Söllner / Wildt / Buchstein | ad Franz L. Neumann | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 159 Seiten

Söllner / Wildt / Buchstein ad Franz L. Neumann

Behemoth
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-86393-650-1
Verlag: CEP Europäische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Behemoth

E-Book, Deutsch, 159 Seiten

ISBN: 978-3-86393-650-1
Verlag: CEP Europäische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



"Da wir glauben, daß der Nationalsozialismus ein Unstaat ist oder sich dazu entwickelt, ein Chaos, eine Herrschaft der Gesetzlosigkeit und Anarchie, welche die Rechte wie die Würde des Menschen 'verschlungen' hat und dabei ist, die Welt durch die Obergewalt über riesige Landmassen in ein Chaos zu verwandeln, scheint uns dies der richtige Name für das nationalsozialistische System: Der BEHEMOTH".

Franz L. Neumann

Franz Neumanns "Behemoth" gilt heute als ein moderner Klassiker der Sozialwissenschaft. 1942, in der Entscheidungsphase des Zweiten Weltkrieges publiziert, war das Buch die erste Gesamtdarstellung Hitler-Deutschlands aus Emigranten-Feder. Die empirische Analyse der vier Säulen der NS-Gesellschaft (Monopolwirtschaft, Staatsbürokratie, NSPartei, Wehrmacht) und die kühne These von der chaotischen Struktur des nationalsozialistischen Herrschaftssystems, auf die der Name aus der jüdischen Mythologie verweist, sind eine Herausforderung für die historische NS-Forschung geblieben. Für die Einführung in ein Werk von diesen Dimensionen halten sich die Autoren des ad-Bandes an verschiedene Formate: Der Beitrag von Alfons Söllner ist biographisch orientiert und stellt Franz Neumann als exemplarischen Vertreter der politischen Emigration heraus; Michael Wildt stellt den "Behemoth" in den Kontext der internationalen NS- und Holocaust-Forschung und fragt u.a., weshalb die Neumann-Rezeption im Nachkriegsdeutschland so lange vernachlässigt wurde. Der Rezensionsessay von Hubertus Buchstein gibt weitere Hinweise auf die Entstehungsgeschichte des Buches und zeigt, dass es immer noch lebhafte Polemiken auszulösen vermag. Um den "anderen" Zugriff der angelsächsischen Debatte zu verdeutlichen, wird die Einführung zur englischen Neuausgabe von Peter Hayes nachgedruckt.

Franz L. Neumann (1900– 1954), als Student Teilnahme an der Novemberrevolution, danach Beitritt zur SPD, 1923 Dr. jur. in Frankfurt/M, 1925– 1927 Assistent von Hugo Sinzheimer an der Akademie fu¨r Arbeit, 1928–1933 Gewerkschaftsanwalt in Berlin und Syndikus der SPD, 1933 Flucht nach England, Dr. phil. an der London School of Economics, 1937–1942 Mitarbeiter am Institute of Social Research/ New York, 1942– 1946 Deutschlandexperte fu¨r die amerikanische Regierung, 1950–1954 Professor fu¨r Political Science an der Columbia University/New York.

