E-Book, Deutsch, 174 Seiten
Simons / In-Albon / Christiansen Zwangsstörungen im Kindes- und Jugendalter
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-17-038422-4
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 174 Seiten
ISBN: 978-3-17-038422-4
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zwangsstörungen belasten Kinder und Jugendliche in vielfältiger Weise. Die Betroffenen werden beispielsweise von erschöpfenden und allgegenwärtigen Kontaminationsbefürchtungen, Zweifeln oder "unmoralischen" Gedanken geplagt, die sie versuchen, mittels zeitraubender Zwangsrituale in Schach zu halten. Ein normaler Alltag ist damit für viele der Betroffenen nicht mehr möglich und auch die Familien und das weitere soziale Umfeld stehen vor einer Vielzahl von Herausforderungen und Problemen, die es in der Psychotherapie zu bewältigen und lösen gilt.
Dieses Buch beschreibt verschiedene Erklärungsmodelle, diagnostische Methoden und insbesondere evidenzbasierte Behandlungsmodule sowie Strategien, diese in der Praxis umzusetzen. Ein Hauptaugenmerk wird dabei auf die Kognitive Verhaltenstherapie und das metakognitive Modell nach Wells gelegt. Damit, ergänzt um viele anschauliche Fallbeispiele, liegt ein fachlich fundierter und praxisorientierter Band zu Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen vor.
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2 Epidemiologie, Verlauf und Folgen
Der 16-jährige Boris litt unter einem sehr schweren Waschzwang, der ihn dazu brachte, sich abends gegen 19 Uhr in die Badewanne zu setzen, in der er die ganze Nacht blieb. Immer wieder döste er dabei ein und ließ, wenn er aufwachte, warmes Wasser einlaufen. Als ihm die Duschseife ausging, verwendete er zur Reinigung scharfe Haushaltsreiniger und verätzte sich damit die Schleimhäute. Am Morgen zogen ihn die Eltern aus der Wanne, und er legte sich bis zum Nachmittag hin zum Schlafen. Sowohl Boris als auch die Eltern zeigten sich erheblich belastet. Boris war nicht mehr in der Lage, in die Schule zu gehen und soziale Kontakte zu pflegen. Lernziele · Sie wissen, wie häufig Zwangsstörungen im Kindes- und Jugendalter auftreten. · Sie wissen, welchen Verlauf unbehandelte und behandelte Zwangsstörungen nehmen. · Sie wissen, welche Einschränkungen Kinder und Jugendliche mit Zwangsstörungen erleben. · Sie kennen realistische und unrealistische Erwartungen hinsichtlich des Störungsverlaufs unter psychotherapeutischer Behandlung. 2.1 Prävalenz in verschiedenen Altersstufen und Geschlechterverteilung
Galten Zwangsstörungen bei Kindern und Jugendlichen vor dreißig Jahren noch als selten, zählen sie heutzutage zu den häufigeren psychischen Störungen. Aktuell nimmt man Prävalenzraten von 1–3 % und eine nicht geringe Dunkelziffer an (Stewart et al., 2004; James, Farrell & Zimmer-Gembeck, 2017). Der British Child Mental Health Survey an mehr als 10.000 Kindern und Jugendlichen im Alter von fünf bis 15 Jahren ermittelte eine Punktprävalenz von 0,25 % (Heyman et al, 2001; 2003). Die Inzidenz stieg exponentiell mit dem Lebensalter von 0,026 % bei den Fünf- bis Siebenjährigen auf 0,63 % bei Jugendlichen ab 13 Jahren an. Die Geschlechterverteilung der Stichprobe war ausgeglichen. 90 % der untersuchten Kinder und Jugendlichen waren undiagnostiziert und unbehandelt. In einer Übersichtsstudie über elf Studien hinweg wurde das durchschnittliche Alter bei Störungsbeginn mit 10,3 Jahren (Range 7,5 bis 12,5 Jahre) ermittelt (Geller et al., 1998) mit einer Knabenwendigkeit von 3:2. Diese bezieht sich auf das Kindesalter, während sich im Jugend- und Erwachsenenalter ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis zeigt (Adam, Meinlschmidt, Gloster & Lieb, 2012). Das bedeutet, dass sich bei Jungen ein früherer Erkrankungsbeginn zeigt. 2.2 Verlauf
