E-Book, Deutsch, 353 Seiten
Stollberg-Rilinger / Krischer Tyrannen
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-406-79081-2
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Geschichte von Caligula bis Putin
E-Book, Deutsch, 353 Seiten
ISBN: 978-3-406-79081-2
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Tyrannen haben wieder Konjunktur. Eine wachsende Zahl von Autokraten ist dabei, dem westlichen Traum vom unaufhaltsamen Siegeszug der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ein Ende zu bereiten. Darunter finden sich kriegslüsterne Despoten wie Putin, aber auch beunruhigende Gestalten vom Schlage eines Erdogan oder Kim Jong Un. Und selbst das Ursprungsland der westlichen Demokratie scheint vor dem Absturz in die Tyrannei nicht gefeit. In diesem Buch gehen renommierte Historikerinnen und Historiker der Frage nach, welche Wesenszüge und Handlungsweisen Tyrannen eigen sind - weshalb bestimmte Herrscher von der Antike bis heute so bezeichnet wurden.
Caligula • Nero • Heinrich IV. • Richard III. • Katharina v. Medici • Ibrahim «der Wahnsinnige» • Ivan IV. «der Schreckliche» u. Peter I. «der Große» • Friedrich Wilhelm I. • Napoleon Bonaparte • Leopold II. • Franco • Mao Zedong u. Jiang Qing • Pinochet • Idi Amin • Mugabe • B. al-Assad • Kim Il Sung bis Kim Jong Un • Erdogan • Trump • Putin
Was haben Verbrecher wie Putin und Assad und Finsterlinge wie beispielsweise Idi Amin oder Erdogan mit klassischen historischen Bösewichten wie Caligula, Nero, Richard III. oder Ivan dem Schrecklichen gemeinsam? Haben sie überhaupt etwas gemeinsam - außer dem Umstand, dass sie alle als "Tyrannen" oder "Despoten" bezeichnet werden? Die zwanzig hier versammelten präzisen und spannenden Portraits ausgewählter Protagonist:innen - entworfen von renommierten Historiker:innen - zeigen, dass die Antwort auf diese Frage nicht leichtfällt. Denn "Tyrannei" und "Despotie" sind keine neutralen empirischen Begriffe, sondern vielmehr Werturteile, politische Argumente. Als Tyrannen und Despoten bezeichnet man Machthaber, von denen man sich abgrenzen, gegen die man Widerstand organisieren, derer man sich entledigen oder gegen die man Krieg führen will. In diesem Buch geht es daher nicht einfach um die Frage, ob eine Person wirklich ein Despot oder Tyrann war, sondern vielmehr darum, warum und von wem jemand so wahrgenommen und bezeichnet wurde. Eine Geschichte der Tyrannen ist - wie sich zeigen wird - stets auch eine Geschichte der sich wandelnden Vorstellungen von unrechter Herrschaft, und es ist eine Geschichte der Konflikte um die politische Deutungshoheit über diese Frage.
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Einleitung
Von Barbara Stollberg-Rilinger und André Krischer Zur Verarbeitung des Schocks, in die der russische Präsident die westliche Welt mit seinem kriegerischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 versetzt hat, gehört es auch, Wladimir Putin als einen «Tyrannen» zu bezeichnen. Angesichts seiner Skrupellosigkeit, die Ukraine mit Tod und Verwüstung zu überziehen, erscheint der Begriff vielen Beobachtern genau passend. Wer das Gemeinwohl zerstöre, Kritiker vernichte, Hass, Zwietracht und Misstrauen säe, sei ein Tyrann im Sinne von Aristoteles, hieß es etwa in der Zeitschrift The Spectator (Jones 2022). Zumal in Deutschland verdrängt der Tyrannen-Begriff den «Putin-Kitsch» (Karl Schlögel), mit dem der Präsident der Russischen Föderation als «strategischer Partner» oder als «lupenreiner Demokrat» tituliert wurde. Die Figur des Tyrannen hat aber schon länger Konjunktur. «Ohne Rückhalt aus dem politischen Establishment war er an die Spitze gekommen. […] Niemand wusste, was er als Nächstes sagen würde. In welche Richtung seine