E-Book, Deutsch, 217 Seiten
Spars / Hauser / Schultz Wohnungsfrage 3.0
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-17-040178-5
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 217 Seiten
ISBN: 978-3-17-040178-5
Verlag: Kohlhammer
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Wohnungsfrage 3.0? Zur Einführung
Guido Spars »Und immer wieder grüßt … die Wohnungskrise«: Ein Blick in den Rückspiegel der deutschen Geschichte offenbart so manche krisenhafte Zuspitzung einer mangelnden Wohnraumversorgung. Vor allem die Wohnungsfrage zu Beginn der Industrialisierung – also die Wohnungsfrage 1.0, wenn man so will – hat in der Literatur ihre Spuren hinterlassen. Der Titel »Zur Wohnungsfrage« stammt dann auch von Friedrich Engels, der sich 1872 in einer Reihe von Artikeln in der Zeitung »Der Volksstaat« mit der Wohnungsfrage auseinandergesetzt und diese auch zu einer sozialen Frage gemacht hat. Hierbei ging es um die Folgen der massiven Migration in die Städte. Allein zwischen 1871 und 1910 – also in weniger als 40 Jahren – wuchs der Anteil der Stadtbevölkerung im Deutschen Reich von 36 % auf 60 % und der Anteil der Großstadtbevölkerung sogar von 4,8 % auf 21,3 %. »Was man heute unter Wohnungsnot versteht, ist die eigentümliche Verschärfung, die die schlechten Wohnungsverhältnisse der Arbeiter durch den plötzlichen Andrang der Bevölkerung nach den großen Städten erlitten haben; eine kolossale Steigerung der Mietpreise; eine noch verstärkte Zusammendrängung der Bewohner in den einzelnen Häusern, für einige die Unmöglichkeit, überhaupt ein Unterkommen zu finden.« (Friedrich Engels: Zur Wohnungsfrage) Im 19. Jahrhundert war die Wohnungsversorgung noch weitgehend liberal organisiert. Es gab kaum Eingriffe des Staates. Aufgrund des hohen Bevölkerungswachstums in den Städten kam es zu einem Bauboom. Es entstanden viele Mietskasernen und Massenunterkünfte, daneben gab es überalterte, heruntergekommenen Stadtviertel auf der einen Seite, aber auch gutbürgerliche Viertel und Stadtpalais auf der anderen, also das, was als Segregation der Wohnbevölkerung bezeichnet wird. Rund 73 Jahre nach Engels tat sich dann die zweite große Wohnungsfrage in Deutschland auf (die Wohnungsfrage 2.0 sozusagen). Die Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges hat in deutschen – wie in vielen anderen europäischen – Städten viele Wunden geschlagen. Zerstört wurden ca. 30 % des Wohnungsbestandes in den Großstädten und ca.20 % in den Mittelstädten. 2,5 Mio. Wohnungen – von den insgesamt 16 Mio. Wohnungen in den vier Besatzungszonen – galten als völlig zerstört und 4 Mio. Wohnungen als beschädigt. Die Wohnungsnot und die Überbelegung von Wohnraum, die sich hieraus ergaben, waren immens und nur durch eine große Kraftanstrengung des Wiederaufbaus über 15 Jahre zu bewältigen. Rund 6 Mio. Wohnungen wurden bis 1960 neu geschaffen, davon 3,3 Mio. vom Bund mit öffentlichen Geldern gefördert (»Erstes Wohnungsbaugesetz«) und die anderen 2,7 Mio. ohne Förderung durch private Investoren. Damit war die kriegsbedingte Wohnungsnot beendet. Lassen Sie mich im Folgenden argumentieren, warum wir uns derzeit in Deutschland mit einer Wohnungsfrage 3.0 konfrontiert sehen und warum das Aufeinanderfolgen dreier Migrationswellen – Braun spricht in diesem Band von einem »Superzyklus« –, kombiniert mit einer zu langsam anspringenden Bauleistung und den zusätzlichen Herausforderungen aufgrund des Klimawandels, eine solche epochale Einschätzung rechtfertigen. In jüngerer Zeit ist die öffentliche Wahrnehmung für das Wohnen und seine Krise deutlich angestiegen und es hat sich – vor Corona – auch die gesellschaftspolitische Debatte zunehmend verschärft. Die damalige Justizministerin Barley titulierte in der Tagesschau vom 15.9.2018 das »Wohnen als die neue soziale Frage« und auch Innenminister Seehofer ist davon überzeugt, dass bezahlbarer Wohnraum »die soziale Frage unserer Zeit« ist (Homepage des BMI). Die wohnungspolitischen Akteure greifen neben derartigen Superlativen in der Sprache inzwischen auch auf neue Instrumente zurück, indem z. B. Mietpreisbremsen bzw. -deckel eingeführt werden. In Berlin sind – neben der Einführung des Mietendeckels – Initiativen entstanden, die eine Verstaatlichung von privaten Wohnungsunternehmen, z. B. der Deutsche Wohnen AG, fordern, und auch in anderen Großstädten kam es – zumindest vor Corona – zu