Unbehandelte Zwangsstörungen verlaufen häufig chronisch und immer wieder auch mit schwankendem Verlauf. In einer Metaanalyse auf der Basis von 16 Studien (N = 521) über den Langzeitverlauf von Zwangsstörungen mit Beginn in Kindheit und Jugend zeigte sich, dass die Persistenzrate mit 60 % (d. h. Remissionsrate 40 %) geringer war als vorher angenommen (Stewart et al., 2004). Der Katamnesezeitraum betrug ein bis 15,5 Jahre. In einer Katamneseuntersuchung an 142 Kindern und Jugendlichen, durchschnittlich 5,1 Jahre (Range ein bis elf Jahre) nach der Behandlung, befanden sich 60 % der Untersuchten in Remission (Micali et al., 2010). Zwei Drittel zeigten sich viel oder sehr viel verbessert, 50 % befanden sich weiterhin in Behandlung, davon 42 % in Pharmakotherapie, 25 % in Psychotherapie. In der Dreijahreskatamnese der skandinavischen Nordic Long-term OCD Treatment Study (NordLOTS; N = 269) fand sich eine Remissionsrate von 73 % (Melin et al., 2019). In einer weiteren Katamnesestudie mit deutlich kleinerer Stichprobe (N = 33), sieben bis neun Jahre nach einer randomisierten kontrollierten Studie (RCT), in der die Wirkung von Sertralin und Kognitiver Verhaltenstherapie (KVT) im Gruppenformat getestet wurden, zeigten sich ähnliche Ergebnisse: Knapp 40 % hatten weiterhin eine Zwangsdiagnose, gut 30 % hatten eine andere Diagnose und 30 % hatten keine Diagnose (Fatori, Polanczyk, de Morais & Asbahr, 2020). Eine weitere Untersuchung zeigte, dass nur wenige der betroffenen Kinder und Jugendlichen im Verlauf den Inhalt ihrer Zwänge wechseln, d. h. es ist eher die Ausnahme, beispielsweise von einem Wasch- zu einem Kontrollzwang zu wechseln (Fernández de la Cruz et al., 2013). 2.3 Prognose
Immer wieder zeigen sich betroffene Jugendliche und Familien skeptisch gegenüber einer Behandlung, weil sie im Internet gelesen haben, dass eine Zwangsstörung chronisch verläuft und nie ganz weg geht. Die o. g. Studien zeichnen mit einer Remission von bis zu 73 % ein wesentlich optimistischeres Bild. In diesen Studien erwies sich als wichtigster Prädiktor für einen ungünstigen Verlauf die Dauer der Störung vor der Behandlung. Es ist daher wichtig, Eltern (und Therapeut*innen) darauf hinzuweisen, dass eine frühe Erkennung und Behandlung für den Verlauf sehr wichtig sind, wie es 2019 auch in einem internationalen Experten-Consensus-Statement festgehalten wurde (Fineberg et al., 2019). Darüber hinaus ist es wichtig zu wissen, dass auch Patient*innen mit intermittierend rezidivierenden Verläufen gut behandelt werden können. Weitere Prädiktoren für einen schlechteren Verlauf sind komorbide depressive Störungen, Tic-Störungen und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (Übersicht in James et al., 2017). Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die Prognose gemischt ist. In den meisten Studien zeigten ca. 60 % der Behandelten im Langzeitverlauf eine vollständige oder teilweise Remission, ca. 40 % einen chronischen Verlauf. Die NordLOTS-Studie zeigte einen günstigeren Verlauf. Angesichts psychotherapeutischer und pharmakologischer Innovationen in den letzten Jahren, die noch nicht in bisherigen Katamnesestudien berücksichtigt wurden, besteht Grund zur Hoffnung, die Prognose von Patient*innen mit Zwangsstörungen zukünftig noch weiter zu verbessern. Darüber hinaus sind Therapeut*innen gefordert, die Behandlung von Patient*innen mit Zwangsstörung weiter zu optimieren. 2.4 Soziale und familiäre Folgen
