Sommer | Eine Demokratie für das 21. Jahrhundert | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Sommer Eine Demokratie für das 21. Jahrhundert

Warum die Volksvertretung überholt ist und die Zukunft der direkten Demokratie gehört
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-451-82718-1
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Warum die Volksvertretung überholt ist und die Zukunft der direkten Demokratie gehört

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-451-82718-1
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Viele Bürger, besonders die jüngeren, aber auch einige Wähler der extremen Parteien, fühlen sich in unserem Parteiensystem nicht mehr repräsentiert. Auf die Frage, bei wem die Nachbarin bei der letzten Bundestagswahl ihr Kreuzchen gemacht hat, nur Schulterzucken und Resignation. Dabei ist die Vertretung von vielen durch einen Einzelnen bei unseren Möglichkeiten gar nicht mehr notwendig. Per Mausklick oder Wischen können Meinungen in Sekundenschnelle statistisch erhoben werden. Wir müssen endlich lernen, politisch mitzuentscheiden. Die Idee ist keine politische Verschwörung, sondern direkte Demokratie »made in Switzerland«.

Andreas Urs Sommer zeigt in diesem Buch, dass es niemand nötig hat, nur repräsentiert zu werden. Er appelliert an alle: Wir müssen für uns selbst stehen und politisch mitentscheidend mündig werden!