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Michael Wildt Franz Neumann und die NS-Forschung
Wenn es einen Holocaust-Forscher gegeben hat, den Franz Neumann stark beeinflusst hat, dann war es Raul Hilberg. Hilbergs Familie war es noch vor Kriegsausbruch gelungen, 1939 aus Wien in die USA zu flüchten. Der Sohn ging in New York zur Schule, begann ein Studium am Brooklyn College in New York und wurde 1944 als Achtzehnjähriger zur Armee eingezogen und auf dem europäischen Kriegsschauplatz eingesetzt. Nach New York zurückgekehrt, setzte Hilberg sein Studium am Brooklyn College fort und besuchte die Seminare des deutschen Historikers Hans Rosenberg, der nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten emigrieren musste, zum Aufstieg des Nationalstaats und zur Entwicklung der Bürokratie in Europa vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. In Rosenbergs Vorlesungen, schrieb Hilberg in seinen Erinnerungen, „machte ich mir die Idee der Zuständigkeit bewußt, jenes Urgesteins der Rechtsordnung, das sowohl die Stütze als auch das Hauptinstrument der Bürokraten zu sein schien. Diese Inhaber selbst der kleinsten Machtstellung wirkten in ihrer Gesamtheit als eine unaufhaltsame Kraft.“1 Ein zweiter deutscher Emigrant prägte Raul Hilberg noch nachhaltiger: Franz Neumann. Dessen Buch Behemoth. The Structure and Practice of National Socialism, das erstmals 1942, dann 1944 in einer erweiterten Auflage erschienen war, habe er mehrmals von vorn bis hinten durchgelesen, bekannte Hilberg später. „In einem einzigen verblüffenden Aufriss legte er dar, wie sich die gesamte deutsche Gesellschaft unter dem Nationalsozialismus in vier festgefügte, zentralistisch organisierte Blöcke mit Führerprinzip und je eigener Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit untergliederte. Die vier Hierarchien – Staatsapparat, Armee, Industrie und Partei – konnten unabhängig voneinander arbeiten, ohne dass Gesetze ihre Kreise störten. […] Hier fand ich also ein Nazideutschland, das im Prinzip anarchisch war, ein organisiertes Chaos, jedoch mit der Freiheit, in völlig unerforschte Handlungsräume vorzustoßen.“2 Bei Neumann wollte Hilberg seine Doktorarbeit über die Vernichtung der europäischen Juden schreiben. Neumann stimmte zwar zu, warnte ihn jedoch vor der Gefahr, dass er mit einem solchen Thema seine akademische Karriere behindern würde. „It’s your funeral“, Neumann wörtlich.3 Auf Vermittlung Neumanns fand Hilberg eine Stelle am neu geschaffenen „War Documentation Project“, in dem die Millionen erbeuteten Naziakten daraufhin gesichtet werden sollten, was die Deutschen an Wissen über die Sowjetunion zusammengetragen hatten. Hilberg indessen nutzte die einmalige Archivsituation, um sein eigenes Projekt zu verwirklichen. Den theoretischen Rahmen bildeten Rosenbergs Bürokratieforschungen und Neumanns Analyse des NS-Regimes als einer totalisierenden, bürokratischen Struktur, die sich zugleich technischrational und zerstörerisch entwickelte – keine Herrschaft des Gesetzes mehr, sondern ein Un-Staat, ein Schreckensbild: „Behemoth“. Die Vernichtungsanstrengungen, resümierte Hilberg später in seinem Buch The Destruction of the European Jews, entwickelten sich auf mehreren Ebenen: „Auf einer ersten Ebene läßt sich die Formierung der Behörden zu einer Vernichtungsmaschinerie feststellen. Auf einer zweiten Ebene vollzog sich die Herausbildung der zur Durchführung der Vernichtungsaufgaben benötigten Verfahren. Eine dritte Ebene bildete die substantielle, Schritt für Schritt erfolgende Entfaltung des Vernichtungsprozesses. […] So unterschied sich die Vernichtungsmaschinerie nicht grundlegend vom deutschen Gesellschaftsgefüge insgesamt; der Unterschied war lediglich ein funktioneller. Die Vernichtungsmaschine war in der Tat nichts anderes als eine besondere Rolle der organisierten Gesellschaft.“4 Hilberg hatte viel Mühe, bis er einen Verlag für sein Buch und vor allem Geld für die Druckkosten gefunden hatte. Beides gelang schließlich. Alfred Morin, damals Leiter der University of Chicago Press, war bereit, das Buch zu drucken, und neben eigenen Ersparnissen, die Hilberg investierte, stiftete Frank C. Petschek, Mitglied einer tschechischen Industriellenfamilie, über deren Ausraubung und Verfolgung Hilberg in seiner Studie schrieb, den notwendigen Restbetrag, damit die 1.600 Manuskriptseiten endlich veröffentlicht werden konnten. 1961 erschien die erste Auflage – und stieß auf keine große Resonanz. Hilberg hatte vor allem Kritik an seiner zentralen These erwartet, der zufolge die Täter der Vernichtung denkende Bürokraten waren, die ihre administrative Kompetenz eingesetzt hatten, um die Ermordung möglich zu machen, und sie schon vor 1933 in ihren Positionen gesessen hatten und auch nach 1945, ohne ihren Dienst zu quittieren, unbewegt ihrer Verwaltungstätigkeit nachgingen. Stattdessen errang ein ganz anderes Buch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit: Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem, dessen Untertitel zu einem deutungsmächtigen Topos werden sollte: A Report on the Banality of Evil.5 Blieb in der ersten Auflage, die 1963 erschien, der immense Bezug auf Hilbergs Studie noch vage, legte Hannah Arendt im Vorwort zur deutschen Übersetzung 1964 ihre Quelle offen: „Ich habe durchgängig ‚Die Endlösung‘ von Reitlinger herangezogen, vor allem aber mich auf das Werk von Raul Hilberg ‚The Destruction of European Jews‘, die ausführlichste und auch fundierteste quellenmäßige Darstellung der Judenpolitik des Dritten Reichs, verlassen.“6 Franz Neumann blieb in Hannah Arendts Buch außen vor. Nürnberger Prozesse
Gerald Reitlingers Studie The Final Solution. The Attempt to Exterminate the Jews of Europe 1939–1945, die 1953 zuerst auf Englisch, 1956 dann in deutscher Übersetzung erschien, war in der Tat für das erste Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich. Reitlinger, seines Zeichens Kunsthistoriker, hatte sich nach 1945 mit dem Mord an den europäischen Juden beschäftigt und vor allem auf der Grundlage der zahlreichen Dokumente der Nürnberger Prozesse eine erste zusammenfassende Darstellung des Holocaust geschrieben. Neumann findet erstaunlicherweise keine Beachtung, obwohl er doch die Konzeption der Anklage, vor allem von amerikanischer Seite, in den Nürnberger Prozessen ganz entscheidend beeinflusst hat – vielleicht neben Hilberg die wichtigste Rezeption von Neumanns Analysen überhaupt. Für die weit verzweigte Szene von Geheimdiensten, US-amerikanischen think tanks und der Roosevelt-Administration bildete Neumanns Buch die grundlegende Analyse des feindlichen NS-Deutschlands. Er kam in seiner Untersuchung des NS-Regimes zu dem Schluss, dass der deutsche Staat in vier eigenständige agierende, wenngleich auch funktional miteinander verflochtene Machtblöcke zerfallen sei: die Ministerialbürokratie, der Parteiapparat der NSDAP, die Wehrmacht und die Industrie. „Unter dem Nationalsozialismus hingegen ist die gesamte Gesellschaft in vier fest gefügten zentralisierten Gruppen organisiert, von denen jede nach dem Führerprinzip operiert und ihre eigene legislative, administrative und judikative Gewalt besitzt.“7 Zusammen mit Herbert Marcuse und Otto Kirchheimer war Neumann selbst für das Office of Strategic Services (OSS) tätig, das mit über tausend Angestellten zwischen 1943 und 1945 faktisch die größte amerikanische Forschungseinrichtung war, und avancierte dort zur leitenden Figur des Research and Analysis Branch.8 Zahlreiche Analysen, die Neumann für das OSS anfertigte, flossen in die Ausarbeitung der zweiten Auflage 1944 ein. Neumanns Analyse der NS-Regimes folgten die US-amerikanischen Anklagevertreter insbesondere bei der Konzipierung der zwölf Nürnberger Nachfolgeprozesse zwischen 1946 bis 1949, in denen die Beteiligung der deutschen Funktionseliten an den nationalsozialistischen Massenverbrechen verhandelt wurden.9 Neumann, der als führender Analyst für die ökonomische Dimension der NS-Herrschaft vorgesehen war,10 koordinierte eine Serie von Studien für die Ermittler und schrieb unter anderem mehrere Dossiers zu deutschen Industrieführern wie beispielsweise zu Gustav Krupp zu Bohlen und Halbach.11 Etliche der Untersuchungen, die Neumann für das OSS verfasste, dessen Analysen seit dem Frühjahr 1945 den amerikanischen Ermittlern für die geplanten Kriegsverbrecherprozesse zur Verfügung standen,12 waren vom amerikanischen Ankläger Jackson in Auftrag gegeben worden. Jackson selbst unterstrich, dass Neumanns Expertise unverzichtbar für die Ankläger sei.13 Bis heute gilt die Ordnung der Nürnberger Beweisdokumente entsprechend Neumanns Modell nach: NG für NS Government, NO für NS Organization, NOKW für NS Oberkommando Wehrmacht und NI für NS Industry. Insbesondere Neumann Analyse einer „totalitären Monopolwirtschaft“ hatte großen Einfluss auf die Anklage in den Nürnberger...


