E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Sutterlüty Widerstehen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-86854-416-9
Verlag: Hamburger Edition HIS
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Versuche eines richtigen Lebens im falschen
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-86854-416-9
Verlag: Hamburger Edition HIS
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Unzufriedenheit in unserer Gesellschaft wächst. Die einen verzweifeln, andere verlieren sich in Kritik, die meisten machen einfach so weiter. Nur wenige ziehen wirklich Konsequenzen aus dem, was sie als falsch erkannt haben. Diese Menschen wollen nicht tatenlos zuschauen und haben den Mut, sich den herrschenden Zuständen und Erwartungen zu widersetzen. Der Soziologe Ferdinand Sutterlüty hat mit einigen von ihnen gesprochen. Mit einem Seenotretter und einem Lehrer, mit Aktivistinnen und Bergbauern. Mit einer Reinigungskraft, die gegen demütigende Arbeitsbedingungen und für den Aufbau gewerkschaftlicher Strukturen kämpft. Mit einer Forstbeamtin, die sich in einem jahrelangen Gerichtsverfahren gegen Diskriminierung am Arbeitsplatz wehrt. Mit einem Künstler, der als Selbstversorger lebt, und einer Künstlerin, die mit Transfrauen arbeitet. Für Sutterlüty sind sie Hoffnungsträger und Pionierinnen, die zeigen, dass es auch anders geht - einmal laut, einmal leise, im Untergrund oder sehr öffentlich. Wie Figuren aus großen Romanen lassen sie niemanden unberu?hrt.
Ferdinand Sutterlüty ist Professor fu?r Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Autoren/Hrsg.
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Josef Lose
Bis kurz vor dem Interview bin ich nicht sicher, ob es stattfinden wird. Herr Lose hat lange darüber nachgedacht, ob er mit mir sprechen sollte. Während unserer Telefonate wirkt es außerdem so, als wäre er im Dauereinsatz, auch wenn seine Stimme klar und ruhig klingt. Am Tag vor dem vereinbarten Termin kommt die Nachricht, einer seiner Klienten solle morgen vor dem Landgericht Springeloh als Zeuge aussagen und bedürfe vielleicht seiner Unterstützung. Ich fahre, auf verschiedene Eventualitäten eingestellt, bei diesigem Dezemberwetter in den Montagmorgen hinein, und tatsächlich holt mich Herr Lose in einem roten Kleinwagen älterer Bauart vom Bahnhof Hüttsiedel ab. Nach einer förmlichen Begrüßung mit dem kräftigen, bärtigen Mann geht es über Land nach Linekamp. Ich frage nach dem Gerichtsfall. Er habe heute Morgen schon mit dem Staatsanwalt telefoniert, der nun über die Hintergründe informiert sei. Vor der Einfahrt nach Linekamp weist er mich auf das ehemalige Zwangsarbeiterlager hin, das in der NS-Zeit etwas versteckt flussabwärts an der Pirlens gelegen hat. Er macht noch einmal kehrt und zeigt mir am Fluss, der früher oft über seine Ufer getreten sei, die von den Zwangsarbeitern gebauten, nun etwas überwachsenen Befestigungen. Wir wenden, und Herr Lose erzählt von seinen Gesprächen mit lokalen Zeitzeugen, die ihm nach Jahrzehnten des Schweigens ihre Erinnerungen an die Zwangsarbeiter mitgeteilt haben. Auf der Straße habe man damals faule und zermanschte Kürbisse ausgelegt. Die ausgehungerten polnischen und sowjetischen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen hätten die Kürbisse von der Straße gegessen oder seien auf ihnen ausgerutscht. »Die Arbeiter und Gefangenen sollten erniedrigt und gedemütigt werden«, erläutert Herr Lose. Auf der Fahrt durch Linekamp bemerkt er an einer Stelle, dass wir uns gerade auf der Straße befänden, die nach Adolf Hitler benannt gewesen sei. Wir biegen ab in eine Vorstadtsiedlung. Das Gelände eines ehemaligen Pfarrwalds sei nach dem Zweiten Weltkrieg zur Neubebauung durch Vertriebene