E-Book, Deutsch, 180 Seiten
Studer Lebenslang
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7583-5463-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erzählungen von Vätern und Söhnen
E-Book, Deutsch, 180 Seiten
ISBN: 978-3-7583-5463-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Männer zetteln Kriege an und nehmen an Friedensdemos teil, zerstören Wälder und Naturschutzgebiete und verschenken Rosen. Sie jagen dem Glück hinterher und hecheln haarscharf daran vorbei. Immer als Söhne von Vätern, oft als Väter von Söhnen. In den fünfzehn Erzählungen reiben sich Väter und Söhne aneinander, werfen einander Unverdautes und Fehler an den Kopf oder leiden am Leiden des anderen und träumen von einer besseren Zukunft. Unverständnis, Wut, Verzweiflung. Lebenslang. Väter und Söhne fühlen sich in diesen Geschichten aber auch tief verbunden und gehen füreinander durchs Feuer. Zärtlichkeit. Vertrauen. Humor. Bedingungslose Liebe. Lebenslang. Berührende, skurrile, schockierende und ernste Erzählungen, miteinander verknüpft, über verschiedene Kulturen hinweg.
Thomas Studer, geboren 1958 in Winterthur, schreibt nach Lust und Laune Textimprovisationen, Erzählungen und arbeitet an einem Roman. Er ist im Rahmen des Burgdorfer Biografischen Instituts an verschiedenen Oral History-Projekten beteiligt. Als Vater von Zwillingen beschäftigt er sich seit Jahren mit Väterthemen und ist langjähriges Mitglied des Vätertreffs in Burgdorf. «Lebenslang» ist seine erste Veröffentlichung. Thomas Studer lebt und arbeitet als freischaffender Kurs- und Projektleiter in Burgdorf. Er ist Mitglied einer Improvisationstheatergruppe und der Musikband «Wörldpool».
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Heilige Kuh
Die merkwürdige Geschichte, die unser aller Leben von Grund auf bereichern sollte, begann vor drei Jahren morgens um halb sieben beim Zähneputzen. Unser dreizehnjähriger Sohn Tim stand in seinen blauen Boxershorts und einem weißen T-Shirt neben mir und schmierte sich Colgate auf die Zahnbürste. Dabei erzählte er von einem sonderbaren Traum, den er gehabt habe. Ich war mit dem Schneiden der Fingernägel beschäftigt und hörte ihm zuerst nur mit halbem Ohr zu, wurde nach und nach aber hellhöriger. Es sei keineswegs das erste Mal gewesen, oft schon seien ihm fremde, aber irgendwie bekannte Menschen in seinen Träumen begegnet. Tim spuckte die Zahnpasta aus, drehte sich um und fixierte mich lange. «Was ist? Wie geht es weiter?» Er zögerte, hielt die Zahnbürste unter das fließende Wasser und stellte sie in das Zahnglas. «Es war Heinz.» Irritiert schaute ich ihn an. «Heinz …?» «Ja, Heinz, mein Großvater.» «Was? Was willst du damit sagen?» «Ich träumte von Heinz, deinem Vater, der genauso wie auf den Bildern in den Fotoalben aussah.» An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass Tim, mein Sohn, meinen Vater nicht gekannt hat, weil dieser vor rund zwanzig Jahren von einem Lastwagen überfahren worden ist. «Bist du dir da sicher? Kein Witz?» Er schüttelte kurz den Kopf. «Mein Vater?» Tim nickte und trommelte mit den Fingern auf den Lavaborand. «Er werde heute in der Nacht wiedergeboren. Das hat er mir mit zwinkernden Augen erzählt. Nachdem er lange im freien Zeitraum gewesen sei.» Offensichtlich schaute ich meinen Sohn äußerst kritisch an, denn er begann sich vehement zu verteidigen. «Ehrlich! Ich erzähle keinen Stuss. Die nackte