Stengel / Konitzer | Opfer als Akteure | Buch | 978-3-593-38734-5 | sack.de

Buch, Deutsch, 307 Seiten, Format (B × H): 140 mm x 215 mm, Gewicht: 381 g

Reihe: Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust

Stengel / Konitzer

Opfer als Akteure

Interventionen ehemaliger NS-Verfolgter in der Nachkriegszeit
1. Auflage 2009
ISBN: 978-3-593-38734-5
Verlag: Campus

Interventionen ehemaliger NS-Verfolgter in der Nachkriegszeit

Buch, Deutsch, 307 Seiten, Format (B × H): 140 mm x 215 mm, Gewicht: 381 g

Reihe: Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust

ISBN: 978-3-593-38734-5
Verlag: Campus


Opfer oder Zeugen – in einer dieser Rollen werden Verfolgte des Nationalsozialismus meist wahrgenommen. Vergessen wird, dass sie es waren, die in vielen Bereichen Ansätze für eine kritische 'Bewältigung' der Vergangenheit schufen. Sie übernahmen in den 1950er Jahren wichtige Aufgaben bei der Strafverfolgung von NS-Verbrechen, aus denen sich die Behörden fast völlig zurückgezogen hatten. Auch waren es zunächst fast ausschließlich ehemalige Verfolgte, die über Judenverfolgung und Konzentrationslager forschten und publizierten. Im Jahrbuch werden die Situation und die Aktivitäten der unterschiedlichen Verfolgtengrup- pen in den ersten Nachkriegsjahren in verschiedenen west- und osteuropäischen Ländern geschildert.
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Inhalt

Katharina Stengel
Einleitung

I. Von der Opferfürsorge bis zur kalkulierten Provokation: Die NS-Verfolgten als politische Akteure der Nachkriegszeit

Harald Schmid
"Wiedergutmachung" und Erinnerung
Die Notgemeinschaft der durch die Nürnberger Gesetze Betroffenen

Kristina Meyer
Sozialdemokratische NS-Verfolgte und die Vergangenheitspolitik

Christa Paul
Frühe Weichenstellungen
Zum Ausschluss "asozialer" Häftlinge von Ansprüchen auf besondere Unterstützungsleistungen und auf Entschädigung

Thomas Irmer
"Ihr langes Schweigen ist sicherlich tiefe Resignation …"
Norbert Wollheim, Edmund Bartl, Hermann Langbein und die Auseinandersetzung um Entschädigung für NS-Zwangsarbeit nach 1945

Brigitte Bailer-Galanda
Konkurrenz - Konflikt - Spielball der Politik
Verbände der NS-Opfer in Österreich nach 1945

Anne Klein
"Militants de la Mémoire"
Repräsentationen jüdischen Engagements in den 1970er Jahren

II. KZ-Überlebende als HistorikerInnen der Konzentrationslager

Philipp Neumannn
"… eine Sprachregelung zu finden"
Zur Kanonisierung des kommunistischen Buchenwald-Gedächtnisses in der Dokumentation Mahnung und Verpflichtung

Katharina Stengel
Auschwitz zwischen Ost und West
Das Internationale Auschwitz-Komitee und die Entstehungsgeschichte des Sammelbandes Auschwitz. Zeugnisse und Berichte

Susan Hogervorst
Erinnerungskulturen und Geschichtsschreibung
Das Beispiel Ravensbrück

III. Interventionen jüdischer Überlebender in Europa

Franziska Bruder
Handlungsstrategien jüdischer Überlebender in Polen zwischen 1944 und 1950

Stephan Stach
"Praktische Geschichte"
Der Beitrag jüdischer Organisationen zur Verfolgung von NS-Verbrechern in Polen und Österreich in den späten 40er Jahren

Laura Jockusch
"Appell an das Weltgewissen"
Jüdische Holocaustdokumentation in der frühen Nachkriegszeit am Beispiel Frankreichs

Anke Zimmermann
Vom Umgang mit dem Grauen
Selbstzeugnisse jüdischer Künstler in der Tschechoslowakei 1945-1990