wohnungspolitisch motivierten Protesten. Auch »Bündnis 90/Die Grünen« und »Die Linke« legen erneut Gesetzesentwürfe zur »Neuen Gemeinnützigkeit« beim Wohnen vor. Hintergrund der Verschärfung der Versorgungslage am Wohnungsmarkt in vielen deutschen Städten, vor allem in Groß- und Universitätsstädten, ist die spätestens seit der Finanzkrise 2008 zunehmende Attraktivität dieser Städte für die Zuwanderung aus dem In- und Ausland. Von 1995 bis 2011 gab es interessanterweise – wenn man nur die Großstädte (mehr als 100.000 Einwohner) betrachtet – sogar einen Bevölkerungsrückgang von 1 %, was einem Minus von 235.000 Einwohnern entspricht. Von 2011 bis 2017 jedoch stieg die Bevölkerung dann in diesen Großstädten wieder um 1,3 Mio. Einwohner an, was einer enormen Steigerung in diesen sechs Jahren entspricht. Es kamen zunächst mit der Finanzkrise die Zuwanderer aus Südeuropa, dann die Osteuropäer aufgrund der EU-Osterweiterung und schließlich ab 2015 die Geflüchteten. Parallel dazu gab es noch eine Binnenwanderung, die eher ausbildungs- und arbeitsplatzorientiert war. Dieser Anstieg betrifft zwar nicht nur Großstädte, diese entfalteten jedoch aufgrund der dort vorhandenen Hochschulen und anderen Bildungseinrichtungen sowie aufgrund des ausdifferenzierten Arbeitsplatzangebotes insbesondere auf junge Menschen eine große Anziehungskraft. Für diese Anziehungskraft der Städte wurde der Begriff der »Schwarmstädte« kreiert. Hierbei lässt sich allerdings zwischen sogenannten »echten« und »falschen« Schwarmstädten unterscheiden: Letztere ziehen im Wesentlichen nur die jungen Menschen aus dem regionalen Umfeld an, während Erstere mehrheitlich »Fernwanderungen« aus ganz anderen Regionen Deutschlands erreichen. Dieses dynamische Bevölkerungswachstum hat viele Städte in Deutschland vor große Versorgungsprobleme gestellt. Der Wohnungsneubau in Deutschland hatte sich bis 2009/2010 auf ein recht niedriges Niveau von etwas über 150.000 fertiggestellte Wohnungen pro Jahr vermindert. Im Vergleich dazu wurde im Jahr 2001 noch mehr als das Doppelte an Wohnungen fertiggestellt. Die Aufrufe von Fachleuten zu mehr Neubau wurden seit 2011 denn auch immer lauter und die Fertigstellungen haben sich im Verlauf der folgenden 8 Jahre stetig gesteigert: auf ein Niveau knapp unter 300.000 Wohnungen in 2019. Aber das Neubauvolumen – insbesondere in den angesprochenen Großstädten – hat bei weitem nicht ausgereicht, dem dynamischen Einwohnerwachstum gerecht zu werden, geschweige denn es einzuholen. In der Folge hat sich die Knappheit von Wohnraum an vielen Orten der Bundesrepublik über die letzten 10 Jahre weiter verschärft und der Verteilungskampf um Wohnraum hat deutlich zugenommen. Freilich gibt es auch in Deutschland Städte und Räume mit ausgeglichenem Wohnungsmarkt oder sogar schrumpfender Bevölkerung, das gehört wohl zu einem objektiven Gesamtbild dazu. Dennoch überwiegen in diesem Bild wohl die Verknappungstendenzen in vielen Städten unterschiedlichster Regionen aus allen Himmelsrichtungen des Bundesgebietes. Die wachsende Knappheit von Wohnungen führte zu stark steigenden Mieten und Kaufpreisen bei Wohnimmobilien in vielen deutschen Städten. Die Neuvertragsmieten haben sich in den letzten Jahren äußerst dynamisch entwickelt. Im Durchschnitt des Landes stieg der Index für Neuvertragsmieten seit 2004 um 23,7 % und im Jahr 2020 kam es zu einer Stagnation. Die Bestandsmieten sind seit 2004 um 13,7 % gestiegen und auch im Jahr 2020 um 1,3 %. Die Bundesdurchschnitte sind jedoch bei den Mietpreissteigerungen für die Ballungsgebiete weniger aussagekräftig, weil auch die Mietentwicklungen aus schrumpfenden und ländlichen Regionen einfließen und diese nach unten verzerren. Schaut man auf die Entwicklung der Angebotsmieten in bekannten Onlineportalen, so zeigt sich z. B. in München allein von 2011–2019 eine Mietpreissteigerung bei freigewordenen Wohnungen im Bestand von ca. 82 % und im Neubau um 60 %. Berlin liegt im Bestand bei ca. 90 % Mietsteigerung und im Neubau bei ca. 38 %. Auch in Köln stiegen die Mieten der Neubauwohnungen um den gleichen Wert, die Wohnungen im Bestand gemäß der Onlineinserate um ca. 57 %. In Frankfurt waren es ca. 46 % im Bestand und 40 % bei den inserierten Neubaumieten. In Hamburg und Düsseldorf liegen die Steigerungen der Mieten bei inserierten Bestandswohnungen im Vergleichszeitraum bei ca. 37 % und im...