Stuhlmann Zwischen den Stühlen
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7615-6180-5
Verlag: Neukirchener
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Alltagsnotizen eines Christen in Israel und Palästina
E-Book, Deutsch, 155 Seiten
ISBN: 978-3-7615-6180-5
Verlag: Neukirchener
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Islam & Islamische Studien Islam und Weltreligionen, Weltethos
- Geisteswissenschaften Christentum, Christliche Theologie Christentum/Christliche Theologie Allgemein Christentum und Weltreligionen, Weltethos
- Geisteswissenschaften Jüdische Studien Jüdische Studien Judentum und Weltreligionen, Weltethos
- Geisteswissenschaften Religionswissenschaft Religionswissenschaft Allgemein Dialog & Beziehungen zwischen Religionen
- Geisteswissenschaften Religionswissenschaft Religionswissenschaft Allgemein Religiöse Intoleranz, Verfolgung, Religionskonflikte
- Geisteswissenschaften Christentum, Christliche Theologie Christentum/Christliche Theologie Allgemein Christentum: Sachbuch, Erbauungsliteratur
Weitere Infos & Material
1. ZWISCHEN JÜDINNEN UND JUDEN
Von Juden lernen – Das Programm Nes Ammims
Sie war ein Abenteuer – die Gründung von Nes Ammim, dem christlichen Dorf im Norden Israels, im Jahr 1963. Angefangen hat es damals in den Köpfen einiger Menschen in Holland, Deutschland und der Schweiz. Der massenhafte Mord an den Jüdinnen und Juden im Zweiten Weltkrieg hatte sie erschreckt. Und sie fragten sich: Wie konnte es dazu kommen? Wo liegen die Wurzeln für die Schoah, den Holocaust? Eine Wurzel des modernen Antisemitismus und damit der Schoah ist der christliche Antijudaismus. Fast zweitausend Jahre lang erstrahlte das Christentum umso heller, je mehr es sich vom Judentum abhob, das es in schwärzesten Farben malte. Die Christen meinten, sie wüssten mehr als die Juden, sie wüssten es besser und hätten deshalb das Recht, ja die Pflicht, Juden zu belehren, zu missionieren und, wenn es gelingt, zu Christen zu machen. Im Mittelalter wurde diese Sichtweise von Christentum und Judentum symbolisch durch zwei einander gegenüber angeordnete Figuren dargestellt (siehe Bildteil). Die triumphierende Kirche als Königin mit Zepter und Krone, den Insignien der Macht, schaute herab auf die gedemütigte Synagoge als Magd mit zerbrochenem Stab und verbundenen Augen. Dieses christliche Überlegenheitsgefühl muss gründlich zerstört werden, damit es nicht noch einmal zu einer solchen Katastrophe kommen kann, sagten sich die Gründer von Nes Ammim. Eine radikale Umkehr war nötig. „Kehrt nun um von euren bösen Wegen! Warum wollt ihr sterben?“, heißt es beim Propheten Ezechiel in der Bibel. (Ezechiel 33,11) Die Gründer Nes Ammims waren davon überzeugt, dass das christliche Überlegenheitsgefühl gegenüber den Juden nicht nur korrigiert, sondern um 180 Grad gewendet werden musste. Von jetzt an hieß das Programm: „Von Juden lernen“. Mit diesem Lernprogramm ging eine radikale Absage an jede Form der Judenmission einher. Nes Ammim ist ein Lernort inmitten der jüdischen Welt. Hier sind die Juden in der Mehrheit und die Christen Minderheit und wir Gäste. Und so lebe ich dort in anderen Rhythmen, als in der christlich geprägten deutschen Gesellschaft. Der freie Tag ist der Schabbat, der am Freitagabend beginnt und bis zum Einbruch der Dunkelheit am Samstag dauert. Am Sonntagmorgen beginnt der