E-Book, Deutsch, 341 Seiten
Reihe: Blaue Reihe
Siep Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie
unverändertes eBook der 1. Auflage von 2014
ISBN: 978-3-7873-2718-8
Verlag: Felix Meiner
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes
E-Book, Deutsch, 341 Seiten
Reihe: Blaue Reihe
ISBN: 978-3-7873-2718-8
Verlag: Felix Meiner
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Der Gedanke der Anerkennung als Norm zwischenmenschlichen Verhaltens und Kriterium der Beurteilung von sozialen Lebensformen und Institutionen hat in den letzten Jahrzehnten weltweit eine bedeutende philosophische Karriere gehabt. Dabei hat die Rezeption des Deutschen Idealismus eine entscheidende Rolle gespielt. Das gilt auch für den amerikanischen Pragmatismus von Mead bis Taylor und Brandom oder den Existentialismus und die Phänomenologie in Frankreich von Kojève bis Ricoeur.
Das Buch verfolgt die Entstehung von Hegels Philosophie des objektiven Geistes in der Jenaer Zeit, in der 'Anerkennung' das organisierende Systemprinzip ist. Dabei werden zeitgenössische Theorien der Intersubjektivität (Sartre, Lacan) oder der gelungenen Sozialisation (Habermas, Dreitzel) als Maßstab sozialer Institutionen auf ihre Nähe zu Hegel hin untersucht. Besonderes Augenmerk liegt auf Hegels Methode, zum Verständnis und zur Kritik einer existierenden Gesellschaftsordnung auf die historische Genese von Normen und Institutionen zurückzugreifen. Ein solches genetisch-kritisches Verfahren scheint auch heute einem apriorisch-deduktiven überlegen (so auch M. Walzer oder R. Geuss). Hegel vermag das Potential seiner Theorie aber, wie auch anhand der Berliner Rechtsphilosophie gezeigt wird, aufgrund bestimmter metaphysischer Prämissen nur unvollkommen auszuschöpfen.
Mit der internationalen Entwicklung der Anerkennungstheorie seit 1979 setzt sich die Einleitung dieser Neubearbeitung auseinander.
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III. Anerkennungskultur«: Pluralismus, Markt und das technische Naturverhältnis
Axel Honneth, Charles Taylor und viele andere Vertreter moderner Anerkennungstheorien gehen von einer fast unbegrenzten »Brauchbarkeit« dieses Gedankens für Probleme der modernen Gesellschaften aus. Im Folgenden sollen Tragweite und notwendige Modifikationen bzw. Ergänzungen des Prinzips der Anerkennung an drei Problemen einer praktischen Philosophie der modernen Gesellschaft erörtert werden: kultureller Pluralismus (1), Zähmung des Marktes (2) und das Naturverhältnis im Zeitalter technischer Optimierungen (3). Dabei muß ich es auch hier bei Skizzen bewenden lassen, zu jedem dieser Probleme gibt es umfangreiche Diskussionen. 1. Anerkennung in einer Gesellschaft kultureller Viefalt
Die Theorie der Anerkennung im Deutschen Idealismus wurde formuliert in einer weitgehend kulturell homogenen christlicheuropäischen Gesellschaft. Vor allem Hegel ging davon aus, daß die organische Gliederung dieser Gesellschaft in Familien und Berufsstände, staatliche Gewalten und kirchliche Institutionen zwar unter dem Gesichtspunkt der Anerkennung zu prüfen und zu rekonstruieren, aber nicht grundsätzlich aufzugeben ist – in der tabula rasa der ersten Phase der Französischen Revolution, die außer Individualrechten und der Herrschaft des allgemeinen Willens des Volkes keine gerechtfertigten »Besonderheiten« von Ständen und Gruppen zuließ, sah er deren Scheitern begründet (s. u. S. 141 f.). Pluralistische Gesellschaften und demokratische Staaten verlangen andere Formen der Anerkennung. Sie lassen keine rechtlichen Unterschiede zwischen Ständen und Religionen (bzw. Religionsgemeinschaften) mehr zu, benötigen aber eine Gemeinsamkeit der Willensbildung und Normsetzung. Es muß ein Ausgleich gefunden werden zwischen den Individualrechten und dem Bestehen von