Sperling | Der Aufbruch der Provinz | Buch | 978-3-593-39431-2 | sack.de

Buch, Deutsch, Band 59, 481 Seiten, Format (B × H): 141 mm x 214 mm, Gewicht: 599 g

Reihe: Campus Historische Studien

Sperling

Der Aufbruch der Provinz

Die Eisenbahn und die Neuordnung der Räume im Zarenreich
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-593-39431-2
Verlag: Campus

Die Eisenbahn und die Neuordnung der Räume im Zarenreich

Buch, Deutsch, Band 59, 481 Seiten, Format (B × H): 141 mm x 214 mm, Gewicht: 599 g

Reihe: Campus Historische Studien

ISBN: 978-3-593-39431-2
Verlag: Campus


In Russland, klagte Anton Tschechow, versande die Moderne in der Provinz. Dies änderte sich mit der Eisenbahn. Die Eliten an der Peripherie des Imperiums begriffen sie als Chance und verhandelten mit Regierung und Aktiengesellschaften, um die Moderne in die Provinz zu holen. Dabei entdeckten die Menschen die abgelegenen Gegenden, in denen sie lebten, als Regionen mit eigenen Interessen, eigener Geschichte und Zukunft. Mit alltagshistorischem Blick schildert Walter Sperling, wie selbst einfache Stadtbewohner und Bauern auf eigene Weise von der Situation zu profitieren suchten.
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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Inhalt

1. Handeln und Moderne: Wege, Räume, Orte. 9
Russland und Moderne: Wege der Forschung. 14
Moderne, Handeln, Raum: Begriffe und Bekenntnisse. 21
Die Sicht der Quellen: Orte der Provinz. 30
Exkursion: Jaroslavl' und Saratov um 1850. 37
Saratov in der ›asiatischen‹ Steppe. 38
Jaroslavl' in der ›russischen‹ Weite. 46

Die Eisenbahn und ihre Wege in die Provinz

2. Der Weg in die Peripherie: Russland verbinden. 59
Vorstöße in die Provinz. 63
Die Provinz im ›Eisenbahnfieber‹. 75
›Moderne‹ Konstellationen: Das Eisenbahnnetz und die Provinz. 94
3. Der Ausbau der Provinz: Russland verdichten. 99
Stagnation und die Suche nach Auswegen. 100
Die Stunde der Kreise und der Widerstand der ›alten‹ Zentren. 117
Eisenbahn, Saratov und Russland um 1900. 129

Die Provinz als Region:

Handeln, Sprechen, Schreiben

4. Zeit zum Handeln: Die Vernetzung der Provinz. 149
Herrschaft auf Reisen: Gelegenheiten der Provinz. 152
Patrone der Provinz: Klientel, Region und die Hauptstadt. 165
Die Eisenbahn und die ›Formationen des Regionalen‹. 180
5. Die Region vor Augen, das Imperium im Sinn. 187
Region: Zur Topographie eines Begriffs. 192
Der Südosten, die Wolga und das ›Land von Saratov‹. 196
Die verzerrte Geographie des ›Landes von Jaroslavl'‹. 214
Das ›Land‹ als Region: Konturen statt Grenzen. 223
6. Der Eisenbahnbau und der Imperialismus der Provinz. 226
Wie der ›Löwe von Taškent‹ Saratov streifte. 233
Die Reize der ›schlafenden Schönen‹. 240
Der Imperialismus als Raumbezug. 248
7. Ursprung und Einheit: Region als Geschichte. 252
Region und Historiographie im 19. Jahrhundert. 255
Geschichte schreiben in der Provinz. 260
Geschichte gliedern: Burtassen, Tataren, Russen. 267
Geschichte entfalten: Die Region in der Zeit. 274
Geschichte ausrichten: Saratovs imaginierte Geographie. 279
Durch Geschichte definieren: Das ›Land von Saratov‹. 284

Die Kunst des Aushandelns: Eisenbahn vor Ort

8. Durch Stadt und Land: Der Preis der Infrastruktur. 293
Der Eisenbahnkörper in der Stadt: Wunsch und Widerstand. 296
Die Durchquerung der Landschaft: Adelsnest und Bauernland. 322
Der Preis der Infrastruktur: Eine lokale Veranstaltung. 347
9. Verängstigt und erbost:

Bauern und das Feilschen mit Gewalt. 350
Bauern und Russland: Eine Suche nach Gewalt. 352
Bauern, Ingenieure und Beamte in Romanovka. 357
›Unverschämt‹ und ›äußerst frech‹: Szenarien der Stärke. 371
Bauern und ihre Revolution 1905. 387
Gewalt und Kommunikation verstehen. 400

10. Eisenbahn, Moderne und die Stunde der Provinz. 405

Dank. 414
Abbildungen. 419
Karten. 421
Abkürzungen. 423
Quellen und Literatur. 424
Register. 475


Handeln und Moderne: Wege, Räume, Orte

Anton Tschechow liebte die russische Provinz. Deshalb hat er sie in seinen Dramen, Novellen und Erzählungen immer wieder beschrieben. Die Provinz ist darin allerdings nicht Heimat, nicht sicherer Hafen in einer bewegten Zeit. Vielmehr erscheint sie als ein Raum ohne eigene Bedeutung. In der Provinz harrt man aus, oder man flieht: in die Hauptstadt, nach Moskau oder ins Ausland, nach Paris. Selbst größere Provinzstädte vermögen es nicht, die Sympathien der Helden und Leser zu wecken. Denn die Provinz ist langweilig und grau. Ihre Straßen sind schmutzig, ihre Häuser geschmacklos, das Leben ihrer Einwohner belanglos. Die Kaufleute sind gierig und ungebildet, die Habenichtse abstoßend und dumpf, die Gebildeten selbstverliebt oder korrupt. Zwar gibt es Eisenbahnen in der Provinz. Doch dieses Sinnbild des Fortschritts entfaltet dort keine Wirkung. Eisenbahnen schaffen nicht, sondern zerstören: das Adelsnest, den Kirschgarten, Russlands Idyll. Bei Tschechow verfehlen die Eisenbahnen ihr Ziel. In seiner Provinz sind die Bahnhöfe immer fünf bis zwanzig Werst von der Stadt entfernt. Dafür gibt jemand eine Erklärung, die so absurd scheint wie die Provinz selbst: "Wenn der Bahnhof nah wäre, wäre er nicht fern, da er aber fern ist, ist er nicht nah."
Die Dichtung erfindet und lügt, doch sie lügt nicht anders, als in der Welt gelogen werden kann. Tschechow schrieb und dichtete nicht allein. Seine seltsame Liebe teilte er mit anderen Literaten und Lesern, Journalisten, Memoirenschreibern und Malern, die den Topos der Provinz pflegten. Metropolen und Provinzen existierten nicht allein in Russland. Um 1900 gab es auch in Westeuropa Landstriche, in denen die Zeit still zu stehen schien. Wenn aber die Eliten im Zarenreich über ihre Provinz sprachen, so meinten sie Russland, das weder Hauptstadt noch Europa war und nichts Eigenes hervorzubringen vermochte. Im Sprechen über die Provinz brachten sie Russlands Rückständigkeit zum Ausdruck. Rückstände, lehrt Newtons Physik, lassen sich einholen. Ende des 19. Jahrhunderts blickten Tschechow und andere auf eine lange Aufholjagd zurück. Sie nahm unter Peter dem Großen ihren Anfang und gewann mit den Reformen Katharinas der Großen an Fahrt. Nach dem verlorenen Krimkrieg zog ihr Tempo abermals an. ›Große Reformen‹ setzten das zu langsame Russland in Bewegung. Antreiber des Fortschritts waren aufgeklärte Beamte und eine gebildete Gesellschaft, die sich als das Gewissen Russlands verstand.
Doch der Wille zum Fortschritt führte nicht zum erhofften Erfolg. Die einen schimpften auf die Autokratie, die anderen auf den Starrsinn der Provinz. In der Rede über die Provinz verständigten sich Tschechow und andere darüber, dass die Aufholjagd ohne jede Hoffnung war. Denn der Fortschritt von London, Chicago oder Berlin ließ sich nicht einfach auf die russische Provinz übertragen. Tschechow baute seine Geschichten auf der Einsicht auf, dass moderne Vorstellungen, Techniken und Verfahrensweisen beim Übertragen ihren Ursprungssinn verloren. Nicht im Abstand zwischen Rückständigkeit und Fortschritt verbarg sich offenbar das Grundproblem. Vielmehr schien die Moderne in Russland am Starrsinn der Provinz und ihrer Menschen zu scheitern. Deshalb entfaltete die Intelligenzija ihre revolutionären Utopien lieber in Sibirien, das ihnen als ein unbeschriebenes Blatt, ein Experimentierfeld der Moderne erschien.