Wahrheit.» «Okay», beruhigte ich ihn. «Wie sah er denn aus?» Die Antwort kam blitzschnell. «Er trug eine braune Baskenmütze, wie auf dem Foto in Lucca, erinnerst du dich?» Ich nickte. «Irgendwie schien er jünger, dynamischer, sein Gesicht voller Sommersprossen. Großartig. Manchmal zwinkerte er mir zu. Wie ein Großvater eben.» Befremdet beobachtete ich Tim, wie er vor sich hin lächelte. «Die Sache mit seiner kommenden Geburt erzählte er mir voller Freude.» Ich hatte meinem Sohn zugehört, perplex, dass er so voller Zärtlichkeit über meinen Vater sprach; er, der doch dessen Schalk nie persönlich mitbekommen hatte. Eine tiefe Melancholie überkam mich. Wieder bedauerte ich, dass meine beiden Kinder keine Gelegenheit bekommen hatten, ihren Großvater mit seinem Humor, seiner schrulligen Art, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten, kennenzulernen. Und dass ich es als Teenager verpasst hatte, auf seine Gesprächsangebote einzugehen. Erst an seinem Grab wurde mir bewusst, was ich alles verpasst und wie wenig ich ihn eigentlich gekannt hatte. Plötzlich stand er wieder lebendig vor meinem inneren Auge. Nach so langer Zeit. Wie eine flüchtige Erscheinung aus einem Spiralnebel. «Er war mir total sympa. Sein Lächeln, sein Schalk in den Augen, seine vielen Grübchen im Gesicht. Genau gleich wie auf den Fotos, aber eben: lebendig. Wie ist er eigentlich so gewesen?» Ich versuchte, Zeit zu gewinnen, versorgte die Nagelschere langsam im rosa Etui, klaubte die abgeknipsten Nagelsplitter vom Linoleum auf und warf sie in den weißen Behälter. «Vater? Tja, wie kann ich ihn beschreiben? Wir beide waren sehr verschieden. Er war durch und durch Naturwissenschafter, wollte mir bei jeder Gelegenheit seine Heizungs- und Lüftungsinstallationen erklären und hielt lange Vorträge, die ich hasste. Manchmal war er auch verspielt, humorvoll, das waren die schönsten Momente. Wenn er aber stur auf seinem Standpunkt beharrte, hätte ich ihn am liebsten auf den Mond geschossen.» «Hast du ihn gerngehabt?» Ich überlegte. «Ja, meistens. Aber damals, als ich in die Welt aufbrechen wollte, da interessierte er mich nicht besonders.» Schwerfällig ließ ich mich auf dem Badewannenrand nieder. «Wir haben uns damals verpasst. Weil ich so narzisstisch war.» Tim nickte langsam. «Und jetzt? Wenn du an ihn denkst?» «Er fehlt mir bis heute.» Tim nickte und lächelte mich an. «Als was soll er wiedergeboren werden?», wollte ich wissen. Die Frage schwebte wie ein leuchtender Regenbogen im Badezimmer, leicht zitternd, als ob sie im westlichabendländischen Wissenschaftsdiskurs ein Tabubruch wäre. Mein Sohn zögerte erneut, was sonst keineswegs seine Art war, bis er sagte: «Als heilige Kuh, in Südindien.» «Als heilige Kuh in Südindien?» Ich amüsierte mich über die gelungene Pointe meines Sohnes. Doch Tim, der sonst oft zu Späßen und Witzchen aufgelegt ist, blieb ernst. Sein Blick ruhte auf mir wie der eines abgeklärten Buddhas. «Sind die Dinge nur wahr, wenn sie sichtbar, messbar und kontrollierbar sind?» Drei Jahre später erhielt ich von einem Hilfswerk den Auftrag, in Indien ein erdbebensicheres Spital zu bauen, in der Provinz Gujarat, der Region, aus der auch Mahatma Gandhi stammte. Während eines besonders starken Erdbebens waren dort rund 20‘000 Menschen verschüttet worden. Vom Bürgermeister, dem Schulleiter und einer Delegation der Frauenorganisation wurde ich am Flughafen abgeholt und herzlich willkommen