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Aufriss
Der Erzählerschlendrian hat im Roman keinen Platz;
man erzählt nicht, sondern baut. Alfred Döblin: An Romanautoren und ihre Kritiker.
Berliner Programm (1913)   Krise überall, schon längst vor Corona. Jedenfalls, wenn man dem Glauben schenken will, was traditionelle Medien von rechts bis links ihren verschreckten Nutzerinnen und Nutzern ebenso unentwegt einhämmern wie die neuen sozialmedialen Akteure, die „Influencer“ und „Blogger“. Seltene Einigkeit herrscht darüber, dass die Krise da sei, dass sie dränge, ja, dass es eigentlich bereits viel zu spät sei, um noch etwas dagegen auszurichten. Weitgehende Uneinigkeit zeigt sich hingegen bei der Bestimmung dessen, was die Krise ausmacht. Da gibt es beispielsweise sehr prominent jene, die sagen, die Krise sei ökologischer Art, es drohten Erderhitzung und Klimakollaps. Fast ebenso lautstark sind die, die die Krise als soziale identifizieren: Grund allen Übels sei die ungleiche Verteilung von Kapital, Ressourcen und Arbeit. Kaum verhaltener klingen die Stimmen jener, die die Krise in einem noch immer patriarchalisch dominierten Geschlechterverhältnis und dem Mangel an Frauengleichberechtigung begründet sehen, oder derjenigen, die die Krise in rassistischer Diskriminierung verwurzelt wähnen. Sehr schrill lassen sich schließlich diejenigen vernehmen, die zu wissen vorgeben, die Krise gründe einzig darin, dass unabsehbar viele Fremde zu uns kämen, auf nichts weiter sinnend, als das „Wesen unseres Volkes“ zu untergraben. Mitunter schwingt sich das allgemeine Krisenbewusstsein zu höheren synthetischen Einsichten auf und versucht, mehrere als höchst kritisch empfundene Zeitphänomene zu bündeln und sie als Symptome eines um sich greifenden, allgemeinen Kulturverfalls auszugeben, der falsche Eindeutigkeit her-, alles weg-, ver- und zustelle.[1] Die Krise ist im gehobenen, von allerlei Nichtigkeitsängsten heimgesuchten Bildungsbürgertum angekommen. Dieser Kulturnegativismus segelt unter der Flagge „Alles ist Krise“ und fühlt sich im eisigen Gegenwind des angeblich anstehenden Untergangs offensichtlich pudelwohl.[2] Bekommt der Kulturnegativismus mit der Coronapandemie nicht schmerzlich recht: Geht nicht alles vor die Hunde, wenn nicht ein starker Arm einer starken Frau oder eines starken Mannes das Ruder noch im letzten Augenblick herumreißt und uns eine letzte Frist vor dem endgültigen Schiffbruch vergönnt?[3] Ich muss die Untergangseuphoriker enttäuschen. Sowenig die Probleme des sozialen Unrechts oder des ökologischen Ungleichgewichts zu leugnen sind, dringt, wer sie zur Hauptsache erklärt, noch nicht zum Kern des gegenwärtigen Krisenempfindens vor. Will man es in der Sprache des Kulturnegativismus beschreiben, würde man sagen, es handle sich im Kern um eine Krise der Ohnmacht. Weil ich keinerlei kulturnegativistische Neigung verspüre, ziehe ich es vor, von einer Krise der Nichtbeteiligung zu sprechen. Diese Wortwahl scheint mir analytisch fruchtbarer als das lähmende Vokabular der Ohnmacht. Was wir beobachten, ist eine seit mehreren Jahrhunderten anhaltende Herausbildung des selbstmächtigen Individuums, dessen Weltmacht, sprich: politisches Einflussvermögen, damit nicht Schritt gehalten hat. Dieses Buch will etwas zeigen. Es wird nicht leugnen, dass all die genannten Probleme von Ökologie bis Migration, von Ausbeutung bis Unterdrückung gravierend sind und der Abhilfe bedürfen. Aber sie sind, zur Abwechslung einmal mit nüchternem Blick betrachtet, nicht Haupt-, sondern Nebensachen, wenn es darum geht, den Kern des politischen Krisenbewusstseins in der Jetztzeitkultur zu bestimmen. Dieses Buch will zeigen, dass im Kern dieses politischen Krisenbewusstseins eben eine Krise der Nichtbeteiligung liegt. Es handelt sich um eine hochgradig paradoxe Krise, denn Modernisierung bedeutet wesentlich Möglichkeitszugewinn. Die Jetztzeitkultur unterscheidet sich von anderen Kulturen dadurch, dass möglichst vielen Menschen möglichst viele Möglichkeiten eingeräumt werden. Zugleich aber bleibt den meisten eine wesentliche Möglichkeit verwehrt – nämlich die, ihre politische Welt selbst zu gestalten, alle politischen Entscheidungen selbst zu treffen, die für ihr Leben relevant sind. Daran hindern sie kein böser Wille, keine Verschwörung, keine mediale Verblendungsmatrix, keine heimtückischen Kapitalisten oder bevormundenden Öko-Linken, geschweige denn ein finsteres diktatorisches Regime. Was uns alle hindert, die politischen Entscheidungen selbst zu treffen, die für unser Leben relevant sind, ist eine urtümliche Strukturierung des politischen Feldes, die der Emanzipation des Menschen, seiner Selbstermündigung nicht länger angemessen ist. Das Zauberwort dieser urtümlichen Strukturierung des politischen Feldes heißt Repräsentation. Repräsentation bedeutet, dass andere für mich stehen. Andere, wird man einwenden, die