Der Starrsinn der russischen Provinz ist nicht Gegenstand meiner Studie. Vielmehr möchte ich nachvollziehen, wie Menschen in den Provinzen den Eisenbahnen begegneten. Mich interessiert, wie Gouverneure und Gutsbesitzer, Kaufleute und Unternehmer, Bildungsbürger und Kleinbürger, Bauern und Beamte die Ankunft der Eisenbahn, das Sinnbild der Moderne schlechthin, beschleunigten oder verhinderten. Ich möchte erfahren, wie sie Streckenführungen zu verändern suchten oder wie sie sich mit all ihrer Kraft dem Fortschritt entgegen stellten. Ich will zeigen, wie jene Menschen ihre Wünsche zur Sprache und ihre Interessen zur Geltung brachten und sich dabei in Widersprüche verstrickten. Denn die Eisenbahn wie die Moderne überhaupt war für sie weder eindeutig noch unveränderbar. Statt dem Ideal der einen Moderne nachzujagen, wogen sie immer wieder aufs Neue die offene Zukunft und ihre sichere Gegenwart ab. Ich werde eine Geschichte davon erzählen, wie Menschen in Russland an der Ankunft der Eisenbahn Anteil nahmen und das Schicksal ihres Dorfes, ihrer Stadt, ihrer Provinz, und des Zarenreiches insgesamt bestimmten. Es ist ein Versuch einer Vita activa am Rande des Fortschritts. Weder das Scheitern der Moderne noch den Aufbruch der Zivilgesellschaft möchte ich hier beschreiben, vielmehr von den widersprüchlichen Erfahrungen von Menschen berichten, die den bitteren Ausgang ihrer Geschichte - Revolution, Bürgerkrieg, Kollektivierung, Repression - nicht kannten. Es ist eine Geschichte von Menschen, die in den Dramen und Erzählungen von Anton Tschechow nur selten die Hauptrolle spielten. Der Schriftsteller und sein Publikum kannten jedoch diese Gestalten, denn die meisten von ihnen waren Menschen der Provinz.
Dieses Buch ist eine Erkundung über das Handeln in der und durch die Moderne. Bevor Eisenbahnen Russland erreichten, hatten die meisten Untertanen des Reiches keine Vorstellung davon, wie sie ihr Leben verändern würden. Um 1900 mag dies noch für die Einwohner des russischen Nordens, der Steppen von Turkestan oder des Altai-Gebirges zugetroffen haben. Mit dem Aufbruch der Sowjetunion in die ›Gulag-Moderne‹ machten auch sie ähnliche Erfahrungen wie die Bauern in der Bretagne oder die Indianer in Illinois. Die Eliten in St. Petersburg hingegen hatten in den zwanziger und dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts gemeinsam mit ihren europäischen Nachbarn in Großbritannien, Frankreich oder Preußen über Sinn und Unsinn des neuen Verkehrsmittels debattiert. Erst später wurde die Eisenbahn für sie Wirklichkeit. Seit 1837 konnten sie diese neue Wirklichkeit auf der Teststrecke zwischen Petersburg und der Zarenresidenz Zarskoe Selo erfahren, seit 1851 die Vorzüge des neuen Reisens auf dem Weg von Moskau nach Petersburg genießen. Fortan galt die Eisenbahn ihnen als Maßstab, an dem sie ihren Rückstand zu den Großmächten in Europa ablasen. In den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts begannen auch die Eliten der Provinz zu begreifen, dass ihre Stadt und Region nicht nur Teil des Eisenbahnnetzes, sondern ein Knotenpunkt im Fluss der Waren und des Geldes werden müsse. Seither waren Eisenbahnverbindungen stets gefragt. Über Eisenbahnen konnten sich Bürger und Bauern freuen oder an ihnen verzweifeln. Aber alles was sie für oder gegen die Moderne unternahmen, taten sie in einer Welt, die durch Eisenbahnen als gedachte, gebaute und gelebte Wirklichkeit grundlegend verändert worden war.


Dr. phil., promovierte an der Universität Bielefeld und ist Akademischer Rat auf Zeit am Historischen Institut der Ruhr-Universität Bochum.



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