Abkürzungsverzeichnis

Autorinnen und Autoren


Fragen nach den Grundzügen und Konfliktherden sozialdemokratischer Vergangenheitspolitik in den Nachkriegsjahren und in der frühen Bundesrepublik erfordern einen geschärften Blick auf verschiedene Akteure, die hier in Erscheinung traten. Dass die "Dominanz Kurt Schumachers in der West-SPD" und "seine Äußerungen zum Dritten Reich und dessen Folgen" tatsächlich ausreichen, um "die Stellung der SPD insgesamt zu analysieren", ist zu bezweifeln. Eine Fixierung auf die Person Schumachers - auf so maßgebliche und nachhaltige Weise er auch den vergangenheitspolitischen Integrationskurs vorgab - vernachlässigt zahlreiche Ambivalenzen und Konflikte, die den Umgang seiner Partei mit der NS-Vergangenheit prägten. Auf allen Ebenen der Parteiorganisation und -hierarchie, in Kommunen, Landesparlamenten und im Bundestag wirkten nach 1945 Sozialdemokraten, die wie Kurt Schumacher, Erich Ollenhauer und Fritz Heine NS-Verfolgte oder Exilanten waren, aber häufig ganz unterschiedliche Standpunkte vertraten. Besonderes Augenmerk verdient dabei die parteieigene Verfolgtenorganisation, die 1948 gegründete "Arbeitsgemeinschaft ehemals politisch verfolgter Sozialdemokraten" (AvS). Wie unterschiedlich das Verständnis von einer angemessenen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit unter sozialdemokratischen Verfolgten sein konnte, wie prägend das Engagement einzelner Akteure wirkte und wie einflusslos die Verfolgten an der Basis zugleich blieben, zeigt sich an zwei elementaren Aspekten der Vergangenheitspolitik - der Wiedergutmachung sowie dem Umgang mit "Mitläufern" und "Belasteten" des Nationalsozialismus.

Nach Kriegsende

Viele sozialdemokratische NS-Verfolgte, die 1945 aus einer oft jahrelangen Haft in Konzentrationslagern und Zuchthäusern befreit wurden, die aus dem Exil, aus der Illegalität oder gar, weil sie in Strafbataillons zwangsverpflichtet worden waren, aus dem Krieg in ihre Heimat zurückkehrten, stürzten sich geradezu in die Wiederaufbauarbeit. Fritz Erler, der sich seit 1939 in Zuchthaushaft befunden hatte, machte für sein Leben "nach Hitler" bereits im Mai 1943 Pläne: "Auf alle Fälle wird meine Rückkehr nach Berlin mich nicht in eine lustige ›Geschäftigkeit‹ reißen, wohl aber in ein randvolles Schaffen stellen, auf das ich mich heute schon freue. Aufgaben wird es geben, Aufgaben". Seine neue Wirkungsstätte fand Erler nach Kriegsende indes nicht in Berlin, sondern in Süddeutschland. Nach seiner Flucht aus einem Gefangenentransport war er im württembergischen Biberach gestrandet, wo er sich bis zum Einmarsch der Alliierten versteckte. Dort ernannten ihn die französischen Besatzungsmächte noch im Mai 1945 zum Landrat.