geheißen. Wir fuhren mit einem alten Range Rover in den Distrikt Kutch, in dem das Wiederaufbauprojekt unter Leitung der Frauenorganisation umgesetzt werden sollte. Überall sahen wir eingestürzte Häuser, Betonfriedhöfe oder Armierungsverstrebungen, die wie Spinnenbeine in die Luft ragten. Zerstörte Dörfer und Städte, gebrandmarkt und mit offenen Wunden von dem verheerenden Erdbeben. Die Frauen, die zur Begrüßung für mich gekocht hatten, zeigten mir die großen Fortschritte, die sie zusammen mit den lokalen Partnern erzielt hatten. Von den 2000 geplanten Häusern standen bereits 100 mit fließendem Wasser und einfachen sanitären Installationen. Beeindruckt lobte ich sie für ihre ausgezeichnete Arbeit. Als sie merkten, dass ich nach der langen Reise doch ziemlich erschöpft war, begleiteten sie mich zu einem der kleinen Neubauten und quartierten mich dort ein. Auf der dünnen Matratze fiel ich in einen tiefen traumlosen Schlaf, der über zehn Stunden dauerte. Es waren sieben magere Kühe, die vor meinem Haus standen und mich anglotzten, als ich am nächsten Morgen mit einer Teetasse in der Hand auf den überdachten Sitzplatz trat. Ich machte einen Schritt auf sie zu und begrüßte sie mit «Grüessech». Einen Moment schenkten sie mir ihre Aufmerksamkeit, dann widmeten sie sich wieder der spärlichen Wiese. Außer einer, die einfach beim Zaun stehenblieb und wohl versuchte, meinen Berner-Oberländer-Dialekt zu verstehen. Sie hatte ein grauweißes Fell, lange Faltenohren und bedrohlich gebogene, grau pigmentierte Hörner. Mit ihren schwarzen Augen beobachtete sie mich fortwährend. Ich betrachtete sie ebenfalls, doch mit der Zeit verlor ich das Interesse an ihr und drehte mich ab. Da muhte sie laut und empört, sodass ich mich ihr erneut zuwandte. Wild schüttelte sie den Kopf, stoppte abrupt und muhte nochmals kräftig. Ich musste lachen und trat näher an den Zaun heran, irgendwie zog die Kuh mich an. Da bemerkte ich ein goldenes Glimmen in ihren Augenwinkeln, als ob sich ein Schwarm Leuchtkäfer eingenistet hätte. Und ein leises Zwinkern. Mich traf beinahe der Schlag. Es war das gleiche Glimmen, das mein Vater gehabt hatte, wenn er beim Pétanque-Spiel als Tireur einen Volltreffer gelandet oder meine Mutter und uns Kinder am 1. April mit einem Scherz hereingelegt hatte. Mein königliches Markenzeichen, hatte er es genannt. Vor Schreck ließ ich meine Teetasse fallen. Die Kuh machte einen Satz rückwärts, schüttelte ihre Ohren, kam dann aber langsam wieder auf mich zu. Voller Ehrfurcht hielt ich ihr meine Hand hin, begann zutraulich auf sie einzureden und lockte sie mit der offenen Hand, bis sie ihre breite, raue Zunge über meine Handinnenseite gleiten ließ und mir die Finger abschleckte. Der Traum meines Sohnes fiel mir ein. War das möglich? Gab es so etwas wie Reinkarnation – und mein vor dreiundzwanzig Jahren verstorbener Vater stand leibhaftig vor mir, allerdings in einer anderen Gestalt? Fassungslos blieb ich vor dem Zaun stehen, eine Ewigkeit, wie mir schien, streichelte die Kuh, hielt ihr erneut meine Hand vor die Schnauze und schaute in ihre schwarzen Augen, die mir je länger, je vertrauter waren. Voller Panik, wahnsinnig geworden zu sein, riss ich mich von ihr los, sprintete über den Vorplatz ins Haus, ließ mich auf meine Matratze fallen. Stopp diesen Blödsinn sofort. Das ist völlig unmöglich. Sowas widerspricht jeglicher wissenschaftlichen Logik. In den...