ich immerhin in regelmäßigen, freien und geheimen Wahlen gewählt habe – sofern ich mich nicht sogar selbst zur Wahl habe aufstellen lassen. Andere, so erwidere ich, die ein freies Mandat haben, nicht an meine Wünsche, Präferenzen und Interessen gebunden sind und ein paar Jahre lang für mich, für all ihre Wähler und im Namen des gesamten Volkes Sachentscheidungen treffen werden, in die dieses gesamte Volk ansonsten nicht eingebunden ist. Die uns und mich unmittelbar betreffen, ohne dass ich an ihnen teilgehabt hätte. Das allgegenwärtige politische Unbehagen gründet nicht darin, dass der Parlamentarismus schlechter funktionieren würde als früher (er tut es nicht), auch nicht darin, dass die Welt schlechter geworden wäre (sie ist es nicht), oder darin, dass Ungleichheit und Ungerechtigkeit zugenommen hätten (sie haben es nicht). Vielmehr ist es die zwangsläufige Folge einer Entwicklung, die Neuzeitlichkeit und Moderne überhaupt ausmacht, nämlich es dem Individuum zu erlauben, sich immer stärker aus einer Vielfalt von Möglichkeiten zu dem zu formen, was es sein will. Man kann dies Individualisierung nennen oder Eröffnung eines riesigen Möglichkeitsraumes. Menschen werden immer unterschiedlicher. Diese Entwicklung ist aber nicht begleitet gewesen von der Erweiterung der individuell-politischen Weltmächtigkeit, der individuell-politischen Lebensweltmächtigkeit – also der Fähigkeit, die äußere Wirklichkeit zu gestalten. Daraus entsteht ein widersprüchlicher Gefühlszustand in der Selbst- und Weltwahrnehmung. Sie lässt uns das Nichtbeteiligtwerden als Krise empfinden. Wir dürfen zwar wählen, welchen Beruf wir ergreifen oder mit wem wir unser Leben verbringen wollen, aber wir dürfen nicht mitbestimmen, wie die Welt politisch gestaltet ist, in der wir dieses Leben führen. Wir dürfen allenfalls jemanden benennen, der für uns diese Welt politisch gestaltet. Das ist dem Stand der Selbstaufklärung des Menschen nicht angemessen. Und dennoch hängt die politische Philosophie mit erstaunlicher Beharrlichkeit am vormodernen Konzept der Repräsentation. Offenbar fühlt sie sich im 18. Jahrhundert, als jene politischen Theorien erdacht wurden, auf die sie sich noch immer leidenschaftlich beruft – von John Locke bis Immanuel Kant, von Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède de Montesquieu bis Jean-Jacques Rousseau –, wohl, sicher und heimisch. Der Republikanismus und der Repräsentativismus gelten als heiliges Mantra der politisch-philosophischen Selbstbeweihräucherung. Vor diesem Hintergrund wurde demokratische Politik entweder so gedacht, dass es den Willen eines Volksganzen, eine volonté générale gebe, die sich in Mehrheitsbeschlüssen auf mehr oder weniger mystische Weise kundtun soll. Oder aber, dass die Menschen eines Gemeinwesens in diverse Gruppen zerfallen, die der Repräsentanten bedürfen, um ihre Anliegen durchzusetzen. Beiden Ansätzen gemeinsam ist, dass sie die aufklärerische Freistellung des Individuums prinzipiell zurückdrängen. Wer hingegen das aufgeklärte oder sich zumindest aufklärende Individuum ernst und beim Wort nimmt, wer dem Menschen etwas zutraut, dem listigen, interessanten und wendigen Tier, muss diesen Menschen auch in seinem Entscheidungsvermögen und in seiner Weltwirksamkeit freisetzen – muss ihm die Möglichkeit einräumen, sich unentwegt in politischer Entscheidung zu üben. Dieses Buch wird etwas zeigen. Es wird zeigen, dass im politischen Feld niemand uns nötigt, andere für uns stehen zu lassen. Dass wir auch und gerade im Politischen sehr wohl für uns selbst stehen können – ja stehen müssen, um im Übrigen auch jener Würde des Menschen, die Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes festschreibt, gerecht zu werden. Aufklärung bedeutet wesentlich, dass es keine Stellvertretung mehr gibt – oder sie immer nur situativ und vorläufig sein soll. Politische Repräsentation, wie sie in der westlichen Welt praktiziert wird, verletzt dieses Gebot der Vorläufigkeit und Situativität. Bei Lebensentscheidungen – und politische Entscheidungen sind Lebensentscheidungen – ist bei Mündigen Stellvertretung fehl am Platz. Das griechische Wort krisis, auf das die Rede von der Krise zurückgeht, bedeutet Scheidung, Unterscheidung, Streit, dann aber auch Urteil und Entscheidung, die einen Konflikt beenden. Die Krise besteht nicht darin, dass wir unserer Mitbestimmung müde geworden wären, sondern darin, dass wir zur Mitbestimmung noch nicht wirklich die Möglichkeit haben – noch nicht die Möglichkeit haben, gemeinsam mit unseresgleichen zu...


Andreas Urs Sommer, geb. 1972, stammt aus der Schweiz und ist Professor für Philosophie mit Schwerpunkt Kulturphilosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg sowie Leiter der Forschungsstelle Nietzsche-Kommentar der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.



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