freigegeben worden. Damit sei die Auflage verbunden gewesen, später eine weitere Flüchtlingsfamilie im Haus einzuquartieren. Bald erfahre ich, dass Herrn Loses Eltern zu den Vertriebenen gehörten, die hier gebaut haben. »Und jetzt wohne ich wieder im Haus meiner Eltern«, sagt er, als wir dort schon fast angekommen sind. Das unauffällige, im Stil der 1950er Jahre gebaute Haus liegt etwas zurückgesetzt von der Straße; dahinter befindet sich ein Garten mit einer Rasenfläche und Grillstelle, allerlei Schuppen und Aufbauten. Drinnen setzen wir uns an den massiven Eichentisch in der Wohnküche mit Blick auf die Häuser der gegenüberliegenden Straßenseite. Als ich interessiert auf die mit zwei Manualen und zahlreichen Registern ausgestattete Orgel im Raum verweise, spielt mir Herr Lose den Anfang eines mit »Präludium und Fuge« betitelten Stücks von Johann Sebastian Bach vor, dessen Noten gerade aufgeschlagen auf dem Pult liegen. Er lässt die Partitur beeindruckend flüssig und kraftvoll klingen, bis er eine Stelle mehrmals – mit den Worten: »Wie geht das?« – wiederholen muss, ehe sie sitzt. Als ich bewundernd sage, wie »erstaunlich rhythmisch« Bachs Präludium doch sei, antwortet Herr Lose: »Aber hallo!« Er kommt zurück auf die Stelle, an der er hängengeblieben ist. Sie setze sich aus ungewöhnlichen Intervallen und Akkorden zusammen, bei denen man sich unwillkürlich frage, ob sich die Passage wieder auflösen und das Stück zur ursprünglichen Tonart zurückfinden wird. »Hier hat Bach gezeigt«, stellt Herr Lose fest, »dass mit seiner Welt etwas grundlegend nicht stimmt. Er wusste das und hat es mit seiner Musik auch mitgeteilt.« Bevor das Interview beginnt, klärt mich Herr Lose darüber auf, dass er Musikwissenschaft studiert und zuvor lange in der örtlichen Kirchengemeinde als Organist gewirkt hat. Mich würde zunächst Ihr Engagement als Seenotretter interessieren. Können Sie mir davon erzählen? Beruflich bin ich eigentlich ganz woanders unterwegs. Aber ich hatte zur Vorbereitung auf eine Atlantiküberquerung, die wir 2013 zu viert auf einem Segelschiff machen wollten, einen Kurs belegt. Es war ein von der Bundeswehr angebotenes Training für Zivilisten, das mit Notfallequipment zu tun hatte. Dort haben wir Vom-hohen-Turm-Springen, Rettungswesten-Öffnen, Rettungsinseln-Feuerbekämpfung und auch Leckbekämpfung in einem Wrack geübt. Dafür stand uns ein früheres Schiff zur Verfügung, in das Wasser eingedrungen ist. Hinter einer Plexiglasscheibe konnten die anderen zusehen, wie so eine Fünf-Personen-Gruppe agiert, die sich koordinieren und mit Holzstöpseln irgendwie versuchen muss, das Leck zu stopfen. Danach wurde mit allen Beteiligten darüber gesprochen, was sie gesehen haben. Das war für mich als Therapeut eine faszinierende Erfahrung. Die Situationen wurden nicht als Hilflosigkeit und als schambehafteter Makel erlebt, sondern es wurden Menschen vor der Plexiglasscheibe beobachtet, die nach bestem Wissen und Gewissen handelten und manche Dinge doch kolossal übersahen. Das konnten sie nachher auch benennen, vielleicht sogar darüber lachen. Wir vier, die auf dem Segelschiff den Atlantik überqueren wollten, hatten uns abgesprochen: »Wir machen alle diesen Kurs mit.