsenfest, daß es Gerüchte gibt, doch es besteht keinerlei Übereinstimmung, wo genau die Grenzen zu ziehen sind, an denen dieses Phänomen beginnt und endet. An dieser Stelle scheint es daher geraten, einige definitorische und konzeptuelle Überlegungen zu den wichtigsten Formen mündlicher Kommunikation anzustellen und mithin invektive Potentiale derselben auszuloten. Ziel ist es, ein grundlegendes Verständnis für mündliche Kommunikationsphänomene zu erhalten, nicht aber, diese anschließend im Rahmen der Fallstudien in jedem Fall eindeutig zu identifizieren und streng voneinander abzugrenzen, was weder die Konzepte selbst aufgrund ihrer relativen Unschärfe, noch die Quellen wirklich zulassen. Als zentrale Formen können zum einen das ‚Gerede‘ als Grundform gemeinschaftlicher Kommunikation und zum anderen das ‚Gerücht‘ als dasjenige Phänomen, das den stärksten Öffentlichkeitsbezug aufweist, gelten. Stellt das Gerede gleichsam den schwer einsehbaren Ozean mündlicher Kommunikation dar, so treten die Gerüchte als sichtbare Wellen aus diesem hervor an die Öffentlichkeit. Gerede Das Gerede stellte nicht nur in der Frühen Neuzeit die Grundform alltäglicher Kommunikation dar und kann im neutralen Sinn als „Bereden von alltäglichen Dingen als Form der Wissensweitergabe“ definiert werden. Es lässt sich weder auf spezifische Themen noch auf bestimmte Kommunikationsteilnehmende beschränken. Jedoch war das Gerede in der Sphäre lokaler Gemeinschaft besonders wirkmächtig, grundlegende Untersuchungen zu seiner Funktion beziehen sich...