E-Book, Deutsch, 200 Seiten
Tahir Wessen Dschihad?
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7392-6660-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 200 Seiten
ISBN: 978-3-7392-6660-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Es war die Silvesternacht zwischen den Jahren 2009 und 2010 gewesen. Draußen herrschte eine eisige Kälte, die das Quecksilber in den Thermometern bis zur -15 Grad-Marke zurückgedrängt hatte. Obwohl alle Heizungen in der Wohnung liefen, fror Sofia. Sie nahm einen Schal aus dem Schrank und wickelte ihn sich um die Schultern. Danach schaltete sie alle hellen Lampen aus und knipste ein kleines Lämpchen im Wohnzimmer an. In Gedanken verloren lief sie zum Fenster und schob den Vorhang zur Seite. Auf der Straße gab es so gut wie keinen Verkehr, deshalb drang kaum Straßenlärm zu ihr in den dritten Stock hinauf. Wie in jeder Neujahrsnacht saßen die Leute wegen der eisigen Kälte in ihren Häusern. An nahezu jedem Fenster und an der Hauptstraße leuchteten die Weihnachtslichter, die man wie immer erst im neuen Jahr entfernen würde. Hin und wieder war das Knallen einzelner Feuerwerkskörper zu hören. Vom anderen Ende der Straße drang das dumpfe Geschrei kleiner Kinder zu Sofia hinauf. Sie war jetzt allein, völlig allein, und sie fühlte sich sehr einsam. Sie hatte zu nichts mehr Lust. Ihr Herz war schwer, und in ihrem Kopf hämmerte es. Alles war so schnell geschehen, dass sie nichts begreifen konnte. Plötzlich ertönte ein langes, stürmisches Schellen an der Tür. Wer kann das so spät noch sein?, fragte sie sich. Sie erwartete niemanden. Talib war tot, und ihre Eltern befanden sich in einer anderen Stadt. Während sie überlegte, ob sie die Tür öffnen sollte, klingelte es erneut, und zwar so ungestüm, dass es schien, die Person würde augenblicklich die Tür eintreten, falls man sie nicht hineinließe. Voller Unbehagen lief sie zum Fenster und schaute hinaus, konnte jedoch niemanden erkennen. Schließlich ging sie zur Sprechanlage und nahm den Hörer ab. „Wer ist da?“, fragte sie vorsichtig. „Polizei“, wurde ihr von unten geantwortet. „Großer Gott!“, entfuhr es ihr. Sie drückte auf den Knopf. Als sich die Tür öffnete, hörte sie Schritte auf der Treppe, und je lauter sie wurden, desto stärker schlug ihr Herz. Sie öffnete die Wohnungstür und stand wie versteinert da, als zwei Polizistinnen und ein Polizist in ihren grünen Uniformen die Treppe hinaufgeeilt kamen. Sie trat einen Schritt zurück, damit sie eintreten konnten. „Sind sie Frau Sofia Talib?“ „Ja.“ „Wir müssen Sie auffordern, mit uns mitzukommen“, sagte eine der Polizistinnen, während sie ihr einen Haftbefehl zeigte. „Wir haben einige Fragen an Sie in Bezug auf den Tod Ihres Mannes.“ Vor einigen Tagen hatten einige Polizisten sie in ihrer Wohnung aufgesucht, um sie von Talibs Tod zu unterrichten. Nachdem sie ihr mehrere Fragen gestellt und ihr Beileid bekundet hatten, verließen sie sie wieder. Doch diesmal wurde sie aufgefordert mitzukommen und plötzlich ließ sie ein Gedanke zusammenzucken: Hatten sie Verdacht geschöpft? Doch wie hätte das sein können? Außer ihr wusste niemand Bescheid. „Darf ich meinen Vater anrufen?“, fragte sie zögerlich. „Ja, aber Sie müssen auf Deutsch reden.“ Sie begann, die Nummer ihres Vaters, die sie seit Jahren auswendig kannte, zu wählen, konnte sich aber plötzlich nicht mehr an sie erinnern. Als ob sie jemand aus ihrem Gedächtnis gelöscht hätte. Nach mehreren erfolglosen Versuchen fiel ihr wieder ein, dass sie in ihrem Telefon gespeichert war. Also drückte sie mit zitternden Händen die Wahltaste. Es klingelte, doch niemand nahm ab. Als der Anrufbeantworter anging, sprach sie ohne zu überlegen los: „Papa, die Polizei ist hier, um mich mitzunehmen. Wegen Talibs Tod. Sie wollen, dass ich sofort mit ihnen gehe!