Wie Fritz Erler beteiligten sich zahlreiche NS-Verfolgte am Aufbau kommunaler Verwaltungsstrukturen, übernahmen Funktionen in der wiedergegründeten SPD, in Gewerkschaften und in Parlamenten - trotz zum Teil gravierender gesundheitlicher Nachwirkungen der Verfolgungszeit. Mit einem Durchschnittsalter von 45 Jahren zum Zeitpunkt des Kriegsendes bildeten sozialdemokratische Verfolgte das unbelastete Pendant zur völlig diskreditierten Funktionsgeneration des Nationalsozialismus und wurden als anerkannte Gegner des NS-Regimes bei der Besetzung von Ämtern in Politik und Verwaltung durch die Alliierten bevorzugt. Eberhard Brünen, der als führender Kopf einer Duisburger Widerstandsgruppe der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) seit 1935 inhaftiert gewesen war, kümmerte sich nach der Befreiung des Zuchthauses Waldheim in Sachsen zunächst um die Versorgung und Rückführung von Mithäftlingen und wurde wegen eines Lungenleidens ärztlich betreut. Erst Ende Juli 1945 kehrte er ins Ruhrgebiet zurück. Eine "Schonzeit" kam für ihn jedoch nicht infrage: "Er kam zurück und sofort: Aufbauen, Aufbauen, Aufbauen." Schon am 1. August 1945 nahm Brünen seine Arbeit als Parteisekretär des SPD-Unterbezirks Duisburg auf, ließ sich in den Vorstand und wenig später in die Stadtverordnetenversammlung wählen. Leo Radtke, ein mehrfach vom Volksgerichtshof verurteilter Sozialdemokrat und Gewerkschafter aus Hamm, der zuletzt im Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftiert gewesen war, litt infolge der Haft an einem "vorzeitige[n] körperliche[n] Verschleiß, hochgradige[r] Lungenblähung mit chronischer Bronchitis, Herzkreislaufbeschwerden und eine[r] Arthrose beider Schultergelenke" und war zu 70 Prozent in seiner Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt. Dennoch nahm Radtke kurz nach seiner Rückkehr eine Anstellung bei der Bezirksregierung Arnsberg an. Dort war er für Fragen der Fürsorge und Entschädigung von NS-Verfolgten zuständig und stieg wenig später zum Leiter der Wiedergutmachungsabteilung auf. Die Betreuung und Beratung anderer NS-Opfer entwickelte sich zu einem zentralen Betätigungsfeld vieler sozialdemokratischer Verfolgter. Erste lokale Fürsorgestellen für ehemalige Häftlinge entstanden 1945 vielerorts auf Initiative der politisch Verfolgten. Überkommene sozialdemokratische Milieustrukturen boten den Verfolgten in den Nachkriegsjahren einen wichtigen Anknüpfungspunkt für soziale und politische Netzwerke, die gerade in den oft komplizierten und langwierigen Entschädigungsverfahren hilfreich sein konnten.

Für den SPD-Bundestagsabgeordneten Hermann Runge - auch er hatte als führendes Mitglied einer Duisburger Widerstandsgruppe zehn Jahre in der Haft verbracht - war das politische und soziale Engagement der NS-Verfolgten in der Nachkriegszeit nicht nur Ergebnis des Vertrauensvorschusses, den ihnen die Besatzungsmächte gewährten, sondern auch der Ausdruck eines besonderen Pflichtbewusstseins der Zurückgekehrten. Sie fanden sich nach 1945 zusammen, "um den vollkommenen Verfall der Kommunalverwaltung zu verhüten und die Versorgung der Bevölkerung im Rahmen des Möglichen zu sichern", und fühlten sich "bewußt oder unbewußt für das ganze Volk, ja schließlich für ganz Deutschland verantwortlich". Der demonstrative Aufbauwille konnte auch als Botschaft an die einstigen Verfolger gedacht sein: "Mein Bestreben war es immer", so der Kasseler Widerstandskämpfer Willi Goethe, "durch meine Arbeit die Menschen zu beschämen, die uns so Furchtbares angetan haben." Zuallererst war der unermüdliche Aktivismus der Verfolgten der Notwendigkeit des Wiederaufbaus geschuldet. Zugleich war er aber ein Mittel zur Verdrängung ihrer traumatischen Erfahrungen der Verfolgungszeit, die weitgehend beschwiegen wurden - auch wegen des verbreiteten Desinteresses oder Unbehagens, mit dem die Mehrheit der "Mitläufer" ihren Geschichten begegneten. Im Rückblick auf die frühen Nachkriegsjahre äußerte der zurückgekehrte Emigrant und jüdische Sozialdemokrat Max Diamant im Jahr 1980, man sei "mit einer großen Geste der Verdrängung über diese schmerzliche eigene Vergangenheit, über diese schmerzliche Vergangenheit in diesem Volk und in diesem Lande […] hinweggeschritten. […] Und darum hat jeder sich auf seinem Arbeitsgebiet […] ganz und gar hineingestürzt."