kulturellen Gemeinschaften, in denen Individuen ihre soziale Identität und ihre Freiheit der Religionsausübung suchen. Charles Taylor hat zwischen »Multikulturalismus« und einer »Kultur der Anerkennung« eine notwendige Verbindung gesehen.70 Multikulturelle Gesellschaften auf der Basis von Menschenrechten und Demokratie haben die Spannung zwischen der Anerkennung universaler Gleichheit von Moralsubjekten und Rechtspersonen einerseits und der Anerkennung ihrer »unverwechselbaren Identität« (28) andererseits zu bewältigen. Die letztere bildet sich nach Taylor »in Dialog und Kampf mit signifikanten Anderen« (27). Das erfordert eine gegensätzliche Art von Politik, eine Politik des »Universalismus« bzw. der »Gleichheit« einerseits, eine »Politik der Differenz« (27, 29) andererseits. Minderheiten, deren Gruppenidentität durch ethnische, religiöse, historische, oder sprachliche Zugehörigkeit bestimmt wird, oder Angehörige eines traditionell diskriminierten Geschlechts müssen in pluralistischen, toleranten und demokratischen Rechtsstaaten zum Gegenstand einer »differenzierenden Praktik« (30) gemacht werden. Sie kann darin bestehen, Gruppenrechte und Minderheitenrechte einzuräumen, aber auch Individuen unter besondere Pflichten zu stellen (z. B. Eltern, ihre Kinder eine bestimmte Schule besuchen und eine bestimmte Sprache erlernen zu lassen).71 Dadurch wird prima facie sowohl das Prinzip der Gleichbehandlung aller Bürger wie das autonomer Individualrechte, z. B. Elternrechte, verletzt. Die Spannung kann nach Taylor nur durch Abwägungen zwischen der »Wichtigkeit bestimmter Formen von Gleichbehandlung«, vor allem der Garantie individueller Abwehrrechte, und der »Wichtigkeit des Überlebens einer Kultur« gelöst werden (56). Dazu sind in einem modernen Rechtsstaat, der »von der gerichtlichen Überprüfung der Gesetzgebung« (ebd.) geprägt ist, geeignete Institutionen geschaffen worden. Voraussetzung ist allerdings, daß das Zusammenspiel oder zumindest das faire Nebeneinander von verschiedenen Kulturen in liberalen Demokratien als intrinsischer Wert begriffen wird.72 Um in der Abwägung zwischen Individualrechten, Förderung des »Gedeihens« verschiedener kultureller Gruppen und ihrer wechselseitigen Bereicherung konkretere Maßstäbe zu haben, ist eine neue Konzeption von Stufen der Anerkennung nötig. Auch in diesem Fall geht es zugleich um Rekonstruktion und normative Beurteilung einer pluralistischen »Anerkennungskultur«, aber noch unterhalb der Kritik nicht eingelöster Anerkennungsversprechen. Man kann die Stufen, die teils rechtlich erzwungen, teils gefördert werden und Wertschätzung verdienen, grob unterscheiden in Gewaltverzicht, Nicht-Diskriminierung, Toleranz, Solidarität und Freundschaft.73 Die unterste Stufe ist der Verzicht auf physische und psychische Gewalt bis in subtile Formen der Unterdrückung, des Mobbing etc. Dieser wechselseitige Respekt vor der Integrität ist zumindest teilweise rechtlich erzwingbar, aber zu stabilisieren nur durch Formen der Erziehung und Einübung zivilen Umgangs in allen Lebensbereichen. Gewaltverzicht ist auch die erste Form von Toleranz, als Zulassen der Anderen in einem Bereich, in dem man durch Gewohnheit und Tradition eine Art »Heimrecht« zu haben glaubt. Diese passive Toleranz wurde aber schon von Goethe und Kant als unzureichend kritisiert.74 Sie stellt eine bloß hinnehmende oder sogar herablassende »Duldung« dar, ohne vorbehaltlos Ansprüche auf Gleichheit zu respektieren.75 Etwas weiter in Richtung der Anerkennung einer grundsätzlichen Gleichheit der Rechte und wesentlicher nicht-rechtsförmiger Ansprüche geht die Nicht-Diskriminierung. Sie betrifft nicht nur das Vorenthalten verbriefter Rechte, sondern auch den Ausschluß aus Gruppen und damit die Verweigerung eines achtungsverbürgenden sozialen