Die Zwangsstörung gehört zu den zehn Störungen, die nach der Weltgesundheitsorganisation am häufigsten zu einer allgemeinen Arbeitsunfähigkeit führen (WHO, 2005). Zwangsstörungen sind assoziiert mit einer erheblich reduzierten Lebensqualität (Storch et al., 2018). In schwerer Form kann sie bei Erwachsenen mit einem Grad der Behinderung von 50 bis 70 einhergehen (www.dav-sozialrecht.de). Es wird angenommen, dass bei etwa 20 % der Betroffenen die Zwangssymptomatik bereits vor dem zehnten Lebensjahr besteht (Kessler et al., 2005). Zwänge treten primär im familiären Kontext auf, können jedoch auf andere Kontexte (Schule, Freundschaftsbeziehungen) generalisieren. Je mehr sie in verschiedene Kontexte generalisieren, desto größer ist die Belastung. Insbesondere schwer ausgeprägte Zwänge stellen für die betroffenen Kinder und Jugendlichen eine erhebliche Belastung dar, sodass sie häufig komorbid eine depressive Störung entwickeln. Die funktionellen Einschränkungen der Betroffenen gelten als erheblich, primär im häuslichen, darüber hinaus im schulischen und sozialen Rahmen (Valderhaug & Ivarsson, 2005). Die Ausführung der Zwangshandlungen kann sehr zeitaufwändig sein und mehrere Stunden des Tages in Anspruch nehmen. Nicht selten kommt es vor, dass die Betroffenen den schulischen Anforderungen nicht oder nur reduziert gewachsen sind, ihnen der Schulbesuch nicht mehr gelingt, und der schulische Erfolg beeinträchtigt wird. Auch die Pflege sozialer Kontakte fällt vielen Betroffenen schwer, sodass sie zu vereinsamen drohen. Zwangsstörungen können das familiäre Zusammenleben erheblich belasten. Die Belastung der Eltern korreliert mit der Schwere der Zwangssymptome des Kindes (Wu et al., 2018). Oft fühlen sich Eltern und Geschwister genötigt, Rücksicht auf das (Geschwister-)Kind mit einer Zwangsstörung zu nehmen und familiäre Routinen zu verändern. Dies kann beispielsweise schon morgens damit beginnen, dass das Kind mit Waschzwang über Stunden das Bad blockiert und die Eltern und Geschwister warten lässt. Kinder und Jugendliche mit belastenden Zwangsgedanken können ihre Familienangehörigen dazu bringen, bestimmte Wörter, Themen, TV-Sendungen etc. zu vermeiden, weil diese Auslöser für die Zwänge sind. In extremen Fällen dürfen (einzelne) Familienmitglieder die betroffenen Kinder oder Jugendlichen nicht mal mehr anschauen, sich ihnen nähern oder gar das Haus betreten. Wewetzer et al. (2003) fanden ein sehr hohes Aggressionspotential in betroffenen Familien. Knapp 60 % der Mütter und knapp 40 % der Väter waren verbalen Aggressionen wie massiven Beschimpfungen und Drohungen durch ihr Kind ausgesetzt. In Familien mit weiteren Kindern wurde in rund 45 % der Fälle von verbal-aggressiven Auseinandersetzungen mit den Geschwistern berichtet. 23 % der Mütter wurden darüber hinaus regelmäßig körperlich durch Schlagen, Treten und Beißen angegriffen....