harte Alltag einer geschäftigen Arbeitswoche, an dem die Straßen verstopft sind, weil alle aus dem Wochenende kommen. Nicht Weihnachten und Ostern bestimmen, wann Ferien sind, sondern Pessach und Sukkot. Die koschere Küche ist der Normalfall. Schweinefleisch sucht man vergeblich. Wir Christinnen und Christen in Nes Ammim lernen von Juden, um unsere eigene Religion, das Christentum, besser zu verstehen. Denn das meiste in der christlichen Religion ist Judentum: der Glaube an den einen Gott, der uns in allem zuvorkommt, der gnädig und barmherzig ist, der Gerechtigkeit will. Von den Juden haben wir die Zehn Gebote, das Liebesgebot, das Gebot der Feindesliebe. Mit den Juden warten wir auf das Kommen des Messias. Die Frage, wer der Messias ist, der Retter der Welt aus Not und Leid, ist zwischen Juden und Christen strittig. Christen warten auf den Messias Jesus, auf sein Wiederkommen, Juden auf einen Messias, der noch nicht hier war. Aber darum streiten wir heute nicht mehr. Wir warten ab – Juden und Christen. Ich bin als Christ ja auch darauf angewiesen, dass Jesus sich am Ende aller Tage tatsächlich als der erweist, als den ich an ihn glaube. Wenn ich das weiß, muss ich nicht streiten, sondern kann in souveräner Gelassenheit sagen: Soll der Messias doch selber sagen, wer er ist! Der jüdische Gelehrte Franz Rosenzweig hat noch eins drauf gesetzt und gesagt: „Wenn der Messias kommt, dann möchte ich ganz in seiner Nähe stehen, und noch bevor er irgendetwas sagen kann, möchte ich ihm ins Ohr flüstern: ‚Verrate es nicht!‘“ Auch am Ende soll nicht eine Religion über die andere triumphieren. Der einzige, der hier triumphieren soll, ist der Messias selbst – nicht die, die an ihn glauben und ihn erwarten. Die Geschichte von Nes Ammim ist seit über fünfzig Jahren ein Weg der Umkehr und Erneuerung und des Lernens der Menschen unterschiedlicher Religionen. Weihnachten in Nes Ammim
Selbst für das Verständnis dessen, was Christen zu Weihnachten feiern, können wir von Juden lernen. Zum Studienprogramm gehört auch ein Abend unter der Frage, was Christen von Juden für das Weihnachtsfest lernen können. Dabei werden manche irrigen Vorstellungen ausgeräumt. Ist Gott mit der Geburt Jesu „zur Welt gekommen“? Ja, aber er ist schon vorher in Israel zur Welt gekommen und darum auch an Weihnachten in Israel zur Welt gekommen. Ist Weihnachten die „Erfüllung“ von Gottes Verheißungen? Nein. Es ist die Bekräftigung von Gottes Verheißungen, die nach wie vor auf Erfüllung warten. Ist Gott Mensch geworden? Nein. Gottes Wort ist Fleisch geworden, der Messias ist Mensch geworden. Das meint etwas anderes1. In den Nuancen kommt das Wesentliche zum Ausdruck, was wir von Juden lernen können und hier in Nes Ammim wird deutlich, dass es wirklich wesentlich ist. Höhepunkt des Weihnachtsgottesdienstes war in diesem Jahr die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium, die abschnittweise in allen in Nes Ammim zur Zeit gesprochenen Sprachen gelesen wurde: Holländisch, Deutsch, Ungarisch, Litauisch und Italienisch. Schöne Verfremdungseffekte in einer internationalen Lebensgemeinschaft, wenn ich dabei von Maria, Guiseppe und Bambino höre! Trost und Tatkraft – Eine streitbare Israelin aus Großbritannien
„Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege.“ (Psalm 139, 3) In diesen Worten finden Menschen Trost. Auch in Situationen, in denen sie sich fragen: Warum lässt Gott dem Bösen seinen Lauf? Dass Gott das Unrecht wenigstens sieht, nährt die Hoffnung, dass er ihm irgendwann ein Ende setzen und Recht schaffen wird. Und gleichzeitig motiviert mich dieser Gedanke, dass Gott meine Wege sieht, dann auch dazu, das mir Mögliche zu tun. Vor kurzem traf ich Ruth, eine jüdische Israelin, Jahrgang 1945, in deren Lebensgeschichte ich beides entdecken konnte: die Kraft der Hoffnung, dass es am Ende gut wird, und die Tatkraft, das ihr Mögliche zu tun. Ruth ist eine unermüdliche Aktivistin, die für die Rechte der Palästinenser in Israel und den von Israel besetzten Gebieten in einem Maße eintritt, das manches europäische Engagement für Palästinenser in den Schatten stellt. Woher kommt diese Tatkraft? Ruth ist in Großbritannien aufgewachsen. Sie war die einzige Jüdin in ihrer Schule. Mit elf Jahren wurde sie von ihrer Lehrerin vor die Klasse gestellt, und sollte erklären, warum die Juden den Heiland gekreuzigt haben. Noch heute spürt sie die beiden Stellen auf ihrer Stirn, die ihre Mitschülerinnen ständig befühlten, um zu spüren, ob ihr schon Hörner wachsen. Als sie mit achtzehn in London ein Zimmer suchte, scheiterte sie lange an der Regel der Vermieter „Keine Hunde, keine Schwarzen, keine Juden“. Sie entstellte ihren Zunamen, um nicht als Jüdin erkannt zu werden, bis sie das nicht länger aushielt und zwei Jahre später nach Israel auswanderte. Das war in den fünfziger und sechziger Jahren des 20., nicht des 19. Jahrhunderts. Das war nicht in Nazi-Deutschland. Wenn Juden und Jüdinnen solche Erfahrungen in unseren Tagen schon in einem westeuropäischen Rechtsstaat machen, wie viel mehr in Staaten und Gesellschaften der ehemaligen Sowjetunion, Osteuropas oder der arabischen und muslimischen Welt. Mir wurde einmal mehr klar, warum es den Staat Israel geben muss. Nicht nur die Erfahrung der Schoah, des Holocausts, sondern auch der banale alltägliche Antisemitismus treibt Juden aus aller Welt nach Israel. Wie Ruth sind Millionen nach Palästina gekommen, um wenigstens an einem Platz dieser Erde geschützt und ungestört einfach jüdisch leben zu können. Nur hier ist Judentum Leitkultur. Nur hier kann man unkompliziert koscher essen, alle jüdischen Feiertage und den Schabbat halten. Nur hier ist die Landessprache Hebräisch. Nur hier können Jungen Kippa und Schläfenlocken tragen, ohne gehänselt zu werden. Nur hier können sie sicher sein, dass nicht über Nacht der Ritus der Beschneidung männlicher Säuglinge zum Straftatbestand der Körperverletzung erklärt wird. Angesichts der vielfachen Leidensgeschichten können die Verfolgten heute schon darin, dass sie in diesem säkularen Rechtsstaat Zuflucht gefunden haben, ein Zeichen der Treue Gottes zu seinem Volk Israel sehen. Und in der Hoffnung, dass Gott es am Ende für alle gut machen wird, setzen viele wie Ruth alles daran, dass in diesem Staat Völkerrecht und Menschenrechte eingehalten werden. Erlösung aus Feindbildern – Erfahrungen mit Haredim
An einem Samstagnachmittag eilte ich zu Fuß durch Jerusalem zum Busbahnhof. Die Sonne stand schon ziemlich tief. Ich wollte den ersten Bus nehmen, um noch nach Hause in den Norden Israels zu kommen. Der startet kurz nach Sonnenuntergang. In ganz Israel fahren am Schabbat, von Freitagabend bis Samstagabend, weder Busse noch Bahnen. Das haben vor Jahrzehnten...