Die Gründung einer parteieigenen Verfolgtenorganisation

Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) entwickelte sich nach ihrer Gründung in den Jahren 1946/47 schnell zur zentralen Anlaufstelle und Interessenvertretung ehemaliger NS-Verfolgter. Auch wenn die Kommunisten die VVN von Beginn an - zumindest zahlenmäßig - dominierten, war es für ehemalige Häftlinge aus sozialdemokratischen und sozialistischen Widerstandskreisen zunächst ganz selbstverständlich, dieser Verfolgtenorganisation beizutreten, ihre Fürsorge- und Beratungsdienstleistungen zu beanspruchen oder auch Funktionen in ihr zu übernehmen. Die SPD-Parteiführung hingegen beobachtete die VVN mit großem Argwohn. Schon im November 1946 beriet der Parteivorstand über die vom Hauptausschuss "Opfer des Faschismus" in Berlin im Anschluss an die Zwangsvereinigung von SPD und KPD in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) geäußerte Absicht, eine deutschlandweit tätige Verfolgtenorganisation zu schaffen. In einem vertraulichen Rundschreiben empfahl man den Parteigliederungen, "die Anregung zur Gründung solcher Vereinigungen abzulehnen und da, wo ihre Gründung nicht verhindert werden kann, die Mitarbeit in diesen Vereinigungen zu verweigern", denn es könne "kein Zweifel darüber bestehen, daß die Kommunisten hier den Versuch machen, eine neue getarnte Propagandaorganisation für ihre Zwecke zu starten".

Nachdem sich zahlreiche Sozialdemokraten dennoch an VVN-Gründungen auf Kreisebene beteiligt hatten oder ihr beigetreten waren, berief der Parteivorstand im September 1947 ein Treffen aller SPD-Bezirksvertrauensmänner der VVN ein. Fritz Heine erörterte vor den Anwesenden, dass auch Berichte über erfolgreiche Bemühungen einiger Sozialdemokraten, "maßgebenden Einfluß" auf die örtliche VVN zu gewinnen und eine "kommunistische Beherrschung zu verhindern", den Parteivorstand nicht von seiner ablehnenden Haltung abbringen könnten. Wer den Beteuerungen Glauben schenke, es handele sich bei der VVN um eine überparteiliche Organisation, lasse sich für ihre augenfällig kommunistischen Ziele ausnutzen. Darüber hinaus sei der Gedanke unerträglich, mit einer Organisation zusammenzuarbeiten, deren Förderer und Gesinnungsgenossen in der SBZ für die Diskriminierung und Internierung von Sozialdemokraten verantwortlich seien. Auf Empfehlung der Vertrauensmänner, die Anfang Mai 1948 erneut über die Haltung zur VVN berieten, erklärte der Parteivorstand am 6. Mai 1948 die Mitgliedschaft in der SPD für unvereinbar mit einer Mitgliedschaft in der VVN. Zugleich kündigte er die Schaffung einer Zentralstelle für ehemals politisch verfolgte Sozialdemokraten an, die für die Erfassung und Förderung aller betroffenen Parteimitglieder, für die "Koordinierung aller gesetzlichen Maßnahmen in der Frage der Wiedergutmachung und Betreuung ehemals politisch Verfolgter" sowie für die Vorbereitung von Gesetzentwürfen zur Wiedergutmachung zuständig sein werde. Fritz Erler, Vertrauensmann der SPD in Württemberg-Hohenzollern, trat umgehend aus der VVN aus, forderte zugleich aber eine sofortige Initiative der dortigen SPD-Landtagsfraktion für Wiedergutmachungsgesetze. Die SPD könne sich "nur dann negativ zur VVN stellen, wenn [sie] bereit sei, die Interessen der NS-Opfer positiv wahrzunehmen".

Die Arbeitsgemeinschaft ehemals politisch verfolgter Sozialdemokraten (AvS) sollte den sozialdemokratischen Verfolgten nach dem Unvereinbarkeitsbeschluss eine eigene Interessenvertretung innerhalb ihrer Partei bieten. Zuspruch und Parteigehorsam hielten sich allerdings in Grenzen: 1949 waren immer noch 17.000 SPD-Mitglieder in der VVN organisiert. Geschwindigkeit und Eifer bei der Gründung lokaler und regionaler Arbeitsgemeinschaften variierten je nach Bezirk oder Ortsgruppe, ebenso wie die Bereitschaft zum Austritt aus der VVN. Während sich die AvS in einstigen Zentren des sozialdemokratischen Widerstands wie dem Ruhrgebiet recht schnell etablieren konnte, mussten Verfolgte in anderen Gegenden wiederholt daran erinnert werden, auf eine Zusammenarbeit mit der VVN zu verzichten. Max Kukil, ein aus Breslau stammender sozialdemokratischer Verfolgter, der sich nach 1945 in Schleswig-Holstein niedergelassen hatte und dort als Gemeindedirektor, SPD-Parteisekretär und später als Landtagsabgeordneter tätig war, berichtete dem Parteivorstand im September 1950 von einer "erregte[n] Auseinandersetzung" mit zwei prominenten Lübecker Sozialdemokraten. Paul Bromme und Otto Passarge - selbst NS-Verfolgte - weigerten sich, "alte Genossen" aus der Partei auszuschließen, nur weil diese weiterhin auf ihrer Mitgliedschaft in der VVN beharrten. Dass Kukil den beiden Genossen eine "wankelmütige Haltung" attestierte, überrascht, da sich auch in seinem VVN-Mitgliedsbuch noch für das Jahr 1950 vier eingeklebte Beitragsmarken finden.