« Wir wollten sichergehen, dass wir wieder nach Hause kommen. Als wir dann im Herbst 2013 auf dem Weg in die Karibik waren, sank ein Fischerboot mit vielen Hundert Menschen vor Isola Pelagia; es ist wenige Hundert Meter vor der Küste im Mittelmeer gekentert. Wir dachten: Eigentlich sind wir in der falschen Richtung unterwegs. Wir hatten von dem Unglück gelesen und wussten, dass das kein Einzelfall sein kann. Dass da nicht nur einmal ein Boot kommt, das keine EPIRB-Baken – also keine elektronischen Rettungssignalbojen – hat und auch keinen Funk. Da war mir klar: Ich muss da einmal hin! Im Training haben wir es mit den physikalischen Mechanismen und Grenzpunkten zu tun bekommen, aber dann kam eben die Frage auf: Was läuft denn eigentlich im Hintergrund ab, welche Mächte sind im Spiel, dass Menschen in Not kommen? Wenn Kriege geführt werden, werden Flüchtlingsströme vorab miteinberechnet. Kriege werden geplant, es wird Material herangeschafft, daran verdienen Menschen, Institutionen, ganze Gruppen. Und sie wissen: Es werden sich Menschen in Gang setzen, sie werden fliehen. Natürlich. Wenn dann ein Schiff sinkt, werden die Fehler der Menschen, die sich in der Situation befinden, erkannt und manchmal richtig hochgekocht, weil dabei Leute verletzt werden oder sogar sterben können. Aber ich halte es für ganz wichtig, die Verantwortung im Blick zu haben oder die Rahmenbedingungen, derentwegen es so ist. Das ist nicht die Schuld von Menschen, die da beteiligt sind. Das ist noch ein Punkt, der aus meiner Sicht wichtig ist: frei von Schuldzuweisungen aktiv zu werden. Sie sprachen von politischem Handeln, das Kriege nicht nur in Kauf nimmt, sondern auch herbeiführt, im Wissen um die Folgen in Form von Flüchtlingsströmen und Toten. Da frage ich mich, wie Sie das meinen, wenn Sie sagen, es sei wichtig, keine Schuldzuweisungen zu machen? Ich könnte natürlich auch sagen: Gut, dann kämpfe ich doch gegen die Institutionen, die Kriege vom Zaun brechen, Krisen herbeiführen und aktiv befeuern, Flüchtlingsströme generieren. Aber der nächste Schritt wäre zu erkennen, dass diejenigen, die das planen, selbst in die Rahmenbedingungen verflochten sind. Ich werde mich nicht mit denen anlegen, denn dann werden sie mich in ihr Kalkül einbeziehen. Deshalb solidarisiere ich mich mit denen, die schon unterwegs sind und die wissen sollen: Wir hören euch. Sicher könnte ich gegen diejenigen, die das in Gang setzen, vorgehen und meine gesamte Kraft dafür einsetzen, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Dann würden die im untergehenden Boot schon nicht mehr leben. Darauf beruht meine Entscheidung. Ich verstehe. Schuld – ich wünschte mir, ich würde keine Verurteilungen machen. Urteile und Schuldsprüche schleichen sich ein, aber ich würde sagen: Kann ich mir nicht leisten. Nach dem Einsatz 2016 war es besonders stark, dass ich dachte: Es gibt Verantwortliche! Da kam eine Menge Wut auf. Das würde mich natürlich interessieren. 2016. Atmet mehrfach stark aus und schweigt. War das Ihr erster Einsatz im Mittelmeer? Ja, genau. Wir hatten aber 2015 schon Trainingstreffen. Wir haben uns verschiedenen Szenarien ausgesetzt, in denen Arbeitsgruppen bestimmte Aufträge bekamen. Auf meinen ersten Einsatz 2016 hatte ich mich auch mental intensiv vorbereitet. Ich bin daher nicht unerwartet auf schlimme Dinge gestoßen. Nur konnte ich vorher nicht wissen, wie das Erleben vor Ort ist, und es ist noch viel mehr passiert als gedacht. Die Intensität 2016 war einfach dadurch enorm, dass ich mit vielen Kleinstkindern und toten Säuglingen zu tun hatte. Die haben wir geborgen. Das war nicht vorgesehen. Auf unserem Schiff, der Guard Maritime II, wurde über den Umgang mit Leichen überhaupt nie nachgedacht; auch nicht darüber, Leute an Bord zu nehmen, wie das jetzt eher üblich ist. Unsere NGO ist eine selbstverwaltete Einheit, und der selbstgewählte Auftrag der Guard Maritime war, wie der Name schon sagt, zu beobachten und zu melden. Das hat bis 2016 eigentlich immer gut geklappt: Wenn Seenotfälle gemeldet wurden, kamen Industrieschiffe, Militärschiffe, und die Leute wurden gerettet. Niemand wurde nach Libyen gebracht, überhaupt keiner ist auf eine solche Idee gekommen. Wenn ein Seenotfall gemeldet wurde, hat das...