Alfons Söllner, geb. 1947, ist Professor für politische Theorie und Ideengeschichte und lehrte bis 2012 an der Technischen Universität Chemnitz. In der Europäischen Verlagsanstalt erschienen: Political Scholar (2018), ad Hannah Arendt (2021) und Das Jahrhundert der Flüchtlinge (2022).

Michael Wildt, geb. 1954, ist Professor für deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt im Nationalsozialismus und lehrte bis 2022 an der Humboldt-Universität zu Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Ambivalenz des Volkes. Der Nationalsozialismus als Gesellschaftsgeschichte (2019); Zerborstene Zeit. Deutsche Geschichte 1918 bis 1945 (2022).

Hubertus Buchstein, geb. 1959, ist seit 1998 Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Greifswald. Veröffentlichungen u. a.: Demokratie und Lotterie. Das Los als politisches Entscheidungsinstrument von der Antike bis zur EU (2009); Enduring Enmity. The Story of Otto Kirchheimer and Carl Schmitt (2023).

Peter Hayes, geb. 1946, ist US-amerikanischer Historiker, Professor für Neuere Europäische Geschichte und war bis 2016 Inhaber des Theodore-Zev-Weiss-Lehrstuhls für Holocaust-Studien an der Northwestern University Evanston/Chicago (USA). Veröffentlichungen u. a.: (mit E. Conze, N. Frei, M. Zimmermann) Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik (2010); Warum? Eine Geschichte des Holocaust (2017).



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