Ideologische Motive waren sicher nur bedingt ausschlaggebend für das Festhalten einiger Sozialdemokraten an der VVN, wenn auch manche Angehörige linkssozialistischer Widerstandsgruppen in der frühen Nachkriegszeit noch darauf hofften, die Spaltung der Arbeiterbewegung überwinden zu können. Viel entscheidender war, dass auf lokaler Ebene Solidargemeinschaften und Netzwerke zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten existierten und dass die VVN schlicht die öffentlichkeitswirksamere, kämpferischere und professionellere Interessenvertretung zu bieten schien. Auch eine gewisse Naivität im Hinblick auf die Chance einer dauerhaften Überparteilichkeit der VVN mag eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt haben. Wie die meisten Berufspolitiker unter den Verfolgten zählte Eberhard Brünen dagegen zu den entschiedenen Verfechtern einer parteigebundenen Organisation. Die VVN wie auch der Bund der Verfolgten des Naziregimes (BVN) waren in seinen Augen nichts weiter als "Interessenklüngel", ihr Neutralitätsanspruch ebenso unrealistisch wie verlogen. Tatsächlich war die SPD die einzige Partei, die sich ganz offen zu einer Aufspaltung der Verfolgtenvertretungen entlang der Parteigrenzen bekannte - eine Entwicklung, die sie mit ihrer Loslösung von der VVN ganz bewusst voranzutreiben suchte. Zuallererst war die Gründung der AvS Konsequenz eines antikommunistischen Abgrenzungsbedürfnisses und eines innerparteilichen Integrationsbedürfnisses der SPD. Gerade auch im Hinblick auf die Versöhnung verschiedener Flügel und Splittergruppen des sozialdemokratischen und sozialistischen Widerstands unter dem Dach der AvS übernahm der wachsende Antikommunismus als gemeinsamer Nenner eine Schlüsselfunktion.

Uneinigkeit herrschte innerhalb der AvS über das rechte Maß an politischer Positionierung, in der Partei wie auch in der Öffentlichkeit. Die Leitung der AvS Hessen-Süd verkündete in ihrem Mitteilungsblatt, dass ihre Vertreter bewusst darauf verzichten würden, "in der Öffentlichkeit von sich reden zu machen. Der persönliche Dienst an jedem einzelnen Verfolgten ist ihnen der einzige Zweck ihrer Arbeit. Für jeden Sozialdemokraten, der Verfolgter des Nationalsozialismus war, sollte es selbstverständlich sein, der GvS anzugehören. In irgendeiner anderen Verfolgten-Organisation ist für ihn kein Platz." Der Aufruf zu Zurückhaltung und Linientreue galt der traditionell linken Basis des Bezirks, die ihre öffentliche Zusammenarbeit mit der VVN teilweise unbekümmert fortgesetzt hatte. Auch die exponierten Mitglieder der AvS vertraten unterschiedliche Auffassungen über die Funktion und die Aufgabe ihrer Organisation. Für Hein Hamacher war die AvS eine temporäre "Zweckorganisation", die nur so lange bestehen werde, bis ihr wesentliches Ziel, "die gesetzliche Verankerung von Ansprüchen politisch Verfolgter für erlittenes Unrecht", erreicht sei. Eberhard Brünen dagegen forderte die Verfolgten zu kämpferischem Engagement auf: "Nur so viel wird dem politisch Verfolgten und geschädigten Gegner des Dritten Reiches an seinem erlittenen Schaden gutgemacht, als er durch seine Aktivität an politischem Wollen in der Wählermasse und der politischen Öffentlichkeit mobilisiert." Ein Mitglied der AvS Braunschweig beschrieb die Fehlentwicklungen in der Arbeitsgemeinschaft ebenso wie deren Ursachen sehr präzise:

"Es fehlt in einem beängstigenden Umfange an einer Koordinierung der Auffassungen im Rahmen einer zusammenfassenden Diskussion innerhalb des Parteivorstandes und der Bezirke. Weil es sich bei den Opfern […] um eine verhältnismäßig kleine und zudem noch absinkende Bevölkerungsschicht handelt, fehlt meines Erachtens die Vorstellung darüber, welche Aufgabe die Partei zur Wahrung der Interessen verfolgter Sozialdemokraten übernommen hat. Ich glaube nicht, daß man diese Aufgaben deswegen geringer einschätzen darf, weil zweifellos für die Gesamtpartei zahlreiche andere Probleme die Probleme der Verfolgten überschatten."

Die Einfluss- und Bedeutungslosigkeit der AvS war organisatorisch vorprogrammiert und beabsichtigt. Sie zählte nicht einmal zu den offiziellen Arbeitsgemeinschaften innerhalb der SPD, aber selbst dann wäre sie den Interessen der Gesamtpartei unterworfen gewesen. Ihr Status wurde nie klar definiert, ebenso wenig wie die Kompetenzen des sogenannten AvS-Bundesbeauftragten beim Parteivorstand. Schon allein aufgrund zahlreicher anderer Posten und Verpflichtungen konnte oder wollte keines der Vorstandsmitglieder diesen Aufgaben angemessen nachkommen - mit Ausnahme von Max Kukil, dessen früher Tod im Januar 1959 eine Leerstelle in der Verfolgtenarbeit hinterließ. Die Gründung einer parteieigenen Verfolgtenorganisation bedeutete zwangsläufig, dass die Interessen der sozialdemokratischen Widerstandskämpfer den Interessen der Gesamtpartei untergeordnet wurden. Gefragt war die AvS vor allem als Selbsthilfeorganisation in der Wiedergutmachungspraxis, weniger jedoch als Interessenvertretung der Verfolgten in der Wiedergutmachungspolitik.

Die Wiedergutmachung

In den Jahren nach Inkrafttreten des ersten bundeseinheitlichen Entschädigungsgesetzes von 1953 erlebte die AvS ihren Höhepunkt an Aktivität und Bedeutsamkeit. 1954 gab es laut einer internen Statistik in der Bundesrepublik knapp 85.000 sozialdemokratische Verfolgte, die Entschädigung beantragt hatten. Ihnen stand die AvS mit Beratungsgesprächen, Auskünften, aber auch als Bevollmächtigte in den Entschädigungsverfahren zur Seite. Zwischen 1953 und 1955 stieg die Zahl der individuellen Beratungen von 50.000 auf mehr als 75.000 jährlich. Allein die nordrhein-westfälische AvS betreute im Jahr 1959 rund 22.000 Verfolgte, darunter auch im Ausland lebende Anspruchsberechtigte und Angehörige anderer Opfergruppen. Die AvS in Nordrhein-Westfalen entfaltete vor allem unter der Ägide von Eberhard Brünen eine rege Betriebsamkeit auf dem Gebiet der Wiedergutmachung. In Schulungen und Seminaren lernten die ehrenamtlichen Mitarbeiter alle Feinheiten der komplexen Entschädigungsmaterie kennen, bei Bezirks- und Landesausschusssitzungen entwarfen sie Verbesserungsvorschläge für die Gesetzgebung. Die Aktivitäten der Arbeitsgemeinschaften manch anderer Länder und Bezirke hielten sich derweil in Grenzen. Kurt Rother, ein Berliner Sozialdemokrat und NS-Verfolgter, konnte Max Kukil - seit 1952 Leiter der Zentralstelle für politisch verfolgte Sozialdemokraten beim Parteivorstand in Bonn - "nicht viel angenehmes […] über die hiesige AvS" berichten: "Jedenfalls herrscht eine Schlafmützigkeit im Vorstand, die allgemein große Unzufriedenheit unter den Betroffenen erweckt. Das einzige, was einigermaßen funktioniert, ist die Beratungsstunde."



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