E-Book, Deutsch, 116 Seiten
Steinfort-Diedenhofen / Bieker / Engel Bildungsarbeit mit älteren Menschen
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-17-042181-3
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Reflexions- und Handlungswissen für die Soziale Arbeit
E-Book, Deutsch, 116 Seiten
ISBN: 978-3-17-042181-3
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Einleitung
Das Thema ›Bildung älterer Menschen‹ ist nicht neu. Schon Cicero preist im Jahre 44 vor Christus in seiner Schrift »de Senectute« die Altersweisheit und auch das Alter insgesamt als weise und tugendhafte Lebensphase. Im historischen Entstehungskontext des Themas haben sich die Diskurse um das Bildungsverständnis immer wieder gewandelt. Das Anliegen einer Bildung im und für das Alter?(n) erfährt – angestoßen durch die Erkenntnisse der Gerontologie zur Lernfähigkeit im Alter – seit drei Jahrzehnten verstärkte Aufmerksamkeit (vgl. Bubolz-Lutz et al. 2022, 43). Gerungen wird seither um einen passenden Begriff: von einem zunächst eher eng gefassten Begriff der ›Altenbildung‹ über die ›Altersbildung‹ bis hin zu dem heutigen weit gefassten Verständnis von ›Bildungsarbeit in einer alternden Gesellschaft‹. Damit richtet sich der Fokus nicht nur auf die älteren Menschen, sondern es werden auch Bildungsanliegen zu Altersthemen über den Lebenslauf und verschiedene Generationen hinweg mitbedacht, sodass sich der Blick weniger auf die spezifischen Zielgruppen als auf die Themen bezieht, die Kern von Bildungsarbeit und -anliegen sind. Historisch nachzeichnen lässt sich auch ein sich änderndes Verständnis vom älteren Menschen bzw. dem damit intendierten Menschenbild, das noch bis in die 1990er Jahre eher defizitär gezeichnet wurde. Erst danach veränderte sich das Bild der älteren Menschen – insbesondere in den Industrieländern – im Hinblick auf deren Produktivitätspotential. Bildung kann, so die Annahme, dazu beitragen, »die Selbstorganisation der Älteren zu fördern, um so lange wie möglich die individuelle Handlungskompetenz aufrechterhalten zu können« (ebd., 61). Somit erhält das Thema Bildung, im Kontext der aktuellen Diskussion über die Potenziale des Alters, »eine neue Relevanz« (Miesen 2015, 31). Entsprechend sind Kommunen, Organisationen und Fachkräfte gefordert, Menschen bis zum Lebensende »autonome Lern- und Partizipationschancen zu eröffnen, ihnen sozialintegrative Anschluss- und Verwendungsgelegenheiten für ihr Wissen und Können zu schaffen und ihnen den Beitrag zum gesellschaftlichen Wandel zuzutrauen« (Bubolz-Lutz et al. 2022, 98). Dass das Thema ›Bildungsarbeit mit Älteren‹ derzeit eine so große Resonanz erfährt, hat zum einen mit der Ausweitung der Altersphasen (diese werden im späteren Verlauf dieses Werks als sog. Drittes, Viertes und Fünftes Alter weiter ausgeführt) und zum anderen mit einem immer besseren Gesundheitszustand der älteren Generation zu tun. Auch trägt das gestiegene allgemeine Bildungsniveau dazu bei, »dass Lernen als zentrales Element zur Gestaltung des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses gesehen wird« (Miesen 2015, 31). Die erste zentrale Argumentation in Bezug auf Bildung im Alter lässt sich demnach wie folgt zusammenfassen: (Veränderte) Altersbilder prägen die Perspektiven auf Bildung in dieser Lebensphase. Begründungen für die Relevanz von Bildungsarbeit mit älteren Menschen unterscheiden sich je nachdem, welche Perspektive eingenommen wird. So kann Bildung dazu beitragen, Entwicklungen zu begleiten und zu fördern (sozialgerontologischer Ansatz), sie kann Ressourcen und Kompetenzen älterer Menschen für ein produktives und sinnerfülltes Leben bis ins hohe Alter fördern (Kompetenzansatz). Bildung kann zur Selbstreflexion und ggf. Neuorientierung anregen (biografischer Ansatz) oder sie kann dazu beitragen, Chancengleichheit durch die Bereitstellung von lernförderlichen Strukturen und Rahmenbedingungen über den gesamten Lebenslauf hinweg zu fördern und Menschen zu sinnerfüllten Tätigkeiten (z.?B. im Kontext freiwilligen Engagements) anzuregen bzw. dafür zu qualifizieren (gesellschaftspolitischer Ansatz) (vgl. Bubolz-Lutz et al. 2022, 98). Als zweite Erkenntnis zeigt sich: Es gibt viele unterschiedliche Argumente für die Relevanz von Bildungsarbeit mit Älteren, je nachdem, welche Perspektive eingenommen wird. Forschungsergebnisse zu Bildungs- und Lernprozessen in der zweiten Lebenshälfte liegen vor, sind aber selbstredend nie abschließend und erfordern weitere Investitionen. Unterschieden werden kann zwischen großen und aufwändigen ›Large-Scale-Studien‹ und i.?d.?R. kleineren qualitativen Forschungen mit einer großen Bandbreite an