Status. Besondere Werte- und Traditionsgemeinschaften – von Kirchen bis Clubs – können zwar eigene Regeln und Werte zur Eintrittsbedingung machen. Zu den historischen Anerkennungsfortschritten gehört aber die Erweiterung der Inklusion in soziale Systeme und Lebensformen, die auch durch Gruppenkämpfe erreicht werden kann (Honneth 1992). Die sozialen Systeme, die Arten der Auseinandersetzungen und die inneren Ordnungen der beteiligten Gruppen müssen aber mit den Grundrechten übereinstimmen. Die besonderen Zugangsbedingungen für private Gruppen dürfen auch nicht dazu führen, daß sozusagen universal Nicht-Zugelassene zu isolierten Außenseitern oder »Underdogs« werden. Umgekehrt darf die frei gewählte Distanz zu herrschenden Lebensformen nicht unter Berufung auf die Anerkennung als Mitglied einer bestimmten Normgemeinschaft diskriminiert werden – solange sie auch die »Andersheit« ungezwungener Konformität respektiert.76 Bis hierher ging es im Wesentlichen um Formen der Anerkennung durch Unterlassung. Was Hegel mit Selbstüberschreitung, Sich-finden im Anderen, positive Anerkennung und Freigabe des Andersseins thematisiert hat, ist noch nicht in den Blick gekommen. Allerdings gehört schon zur Rechtsgemeinschaft nicht nur die gegenseitige Abgrenzung und Respektierung von Verfügungsgewalt. Impliziert ist, schon bei Hegel, ein positives Bewußtsein als gleiches Mitglied einer Gemeinschaft, die Selbstachtung und Persönlichkeitsentfaltung eines jeden schützt und fördert. Auch ohne Hegels starken Institutionen- und Vereinigungsbegriff kann man in der Rechtsgemeinschaft schon von einer basalen Solidarität oder »Bürgerfreundschaft« sprechen. Für die aktiven Stufen der Anerkennung sind aber stärkere Formen der Überschreitung eigener Grenzen und der Zuwendung zum anderen nötig. Voraussetzung ist ein anteilnehmendes Interesse an Bereicherung durch den Fremden, der durch Zugehörigkeit zu anderen sozialen Schichten, Religionen oder kulturellen Traditionen geprägt ist – nicht nur einer einzigen (vgl. Anm. 71). Darüber hinaus muß anerkannt sein, daß bei der gemeinsamen Norm- und Entscheidungsfindung, von der Kommune bis zum Staat, die Vorschläge jeder Gruppe gleichwertig sind – der andere also auch jeder Zeit die bessere Einsicht haben kann. Interesse und Engagement für die Lösung gemeinsamer Aufgaben ist vermutlich die höchste Stufe der Anerkennung, die in Massengesellschaften noch von allen erwartet, wenn auch nicht mehr verpflichtend eingefordert werden kann. Das Bewußtsein für solche Aufgaben artikulieren heute auch die Massenmedien: Sie konfrontieren täglich mit Problemen und skandalösen Zuständen, die dringend einer Lösung oder Verbesserung bedürfen. Grundsätzlich ist dafür jeder zuständig. Führt dies über Empörung und Solidarisierung mit den Betroffenen zu gemeinsamer Tätigkeit im Rahmen des kollektiven normativen Selbstbildes, ist die höchste Form von Anerkennung und Vereinigung erreicht, die man in einem modernen pluralistischen Staat erwarten kann. Darüber hinausgehende Freundschaften sind von persönlicher Sympathie und Passung abhängig, also »supererogatorisch«. Die Anerkennungsstufen des Respekts vor der Integrität des anderen, Nicht-Diskriminierung und Toleranz schulden alle Menschen einander, sie sind rechtlich erzwingbar und können auch von Gruppenansprüchen nicht überwogen werden. Auch auf ein gewisses Maß an Solidarität haben alle Menschen Anspruch, nicht nur auf Nothilfe, sondern auch auf sozialstaatliche Leistungen. Die höheren Stufen der Anerkennung können – in unterschiedlichen Graden – legitimerweise erwartet werden und sind letztlich für die Stabilität des pluralistischen Rechtsstaates auch erforderlich. Aber sie sind nicht im strikten Sinne rechtlich erzwingbar – jedenfalls solange Vernachlässigung nicht zu...