Ausfälle gehen könnten. Aber genau das brachte ihm Sympathien beim Volk ein. Machte ihn stark. Zu seinem Programm erklärte er, die alten Strukturen aufzubrechen und vom machtkorrupten Establishment zu säubern.» So hieß es im Februar 2016 im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung kurz nach der Wahl des amerikanischen Präsidenten (Strauß 2016). Der Artikel handelte von dem römischen Kaiser Caligula, aber es war kaum misszuverstehen, wer da eigentlich gemeint war. Bundeskanzlerin Angela Merkel soll 2019 zu dem Buch Der Tyrann des Literaturwissenschaftlers Stephen Greenblatt gegriffen haben, um sich mit dem Regierungsstil ihres amerikanischen Amtskollegen auseinanderzusetzen. In Greenblatts Buch geht es darum, anhand von Shakespeares Schurken Richard III. besser zu verstehen, «wie es kommt, dass eine große Nation in die Hände eines Tyrannen fällt» (Greenblatt 2018). Auch der Historiker Timothy Snyder, der mit Büchern über die Verbrechen Hitlers und Stalins bekannt geworden ist, hat die Wahl Trumps 2016 zum Anlass genommen, «Über Tyrannei» zu schreiben und zum Widerstand dagegen aufzurufen (Snyder 2017). Das sind drei Beispiele von vielen. Es liegt auf der Hand, warum historische Tyrannen gegenwärtig in der Öffentlichkeit so präsent sind. Wenn nicht nur Putin alle Masken fallen lässt, sondern auch der Präsident des Landes, das sich als Geburtsort, Vorbild und Führungsmacht der modernen westlichen Demokratien versteht, mit klassischen Horrorgestalten der Geschichte wie Caligula oder Richard III. auf eine Stufe gestellt wird, dann zeugt das von tiefer Verunsicherung. Denn wir neigen ja dazu, Tyrannei – und ihren Zwilling, die Despotie – als das ganz andere, das Fremde, «Unzivilisierte» und «Barbarische» von uns fernzuhalten und in vergangenen Epochen oder fremden Weltgegenden zu lokalisieren. Nun ist mit einem Mal das Barbarische mitten im Kernland der modernen Demokratie angekommen und bedroht das schmeichelhafte Bild, das wir von uns selbst und vom historischen Fortschritt hatten. Der bis Januar 2021 amtierende amerikanische Präsident reiht sich ein in die stetig wachsende Zahl der Autokraten, die der Illusion vom unaufhaltsamen Siegeszug der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auf der Welt ein Ende machen: Lukaschenko oder Duterte, Maduro oder Bolsonaro, Orbán oder Erdogan. Doch die Frage ist: Was haben diese beunruhigenden Machthaber von heute tatsächlich mit klassischen historischen Bösewichtern wie Caligula, Nero, Richard III. oder Ivan dem Schrecklichen gemeinsam? Haben sie überhaupt etwas gemeinsam – außer dem Umstand, dass sie alle als Tyrannen oder Despoten bezeichnet werden? Die Antwort ist nicht einfach. Denn «Tyrannei» und «Despotie» sind ja keine neutralen empirischen Begriffe, es sind Werturteile, politische Argumente. Als Tyrannen und Despoten bezeichnet man Machthaber, von denen man sich abgrenzen, gegen die man Widerstand organisieren, derer man sich entledigen oder gegen die man Krieg führen will. In diesem Buch kann es daher nicht einfach um die Frage gehen, ob eine Person – Mann oder Frau – wirklich ein Despot oder Tyrann war, sondern vielmehr darum, warum und von wem sie so wahrgenommen und bezeichnet wurde. Die Frage ist also eine doppelte. Zum einen: Was qualifizierte Machthaber über die Jahrhunderte hinweg zu Tyrannen oder Despoten? Gegen welche Regeln und Normen legitimer Herrschaft verstießen sie? Und zum anderen: In wessen Augen machte sie das zu Tyrannen – und in wessen Augen womöglich zum Helden? Mit anderen Worten: Wer wann, warum und von wem als Tyrann bezeichnet wird, ist immer auch eine Frage der Zeitumstände und sagt etwas über diese Umstände selbst aus. Eine Geschichte der Tyrannen ist zugleich eine Geschichte der sich wandelnden Vorstellungen von unrechter Herrschaft, und es ist eine Geschichte der Konflikte um die politische Deutungshoheit über diese Frage. Das heißt allerdings nicht, dass es keinen über die Zeit hinweg stabilen Minimalkonsens darüber gäbe, was Tyrannei war und ist. Eine kleine Begriffsgeschichte