Forschungsthemen und -fragen. Erkenntnisgewinne liefern für die Situation in Deutschland sowohl die groß angelegten Studie wie die von Hans Thomae mitinitiierte Bonner Längsschnittstudie über das Altern (BOLSA), die interdisziplinäre Längsschnittstudie über das Erwachsenenalter der Universität Heidelberg (ILSA) sowie die internationalen Vergleichsstudien (z.?B. CiLL-Studie, vgl. Schmidt-Hertha 2018). Forschungen zu spezifischen Konzepten und Feldern oder Themen wie die zur Überwindung kumulierter Benachteiligung oder Kompetenzerweiterungen (derzeit insbesondere im Bereich der Techniknutzung) finden zumeist in qualitativ ausgerichteten Studien statt. Hierbei steht die Rekonstruktion subjektiver Einschätzungen und Erfahrungen, z.?B. zum Lernen im hohen Alter, auch im Angesicht des Todes, im Mittelpunkt (exemplarisch sei hier auf die Arbeiten von Claudia Kulmus 2018 oder Dieter Nittel und Nikolaus Meyer 2018 verwiesen). Insgesamt ist die aktuelle Forschungslandschaft zum Themenfeld Bildung im und für das Alter?(n) geprägt von disziplinübergreifenden Zugängen und großer Vielfalt. Für angehende Wissenschaftler*innen und auch Praktiker*innen eröffnen sich noch viele unbearbeitete Felder, bei denen nicht zuletzt auch die Frage passender Forschungsmethoden interessante Ansatzpunkte weiterer Überlegungen bildet. Dritte Erkenntnis: Forschungsergebnisse zu Bildung im Alter liegen aus verschiedenen Disziplinen vor, es stellen sich aber auch noch viele bislang offene Fragen. Die Praxis der Bildungsarbeit mit älteren Menschen kann derzeit als ein Ringen um die passenden Zugänge und auch begrifflichen Eingrenzungen interpretiert werden. Dabei wirken drei Diskurse parallel auf das Thema ein und bringen ihre je unterschiedliche Konnotierung mit: Der Belastungsdiskurs bezieht sich dabei auf die großen Herausforderungen, mit denen sich auch die Soziale Arbeit auseinandersetzen muss: Eine steigende Zahl von hilfs- und pflegebedürftigen Älteren, die zu einer ökonomischen Belastung der Sozial- und Gesundheitssysteme führen. Aus dieser defizitären Perspektive heraus wird, in der Zuspitzung, ein Generationenkrieg (der Begriff geht zurück auf das vielfach diskutierte Werk von Schirrmacher: »Das Methusalem-Komplott«) vorhergesagt. Konträr dazu wird im Potenzialdiskurs die »Aktivierbarkeit des Alters« (van Dyk 2009, 11) neu entdeckt, und das lebenslange Lernen wird zur bildungspolitischen – allerdings noch nicht politisch eingelösten – Strategie zu dieser Aktivierung der älteren Menschen. Weiterführend erscheint die dritte Perspektive, der kritische Diskurs: Ökonomische und politische Vereinnahmung und Instrumentalisierung der älteren Generation werden darin, auch unter der Berücksichtigung von Macht- und Herrschaftsstrukturen, problematisiert. Die Beschäftigung mit dem Thema Bildungsarbeit mit älteren Menschen birgt, das zeigt schon der kurze Blick auf die drei Diskurse, in sich eine gewisse Ambivalenz: Auf der einen Seite kann die Thematisierung von Bildung dazu beitragen, den Aufbau von Ermöglichungsstrukturen zur Teilhabe für und mit ältere?(n) Menschen zu unterstützen; auf der anderen Seite kann die Ausweitung des Lernparadigmas auf die gesamte Lebensspanne zur ›Gefahr der Pädagogisierung der Gesellschaft‹ (vgl. Riboltis 2004) beitragen. Im fünften Altenbericht der Bundesregierung (BMFSFJ 2005) wird das Bedingungsgefüge wie folgt zusammengefasst: »Die Pflicht zum lebenslangen Lernen ergibt sich aus der Tatsache des sozialen, des kulturellen und des technischen Fortschritts, an dem ältere Menschen – im Hinblick auf die Erhaltung von Selbstständigkeit und Selbstverantwortung wie im Hinblick auf erhaltene soziale Teilhabe – im gleichen Maße partizipieren sollen wie jüngere Menschen. Dies erfordert Bildungsinteressen und Bildungsaktivitäten auf Seiten des älteren Menschen sowie entsprechende Angebote« (ebd., 4). In dieser Formulierung wird deutlich, dass die Verantwortung für die stetige Aktualisierung von Kompetenzen, um mit der Komplexität und Vielfalt der modernen Gesellschaft umgehen zu können, beim Individuum gesehen wird. Die Sozialarbeiterin und Soziologin Vera Miesen weist jedoch folgerichtig darauf hin, dass diese »appellative Aufforderung zum lebenslangen Lernen [...] älteren Menschen damit ein notwendiges Bildungsinteresse« (Miesen 2015, 35) unterstellt. Dies ist insofern problematisch, als sich in unterschiedlichen Studien (zuletzt bspw. Klein et al. 2021) zeigt, dass durch viele Angebote vornehmlich die bildungsgewohnte Mittelschicht erreicht wird, nicht aber all jene, die über eher niedrige Bildungsabschlüsse und Einkommen verfügen. Dieses Phänomen wird in der...