“ Nachdem sie ihre aus zusammenhangslosen Sätzen bestehende Nachricht hinterlassen hatte, legte sie den Hörer auf und schaute die Polizisten mit fragendem Gesicht an. „Beeilen Sie sich bitte“, drängte eine der Polizistinnen. Zwar gelang es Sofia kaum, irgendeinen klaren Gedanken zu fassen, doch war sie immer noch in der Lage, sich vorzustellen, welchen Eindruck die Anwesenheit der Polizei bei ihren Nachbarn hinterlassen würde. Sicherlich würden sie die Gründe ihrer Festnahme wissen wollen und sie womöglich für eine Kriminelle halten. Sie warf einen kurzen Blick auf die Uhr an der Wand und spürte eine gewisse Erleichterung, als sie sah, dass noch einige Minuten bis Mitternacht verblieben. Sie zog eilig Schuhe und Jacke an, schaltete alle Lichter in der Wohnung aus, steckte die Hausschlüssel in ihre Handtasche und signalisierte den Polizisten, dass sie bereit war zu gehen. Ein Glück, dass sie mir keine Handschellen angelegt haben, dachte sie und setzte sich in den Polizeiwagen. Die beiden Polizistinnen platzierten sich rechts und links neben sie, und der Polizist, der auf dem Fahrersitz Platz genommen hatte, startete das Auto. Nach einigen Minuten Fahrt vernahm Sofia durch die geschlossenen Fensterscheiben das kaum hörbare Läuten einer Kirche. Was spielt das noch für eine Rolle, ob ich die Glocken laut und deutlich höre oder nicht. Die Erde hat ein weiteres Mal ihre Bahn um die Sonne vollendet. Es ist nun Mitternacht. Das neue Jahr ist angebrochen, und wer weiß, welche Schwierigkeiten es noch für mich bereithält, überlegte sie. Die Polizisten begannen, sich gegenseitig zum neuen Jahr zu gratulieren. Als sie auch Sofia ihre Glückwünsche aussprachen, antwortete sie nicht und beobachtete stattdessen das Lichterspiel, das sich draußen bot. Sie wunderte sich über das absurde Verhalten, sie einerseits verhaftet zu haben und ihr andererseits zu gratulieren. Auch war sie sich nicht mehr sicher, ob man sie zum neuen Jahr oder zu ihrer Verhaftung beglückwünschte. Das Auto kam nur noch langsam voran, da die Menschen ihre Feuerwerkskörper auf der Straße zündeten. Sofia erinnerte sich an eine Silvesternacht aus ihrer Kindheit. Sie war mit ihrem Vater zum großen Feuerwerk ins Stadtzentrum gefahren. Auch an diesem Tag zündeten die Menschen ihre Feuerwerkskörper auf der Straße und ließen die Autos nicht durch. Die Heimfahrt, die eigentlich nur zehn Minuten dauerte, hatte sich so in eine halbstündige verwandelt. Zu Hause angekommen dankte sie Gott und schwor sich, nie wieder während einer Silvesternacht in einem Auto unterwegs zu sein. Und nun, viele Jahre später, zwang man sie, während einer solchen in einem Polizeiwagen zu sitzen. „Frau Talib, steigen Sie bitte aus.“ Sofia schrak auf. Sie hatte nicht gemerkt, dass sie gehalten hatten und sich nun auf dem Parkplatz der Polizeistation befanden. Während sie der Polizistin, die links von ihr gesessen hatte, aus dem Auto folgte, versuchte sie, sich die Route, die sie gefahren waren, ins Gedächtnis zu rufen, konnte sich jedoch nicht mehr erinnern. Mit klappernden Zähnen und den Händen in der Jackentasche folgte sie den Polizisten eilig aus der Kälte ins Gebäude. Sie wurde in einen Raum geführt, in dem hinter einem großen Schreibtisch ein Polizist saß, der sie schon zu erwarten schien. Man nahm ihr die Handtasche und ihre Armbanduhr ab, und der Polizist forderte sie auf, sich auf einen Stuhl zu setzen. Dann nahm er ihre Daten auf und erklärte ihr ihre Rechte. Wenn sie wolle, könne sie sofort ihre Aussage im Polizeirevier machen, ansonsten würde man sie vor einen Haftrichter führen, der dann entscheiden würde, ob sie in Untersuchungshaft käme oder nicht. Doch Sofia reagierte nicht, als ob sie den Polizisten nicht gehört hatte. Der fragte nach: „Wissen Sie, warum Sie hier sind?“ „Nein.“ „Nach unseren Informationen war Ihr verstorbener Ehemann in terroristische Aktivitäten verwickelt. Sie werden verdächtigt, ihm Beihilfe bei seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland geleistet zu haben. Wissen Sie, wie er ums Leben gekommen ist?“ Sofia schwieg. „Frau Talib, wissen Sie, wie Ihr Ehemann starb?“, wiederholte er seine Frage. Doch Sofia antwortete nicht. Also stellte der Polizist weitere Fragen, wo sie Talib kennengelernt hatte, unter welchen Umständen sie geheiratet hatten, wo die Trauung stattgefunden hatte, was sie über seine Familie und seine Freunde wusste und wie viel ihr über seine Aktivitäten bekannt gewesen war. Doch Sofias Lippen blieben wie versiegelt. Regungslos und mit einer Miene, die weder Schmerz noch Frucht erkennen ließ, saß sie auf ihrem Platz. „Frau Talib, verstehen Sie mich? Hören Sie mir überhaupt zu?“, verlor der Polizist langsam die Geduld. „Mhhh“, antwortete Sofia knapp. „Es wäre von Vorteil für Sie, wenn Sie mit uns zusammenarbeiten würden. Angesichts der Schwere ihres Verbrechens …“ „Welches Verbrechen denn?“ „Ihrer Beteiligung an den terroristischen Aktivitäten des Herrn Talib.“ Etwa eine halbe Stunde lang stellte der Polizist auf die verschiedensten Arten die gleichen Fragen, doch es schien, dass Sofia das Sprechen...