Historische Traditionen beeinflussen die Art und Weise, wie wir unsere Gegenwart wahrnehmen. Aber das gilt auch umgekehrt: Unsere in der Gegenwart gemachten Erfahrungen wirken auf unsere Sicht der Vergangenheit zurück. Wenn wir Donald Trump als «neuen Caligula» bezeichnen, dann beeinflusst das Bild dieses römischen Kaisers unser Bild des Präsidenten – und umgekehrt. Solche Spiegelungen und Wechselwirkungen sind es, die wir in diesem Band sichtbar machen wollen. Die Begriffe «Tyrann» und «Despot» sind wie Zeitkapseln: Sie transportieren sehr alte historische Erfahrungen und Werturteile in die heutige Zeit und verbinden unsere politische Gegenwart mit der von vor über 2000 Jahren. Die Jahrtausende sind selbstverständlich nicht spurlos an den Begriffen vorübergegangen. Mit dem historischen Wandel verändern sich auch die normativen Maßstäbe, und mit den Maßstäben die Bedeutungen der Begriffe – meistens schleichend, manchmal abrupt. Aber in den Begriffen bleiben zugleich historische Spuren ihrer früheren Verwendungsweisen enthalten. «Tyrannos» (t??a????) und «despotes» (desp?te?) sind Begriffe der griechischen Antike (Mandt 1990). Folgt man Aristoteles, einer der größten und wirkmächtigsten Autoritäten der europäischen Geistesgeschichte, so ist der Tyrann ein Machthaber, der nach Willkür statt nach den Gesetzen herrscht. Es gibt ihn sowohl in der Monarchie als auch in der Demokratie. Hier ist es der Monarch, der seine Willkür über das Gesetz stellt, dort der Demagoge, der die Menge manipuliert und mithilfe von Volksbeschlüssen die gesetzmäßige Ordnung unterhöhlt (Aristoteles Pol. IV, 4). In beiden Fällen ist die Tyrannis eine pervertierte, widernatürliche Form der Herrschaft (Pol. III, 14–18). Zwar gab es in der griechischen Frühzeit auch eine Sonderform der Tyrannis, die Aisymnetie – eine Art absoluter Schiedsrichterstellung, wie sie im 6. Jahrhundert v. Chr. Solon in Athen innehatte –, die ähnlich wie die Diktatur bei den Römern eine auf Zeit verliehene unumschränkte Herrschaft zur Überwindung einer Krise darstellte. Doch sie gehörte schon zu Aristoteles’ Zeiten der Vergangenheit an und wurde für die Geschichte des Begriffs kaum relevant. Im Gegensatz zum Begriff der Tyrannis, der der Sphäre des Politischen angehört und dessen Pervertierung bezeichnet, bezieht sich der Begriff des despotes auf die Sphäre des Hauses (oíkos). Der Despot ist der Herr über die Sklaven. Die Unterscheidung beider Sphären – des Haushalts und des politischen Gemeinwesens (koiné politiké) – ist für Aristoteles zentral: Das Haus ist die Sphäre der wirtschaftlichen Notwendigkeit, das Gemeinwesen die Sphäre der Freiheit (Pol. I, 1–7). Wer nun als König über die Bürger herrscht wie ein Hausherr über seine Sklaven, ist ein Tyrann. Nach Aristoteles lassen sich nur Barbaren – also Nicht-Griechen – eine solche Tyrannei freiwillig gefallen, mehr noch: Sie bedürfen ihrer sogar, weil sie wie Sklaven von Natur aus zur Freiheit nicht fähig sind. Despotische Herrschaft jenseits des Hauses ist daher etwas Barbarisches, und umgekehrt sind barbarische Völker dadurch gekennzeichnet, dass sie despotisch beherrscht werden und auch beherrscht werden müssen. Diese Identifikation der Freiheit mit dem eigenen Volk und der Despotie mit den barbarischen Anderen prägte die Begriffsgeschichte nachhaltig (Koebner 1951; Mandt 1990; Osterhammel 1998; Sonderegger 2008; Panou/Schadee 2018). ...